Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1968


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 19. - 24. Februar 1968

Eine Madonna malen
Das Ende der Kirche
Die bedrohliche und die durchbohrte Hand
Sich das Sparen sparen
Eine Kirche ohne Dach
Der wahre Pharisäer

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Eine Madonna malen

Die vielen, alten Ikonen der Ostkirche sind vornehmlich von Mönchen gemalt. Das hängt damit zusammen, dass das Malen von Andachtsbildern nicht irgendeine Tätigkeit, sondern ein ausgesprochen religiöser Dienst war. Der herrschenden Auffassung nach konnte dieser Dienst am ehesten von einem Menschen wahrgenommen werden, der im Kloster lebte. Bevor der Mönch sich an die künstlerische Arbeit machte, bereitete er sich eigens durch Fasten und Gebet darauf vor.

Diese Haltung spiegelt sich noch wieder in dem "Brief eine Malers an seinen Sohn" des Dichters Heinrich von Kleist. Der Vater antwortet dem Sohn, der sich beim Malen einer Madonna von unreinen Gefühlen geplagt sieht und daher, bevor er zum Pinsel greift, jedes Mal zum Abendmahl gehen möchte. Der Vater indes hält die Skrupel für unangebracht. Er empfiehlt seinem Sohn, sich einfachhin der Lust und Freude, seine Einbildungen auf die Leinwand zu bringen, zu überlassen. Wörtlich heißt es in dem Brief: "Die Welt ist eine wunderliche Einrichtung; und die göttlichsten Wirkungen, mein lieber Sohn, gehen aus den niedrigsten und unscheinbarsten Ursachen hervor!"

Es stehen sich hier also zwei Auffassungen gegenüber: Bei der Ikonenmalerei sollen gerade die Übungen der Enthaltsamkeit und des Gebetes den tiefen Gehalt eines Bildes garantieren. Im zweiten Fall werden die Hemmungen hinsichtlich der eigenen Würdigkeit als Belastung für das künstlerische Wirken hingestellt. Irgendwie empfinden wir, daß die Frömmigkeit hier in Mißkredit gebracht wird, auch die Frömmigkeit, wie wir sie kennen. Dabei gibt sich der Vater keineswegs ungläubig, geht es ihm doch um die göttlichen Wirkungen in der Welt. Sie sieht er gefährdet durch eine Frömmigkeit, wie sie sein Sohn pflegt.

Sollte Frömmigkeit tatsächlich ein Hindernis darstellen können, sodaß die göttlichen Wirkungen - um bei diesem Ausdruck zu bleiben - nicht eintreten? Die Frage ist nicht auf die Kunst beschränkt, sie betrifft alle Lebensbereiche.

Verhältnismäßig einfach liegt der Fall bei einem Menschen, der übermäßig viel Zeit auf Gebet und Gottesdienst verwendet, dafür aber wichtige Pflichten seines Berufes oder Standes unerfüllt läßt. Schwieriger ist es schon bei Naturen, die religiös veranlagt sind und durch Gebete zu ersetzen suchen, was ihnen an Fähigkeiten für eine gestellte Aufgabe abgeht. Hier wie in anderen Fällen besteht die Gefahr, daß die Welt durch eine fromme Brille gesehen wird, die die Wirklichkeit verändert und zu falschen Schlüssen führt. Damit sind die göttlichen Wirkungen blockiert, denn nach einem alten Grundsatz baut die Gnade auf der Natur auf. Echte Frömmigkeit ist auf Realität ausgerichtet. Bei dem jungen Maler wäre es darum gegangen, sich und seine natürliche Begabung erst einmal voll anzunehmen, wie der Vater es ihm rät. "Die göttlichsten Wirkungen gehen aus den niedrigsten und unscheinbarsten Ursachen hervor!" Das ist ein Satz, hinter dem echte Frömmigkeit steckt, auch wenn er im üblichen Sinn nicht "fromm" wirkt.

