Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1966


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 18. - 23. Juli 1966

Wenn ich Du wäre
Kein privates Tun
Vielleicht ist es aber wahr
Konzentration und Sammlung
Nichts Neues unter der Sonne
Zuhörer sein

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Wenn ich Du wäre

Niemand kann aus seiner Haut heraus, selbst der nicht, der, wie man sagt, aus der Haut fahren möchte. Ja, gerade der Ausbruchsversuch zeigt, wie schwer die Grenzen der eigenen Veranlagung zu überwinden sind. Dennoch gibt es immer wieder den Wunsch ein anderer zu sein. Böte uns jemand das Mittel, uns in den Menschen zu verwandeln, den wir wir wegen seines glücklichen Temperamentes oder seiner aller Mühsal enthobenen Position bewundern, wer würde nicht davon Gebrauch machen?

Julien Green verfolgt diesen kuriosen Einfall in seinem Roman "Wenn ich du wäre". Ein geheimnisvoller Spruch, dem ausgesuchten Menschen ins Ohr geflüstert, erlaubt es einem sich als sehr mittelmäßig empfindenden jungen Mann der Enge seines Lebens zu entgehen, indem er sich in den Betreffenden verwandelt. Das erste Opfer - wenn ich so sagen darf - ist sein Chef, den er wegen seines Einflusses und nicht zuletzt wegen seiner sorgenfreien Existenz beneidet. Die erste beglückende Feststellung nach seiner Verwandlung ist dann, daß er ein ganzes Bündel knisternder Geldscheine in seinem neuen Rock vorfindet. Allerdings hat er auch den dicken Bauch geerbt, die Kreuzschmerzen; es überfällt ihn die Angst vor Krankheit und einem allzu nahen Tod. Bei diesen ernüchternden Erfahrungen, die ihm bei einer Tasse Kaffee kommen, betritt das Restaurant, in dem er sitzt, ein kräftiger Bursche, dessen Auftreten eine imponierende Selbstsicherheit verrät. Nun muß dieser für den neuerlichen Persönlichkeitswechsel herhalten. Nur will es das Unglück, daß er - und dies geht ihm erst sehr spät auf - an einen grenzenlos dummen Menschen geraten ist, und die Gefahr besteht seine Formel zu vergessen. Nach weiteren enttäuschenden Versuchen, den idealen Menschen zu finden, steigt in unserem Mann der brennende Wunsch auf: "Ich will wieder ich selbst sein!"

Man möchte allen, die mit sich unzufrieden sind, eine solche heilsame Wechselkur anraten, wobei ich mir bewußt bin, daß man auch auf weniger umständliche Weise zu einer ähnlichen Erfahrung gelangen könnte. Für wichtig genug halte ich es indes, daß man sie macht, nicht um resignierend festzustellen, es komme doch niemand aus seiner Haut heraus, sondern um sich einer Tatsache zu erschließen, die den Wunsch ein anderer zu sein, grundlegend erfüllt.

Von dieser Möglichkeit ist der Apostel Paulus überzeugt, der selbst im Übermaß das Ungenügen an sich selbst und an andern erlebt hat. Er ist sich bewußt, daß es nicht mit einer Veränderung des Charakters oder der Umweltbedingungen getan ist. Für ihn bedarf es in der Tiefe der Persönlichkeit eines neuen Zentrums, aus dem heraus der Mensch denkt und handelt. Dabei bietet er uns nicht eine Theorie, die ihm nach angestrengtem Denken aufgegangen wäre, sondern eine persönliche Erfahrung, wenn er uns den lapidaren Satz schreibt: "Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir!"


Kein privates Tun

Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten  Schnupfen bekommt, so ziehen die Börsenmakler in Frankfurt und London ihre Taschentücher heraus, um die wegen der fallenden Kurse schweißbedeckte Stirn zu wischen. In welch weltpolitischer Verantwortung handelt somit dieser dann, sobald er Sorge dafür trägt, sich keiner falschen Zugluft auszusetzen. Die kleinsten Ereignisse wachsen bei ihm ins Unendliche. Daher verfolgt die Öffentlichkeit jeden seiner Schritte.

Der sogenannte Mann von der Straße würde es für überheblich halten, mäße er seinem Tun und Lassen auch nur annähernd eine gleiche Bedeutung zu. Selbst da, wo er wenige Male in seinem Leben durch seine Wahlstimme große Entscheidungen mit fällt, weiß er, im Grunde kommt es auf mich nicht an, sondern auf die große Masse, die wie er denkt und erst in der Größenordnung von Tausenden Gewicht erhält. Nur, wenn ein von der ganzen Welt mit Spannung erwartetes Raumflugunternehmen fast scheitert, weil ein unachtsamer Techniker ein Schräubchen vergessen hat, oder wenn versehentlich ein Atomkrieg auszubrechen droht, weil ein Ingenieur am Radarschirm in Alaska ein harmloses Himmelsobjekt als feindliche Rakete ausmacht, dann ahnen wir die Bedeutung, die das Tun irgendeines Menschen für uns alle haben kann.

Das sind etwas spektakuläre Beispiele für das, was ich über die gegenseitige Verflechtung unseres Tuns  sagen möchte. In weit bescheidenerem Rahmen ist es etwa ein gutes Wort oder auch ein böses, das seinen Weg in die Gemeinschaft nimmt, vielleicht nicht zur Ruhe kommt, aufbauend oder zerstörend weiterwirkt und nicht mehr zurückgeholt werden kann.