Frömmigkeit ist Respekt vor Gott. Sie zeigt sich vornehmlich in der Achtung der Gesetze, die in diese Welt gelegt sind. Daher lebt vermutlich manch ein Frommer unter uns, den wir nach üblichen Maßstäben wohl nicht als solchen bezeichnen würden.


Das Ende der Kirche

Bei dem Wort "Anarchie" erschrecken wir, verbindet sich doch damit die Vorstellung von Chaos, Attentaten, Gesetz- und Rechtlosigkeit. Wir fürchten nichts mehr, als daß es bei uns einmal zur Anarchie kommen könnte. Zu leicht wird aber vergessen, daß bei den geistigen Verfechtern der Anarchie eine großartige und optimistische Idee in's Spiel gebracht wird. Demnach meint Anarchie einen Zustand, in dem jede Art von Regierung und Ordnungsmacht überflüssig geworden ist, weil die Menschen zu einer neuen Gesellschaftsform gefunden haben, die ohne diese Einrichtungen auskommt.

Wir kennen zur Genüge Gesellschaftslehren, die sich diesem Ideal verschrieben haben, in die Praxis umgesetzt aber das Gegenteil offenbaren. Wann erleben wir es schon, daß Macht sich selbst beschränkt, oder Institutionen oder Ämter sich selbst in Frage stellen? Jeder, der solches zu berichten wüßte, käme uns als ein Münchhausen vor, so ähnlich wie der "Lügner" in einer kleinen Geschichte von Holthaus:

Bei einem Wettbewerb wird die größte Lüge gesucht. Einer der Teilnehmer weiß von einem Land zu berichten, in dem eine Dienststelle eingerichtet wird, die den Auftrag hat, alle vorhandenen Erbsen zu zählen. Nach kurzer Zeit beschäftigt besagtes Amt 30 Beamte, die zählen, katalogisieren und verwalten. Unausweichlich kommt aber der Tag, an dem alle Erbsen gezählt sind. Da erklärt der Dienststellenleiter: "Wir lösen die Dienststelle auf", und alle Mitarbeiter erklären ihrerseits: "Wir lösen die Dienststelle auf!" Diesem Lügenbericht fällt der erste Preis des Wettbewerbs zu. Denn eine Dienststelle, die sich selbst auflöst, - das ist die größte Lüge.

Dabei steckt in allen Ämtern und Organisationen der Keim des Zerfalls. Mit der Zeit sind sie alle überholt, mögen sie sich auch noch so sehr aufgebläht haben; sie werden ersetzt durch andere Ämter und Einrichtungen. Der Grund liegt darin, daß die ihnen gestellte Aufgabe entweder gelöst ist, oder aber in der bisherigen Art und Weise nicht mehr erledigt werden kann.

Nur die Kirche scheint davon ausgenommen zu sein, wenn wir an die Verheißung denken, "...und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen". Die Zeit, keine Zeit kann ihr etwas anhaben, so wir dieser Satz aus der Bibel verstanden. Dennoch hat die Kirche ein begrenztes Ziel. Dieses Ziel ist erreicht am Ende der Zeiten. Dann bedarf es keines Papstes und keines Bischofs mehr. Spendung der Sakramente, Lehramt und Kirchenzucht werden überflüssig. Anders ausgedrückt: Die Kirche ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Ist der Zweck erreicht, bedarf es des Mittels nicht mehr.

Niemand kann daraus die Forderung ableiten, dann möge sich die Kirche doch gefälligst bald auflösen. Ohnehin hat für viele ihr letztes Stündchen längst geschlagen. Es geht auch nicht darum, den Papst zum Rücktritt aufzufordern.

Gefordert werden kann aber von der Kirche, daß sie bewußter danach lebt, nicht für sich selbst, sondern für die Welt dazusein. Ein derartiges Bewußtsein würde nämlich außerordentlich bescheiden machen. Diese Bescheidenheit würde sich auch in den Strukturen auswirken. Sie trügen nicht mehr den Anschein der Ewigkeit an sich, sondern verdeutlichten, daß irgendwann ein Tag kommt, an dem die Kirche ihre Aufgabe erfüllt hat.


Die bedrohliche und die durchbohrte Hand

Nichts anderes als Blumentöpfe möchte ein Töpfer in einem tschechoslowakischen Film herstellen. Er wird aber in seinem Vorhaben immer wieder von einer übergroßen Hand, die in sein Atelier eindringt, behindert. Die Hand will ihn dazu bringen, eine weitere Hand zu modellieren. Es hilft dem Töpfer wenig, sich gegen dieses Ansinnen zu wehren. Auch wenn er die Hand für einen Augenblick vertreibt, kommt sie wieder, entweder aus dem Telefon oder aus dem Fernsehgerät. Die Hand schmeichelt und droht; zuletzt kommen aus ihren Fingern Schlingen heraus, die den Künstler einfangen und in einen Käfig sperren. Es gelingt ihm aber, sich mit Hilfe der Hand, die er aus einem Stein herausgemeißelt hat, zu befreien. Er versucht weiterhin, der anderen Hand jeden Zugang zu versperren. Kaum vermeint er damit Erfolg gehabt zu haben, hört er sie im Schrank rumoren. Während er diesen vernagelt, fällt ihm einer seiner Blumentöpfe, die auf dem Schrank stehen, auf den Kopf und erschlägt ihn. Die Hand - sie sorgt für ein ehrenvolles Begräbnis!

Ohne Zweifel will der Film symbolisch verstanden werden. Die Herstellung von Blumentöpfen steht für den Wunsch, ein individuelles und privates Leben führen zu dürfen. Die Hand ist der Zugriff von außen, der Zugriff einer totalitären Macht etwa. Sie will den Menschen dahin bringen, sich ihr ganz unterzuordnen. Die Hand, die verlangt eine andere Hand zu schaffen, verlangt damit innere und äußere Anpassung an ihre Herrschaftsform. Nirgends kann sich der Mensch dem unerbittlichen Einfluß entziehen. Die ist immer und überall da, sie ist gleichsam allgegenwärtig.

Damit nimmt die Hand, die als das Zeichen menschlicher Übermacht zu sehen ist, unversehens göttliche Züge an. Auch die Ängste die sie verursacht, ähneln der Angst bei Menschen, die sich der Hand Gottes ausgesetzt wähnen. Denn "es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen" (Hebr 10,31). Die damit verbundene Ohnmacht des Menschen ist im Psalm 138 beschrieben: "Deine Hand hast du auf mich gelegt... Wohin könnte ich gehen, von deinem Geiste fort? Wohin fliehen vor deinem Angesicht? Steig ich zum Himmel hinauf, so bist du dort; bette ich mich in die Unterwelt: siehe, auch da bist du. Nehm' ich die Flügel der Morgenröte, laß ich mich nieder am Ende des Meeres, wird auch dort deine Hand mich führen, deine Reche mich halten."

Wenn auch in den letzten Worten des Psalms Vertrauen anklingt, so bleibt die Unruhe über die allgegenwärtige Hand Gottes. Bei Menschen, denen Gott allzusehr als Herrscher gepredigt wurde, wächst diese Unruhe zur Angst an. Der Umschlag von der Angst vor Gott zu seiner Ablehnung ist fast zwangsläufig.

Auf der Documenta IV, der bekannten Ausstellung moderner Kunst in Kassel, trägt ein Werk den Titel "Hände mit durchbohrter Handwurzel". Vielen Betrachtern wird sich sofort die Erinnerung an die durchbohrten Hände Christi aufdrängen, ohne daß es in der Absicht des Künstlers gelegen haben muß. Durchbohrte Hände indes wecken keine Angst in uns. Sie unterscheiden sich grundlegend von allen anderen Händen, die nach uns fassen. Gott aber, so glauben wird, greift mit den durchbohrten Händen Christi nach uns.


Sich das Sparen sparen

Zu den erzieherischen Pflichten eines Lehrers gehört es heute, die Kinder auf den Wert des Sparens hinzuweisen. Dazu gibt es das Schulsparbuch, den Weltspartag, weiterhin die Aufrufe von Politikern und Männern der Wirtschaft. Sparen wird als eine große Tugend hingestellt. Die Gründe dafür sind so einsichtig, daß es sehr verwundern muß, wenn der französische Dichter und Publizist Charles Peguy sich geradezu leidenschaftlich gegen das Sparen wendet. Man solle den Kindern in der Schule lieber das Evangelium als ein Sparbuch in die Hand geben.

Die Ablehnung des Sparens begründet Peguy etwa folgendermaßen: Wer spart, plagt sich bereits heute für etwas, was erst morgen auf ihn zukommt. Nach der Schrift hat aber jeder Tag seine eigene Plage, mit der es fertig zu werden gilt. „Wenn jedem Tag seine Plage genügt", so schreibt er, „warum dann heute die Plage von morgen auf sich nehmen, warum dann heute die Arbeit von morgen, warum heute die Mühsal von morgen auf sich nehmen."

Ein Sparer hält sich demnach an den Leitspruch: „Verschiebe nie auf morgen, was du heute kannst besorgen." Genau das aber hält der Dichter für verkehrt und so gibt er eine andere Devise aus: „Verschiebe niemals auf heute, was du morgen tun kannst." Müssen wir Peguy nicht den Vorwurf machen, er rede den Faulenzern das Wort, für die der Spruch zutrifft: „Morgen, morgen nur nicht heute, sagen alle faulen Leute"? Der Gleichklang der beiden Sätze ist aber nur oberflächlich. Der Unterschied zwischen dem Faulenzer und dem von Peguy geforderten Menschen liegt darin, daß der Faulenzer weder sein `Heute´ noch sein `Morgen´ ernst nimmt, während Peguy will, daß der Mensch sein `Heute´ ganz ernst nimmt, und zwar so ernst, daß er auch im Gegensatz zum Sparer das `Morgen´ nicht über das `Heute´ stellt.

Das Vaterunser enthält die Bitte um Brot: „Unser tägliches Brot, d.h. das Brot, das für den Tag reicht, gib uns heute." In dieser Bitte schlägt sich noch die Erfahrung des Volkes Israel nieder, das auf dem Zug durch die Wüste wunderbarerweise durch das Manna ernährt wurde. Moses sagt dem Volk: „Das ist das Brot, das euch der Herr zu essen gibt. Jeder von euch sammle nach seinem Bedarf!"

Dann heißt es weiter: „Niemand soll etwas davon bis zum Morgen aufsparen." Aber die Israeliten nehmen diese Warnung nicht ernst, einige versuchten etwas bis zum nächsten Morgen aufzuheben. Doch es nutzte ihnen nichts, das, was sie aufbewahrten, ist am nächsten Morgen ungenießbar. Sinn dieser Lektion, die dem jüdischen Volk damit erteilt wurde, war es, das unbedingte Vertrauen auf die Vorsorge Gottes zu unterstreichen. Die kleinkrämerische Vorsorge war ein Versagen gegenüber Gott.

Auf diesem Hintergrund nehmen sich die Streitreden Charles Peguy`s gegen das Sparen nicht mehr ganz so neuartig aus. Nun wird niemand im ernst folgern, wir müßten unser Wirtschaftssystem umstellen, und es wäre christlich, das Sparen überhaupt aufzugeben. Aber das „Sparen, sparen.", um jeden Preis, kann man nicht mehr als besonders tugendhaft ausgeben: denn es schafft die Gefahr, daß ein Mensch aus falscher Sorge für das `Morgen´ das `Heute´ , das ein `Heute Gottes´ ist, verpaßt.


Eine Kirche ohne Dach

Daß ein Architekt bei der Planung eines Hauses den Schornstein vergisst, soll hin und wieder vorkommen, daß aber ein Baumeister eine Kirche ohne Dach konstruiert, dürfte einmalig sein. Es gibt diese Kirche; sie ist 33 Meter breit und 70 Meter lang und steht in Amerika. Als weitere Besonderheit fehlt der Kirche eine Bestuhlung. Statt des Kirchengestühles befinden sich im Kirchenschiff Buschwerk und Bäume. Fragen wir nach dem Grund für diese ungewöhnliche Kirchenanlage, so erfahren wir von der französischen Schriftstellerin George Sand, deren Idee diese dachlose Kirche ist: „Nur ein Dach, der Himmel ist weit genug, um die ganze Menschheit im Gottesdienst zu umfassen."

Da der Blick in dieser Kirche immer wieder unwillkürlich zum Himmel gelenkt wird, dürfte es nicht schwer halten, sich diesen Gedanken zu öffnen. Bei dem Entwurf der Kirche hat also nicht die krankhafte Sucht nach Niedagewesenem Pate gestanden, sondern eine große Idee. Mit ihr soll das Allumfassende des Gottesdienstes, der keine Rasse, Kultur oder Epoche ausschließt, sinnenfällig werden. Sonderlich brauchbar im strengen Sinn wird diese Kirche schon aus klimatischen Gründen nicht sein. Aber das darf einmal außer Acht gelassen werden.

In den vergangenen Jahren sind im Gegensatz zu früher sehr viele Kirchen gebaut worden; dabei wurde manch interessante Idee verwirklicht. Aber vielleicht harrt noch eine Idee der Verwirklichung, die selbst jene der dachlosen Kirche übertrifft: die Idee nämlich, keine Kirchen mehr zu bauen und das nicht deswegen, weil keine Räume für den Gottesdienst benötigt würden, sondern weil die üblichen Kirchenbauten, die hochmodernen miteinbegriffen, den künftigen Gottesdienst um vieles mehr behindern als fördern könnten.

Was hier gemeint ist, zeigte sich anlässlich eines evangelisch/katholischen Jugendgottesdienstes, der nach Form und Inhalt ausgesprochen unkonventionell war. Er fand in dem schlichten Raum einer evangelischen Kirche statt. Bei den heftigen Diskussionen, die diese Veranstaltung auslöste, sprach man auf katholischer und evangelischer Seite davon, daß der Gottesdienst für eine Kirche unangemessen gewesen sei, falls man überhaupt noch von einem Gottesdienst reden wolle. Danach ergeben sich durch einen Kirchenraum bestimmte Forderungen und Gesetze, die den Rahmen abstecken für das, was in ihm statthaft ist.

In langen Jahrhunderten hat sich herausgebildet, daß der Raum der Kirche ein besonderes Gepräge haben muß, wodurch er sich von allen anderen Räumen unterscheidet. So kann es kommen, daß ein Kirchenraum maßgeblichen Einfluss gewinnt auf die in ihm gehaltenen Gottesdienste. Wird dieser Einfluss zu einem Zwang, dann werden Gottesdienste, die diesem Zwang nicht folgen wollen, andere Räume suchen müssen. Der angemessenste Raum für den besagten Jugendgottesdienst wäre irgendein Saal gewesen. Das mag vorläufig nur eine Ausnahme sein, könnte für die Zukunft aber selbstverständlich werden, zumal der Drang nach einem weltzugewandten Gottesdienst sehr groß ist.

Keine Kirche mehr zu bauen, ist die Absicht eines jungen Pfarrers, der ein neues Gemeindezentrum errichten möchte. Er denkt an einen Versammlungsraum, der nicht nur dem Gottesdienst vorbehalten sein sollte. Hoffentlich haben alle zuständigen Stellen und seine Gemeinde Verständnis für diesen Plan.


Der wahre Pharisäer

In unserer Sprache bedeutet das Wort „Pharisäer" soviel wie Heuchler. Es ist geradezu ein Schimpfwort, das wir ziemlich ungeniert verwenden. Das Recht dazu leiten wir aus dem Neuen Testament ab, in dem scharfe Angriffe gegen Pharisäer enthalten sind.

Mit den unbedachten Verwendung des Wortes „Pharisäer" ist es spätestens in dem Augenblick vorbei, wo wir die herbe Kritik eines Landesrabbiners zur Kenntnis nehmen, die dieser an dem Artikel eines prominenten christlichen Bibelwissenschaftlers übt. Der Artikel „Die Pharisäer sind unter uns" stimmt den jüdischen Gelehrten traurig, weil „die Pharisäer und der Pharisäismus wie eh und je karikiert" werden. Er findet es bedauerlich, wie selbst Theologen achtlos an neuen Erkenntnissen über die Pharisäer vorbeigehen.

Ohne Frage müsste im Zeichen der jüdisch-christlichen Verständigung alles vermieden werden, was auch nur entfernt nach Antisemitismus aussieht, und das Klima zwischen Juden und Christen belastet.

Was machen wir aber mit den einschlägigen Stellen im Neuen Testament? Wir könnten sie einfach streichen oder durch die Auslegung entschärfen. Diese Möglichkeiten nennen, heißt sie im Grunde auch zurückweisen; denn damit würden wir die Schrift unzulässig manipulieren. Vorderhand scheint uns keine andere Wahl zu bleiben, als um der Bibel willen das Befremden der jüdischen Seite in Kauf zu nehmen. Der Geist der Toleranz wird uns jedoch keine Ruhe lassen, ehe wir auch dieses Problem gelöst haben.

Der Landesrabbiner besteht in seiner Kritik darauf, die Pharisäer verdienten ihrem Ursprung und ihrer Absicht nach eine bessere Beurteilung. Das über sie gemeinhin entworfene Bild sei einseitig und verzerrt. Die Korrektur dieses Bildes würde auch zur Befriedung unter den Religionen beitragen.

Tatsächlich waren die Pharisäer von Hause aus ausgesprochen fromme Menschen. Sie versuchten als strenggläubige Juden ihr gesamtes Leben dem Willen Gottes unterzuordnen. Dabei waren sie in ihrer Art zu denken und zu leben weniger radikal als manche andere religiöse Gruppe, die es bei den Juden gab. Ihre Frömmigkeit war von großer Tiefe. Der geistigen Kraft dieser Pharisäer verdankt das Judentum die Rettung aus zwei seiner schwersten Katastrophen. Ihnen ist es auch gelungen, die jüdische Religion inmitten einer feindlichen Umwelt bis auf den heutigen Tag zu erhalten. Ein Beispiel der unerbittlichen Gesetzestreue dürfte die Ablehnung des Fernsehens sein. Einer Pressenotiz war zu entnehmen, daß der orthodoxe religiöse Gerichtshof in Jerusalem die Juden aufgefordert hat, sich keine Fernsehsendungen anzuschauen, weil sie einen zerstörenden Einfluß auf das Familienleben hätten. Der Verkauf von Fernsehgeräten ging daraufhin erheblich zurück.

Weiterhin muss man wissen, dass in den pharisäischen Schriften selbst Kritik geübt wird am Pharisäismus, und daß das, was Jesus an den Pharisäern getadelt hat, sich schon vor Jesus in der jüdischen Literatur findet. Schließlich sind Veräußerlichung, Selbstgerechtigkeit und Heuchelei nicht auf eine einzelne Religion oder Gruppe beschränkt, wir kennen sie ebenso aus dem Christentum. Wenn das Neue Testament die Fehlhaltungen der Pharisäer anprangert, dann prangert es für alle Zeiten auch unsere Fehlhaltungen an. Denn die falschen Frommen sind unter uns; und unter Umständen gehören auch wir dazu.