Es bedarf der visionären Schau eines Dichters, um unsere Verantwortung für diese scheinbar kleinen Dinge aufzurufen. "Jeder Mensch", heißt es bei Leon Bloy, „der eine freie Willensentscheidung fällt, wirkt ins Unendliche. Wenn er unwillig einem Armen eine Münze gibt, so durchbohrt die Münze des Armen Hand, fällt zu Boden, durchschlägt die Erde, durchlöchert die Sonnen, durchmißt das Firmament und bedroht das Universum. Wenn er eine unreine Handlung begeht, so betrübt er vielleicht Tausende von Herzen, die er nicht kennt, die geheimnisvoll mit im in Verbindung stehen und denen es nottut, daß dieser Mensch rein sei."

Hier eröffnet sich eine Dimension im Sinne des Bibelwortes: "Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied ausgezeichnet ist, so haben alle an seinem Wohlsein teil". Damit sinkt die gern vertretene Auffassung: Was ich tue, geht keinen etwas an, in Nichts zusammen. Es gibt kein rein privates Leben. Was ich heute tue, ja was ich denke, betrifft die andern.


Vielleicht ist es aber wahr

Wer möchte sich in seinen Anschauungen und gerade in seinen weltanschaulichen schon beunruhigen lassen? Dieses Geschäft - auf den ersten Blick möchte man es nicht vermuten - besorgen bisweilen die Theologen. Nehmen Sie den jovialen Pfarrer, der es liebte sich mit seinen Bauern, die er beim morgendlichen Spaziergang traf, gelegentlich recht tiefsinnige Gespräche zu führen. So unterhielt er sich mit einem der Bauern über die verschiedenen Religionen, die es auf der Welt gibt, den Buddhismus, den Islam, den Konfuzianismus; zugegeben ein Thema, daß sich normalerweise nicht für die Predigt eignet. Am Schluß der gelehrten Auslassungen lächelte der Bauer nachdenklich und sagte: "Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, ich würde ja lachen, wenn unsere Religion nicht die richtige wäre!"

Hat der Pfarrer seiner sonstigen Verkündigung nicht einen schlechten Dienst erwiesen, wenn er durch seine Worte Zweifel gesät hat? Der gemeinhin für zutreffend gehaltenen Auffassung nach, man dürfe niemanden in seinem Glauben beunruhigen, sicherlich. Bei dieser Bewahrungsmethode bleibt aber eine entscheidende Tatsache unberücksichtigt: Der Glaubenswahrheit ist nicht damit gedient, wenn ich weiterer Erkenntnis einen Riegel vorschiebe. Das sei gesagt auf die Unruhe hin, die sich bei vielen ernsthaften Christen zeigt, die heute stärker als je in die geistige Auseinandersetzung, nicht zuletzt der Theologie, hineingezogen sind. Ich halte es hier mit dem Philosophen und Staatsmann Radhakrishnan: "Die Wahrheit, die uns die Wissenschaft bietet, bereitet größerer Tiefe im Religiösen den Weg." Zweifel und Unruhe sind Wachstumsschmerzen in der Wahrheit, und die werden uns wieder und wieder befallen.

Nun wäre es einseitig, nur bei Gläubigen von Unruhe zu sprechen. Wie ein  Theologe auch in anderer Hinsicht beunruhigen kann, mögen Sie der Nacherzählung einer jüdischen Geschichte von Martin Buber entnehmen: Ein sehr gelehrter und aufgeklärter Mann sucht einen bekannten Rabbi auf, um mit ihm zu disputieren und die rückständigen Beweise für den Glauben zuschanden zu machen. Den Ankömmling zuerst nur flüchtig beachtend, sagt der Rabbi in tiefer Nachdenklichkeit: "Vielleicht ist es aber wahr?!" Erst dann wendet er sich dem Gelehrten vollends zu, der durch diesen Satz und die Art und Weise, wie er vorgebracht worden war, in Verwirrung gerät. "Die Großen der Thora", sagt der Rabbi, "haben Dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und ich kann es auch nicht; aber bedenke, mein Sohn, vielleicht ist es aber wahr?!" Der Gelehrte versucht zu antworten; doch dieses "vielleicht" bricht einfachhin seinen Widerstand.

Hieran wird deutlich, daß nicht nur der Gläubige seine Position befragen lassen muß, sondern auch der Nicht-Gläubige. Dabei stellt sich heraus, daß im Glauben der Unglaube und im sogenannten Unglaube oft der Glaube liegt; d.h. Glaube und sein Gegenteil verteilen sich nicht unbedingt auf verschiedene Menschen, vielmehr befinden sie sich in mir. Deswegen kann die Frage des Rabbi "vielleicht ist es aber wahr" auch für mich von Nutzen sein.


Konzentration und Sammlung

Falls Sie sich morgens Zeit nehmen können zum Bummeln, so ist dies in dem Augenblick vorbei, wo Sie das Haus verlassen, sich ins Auto setzen oder nur eine Straße überqueren wollen. Hohe Konzentration wird von Ihnen gefordert. In vielen Berufen steigern sich die Anforderungen, die an die Aufmerksamkeit und das Reaktionsvermögen gestellt werden, beachtlich. Es braucht den ganzen Menschen, so heißt es, den, der nicht mit seinen Gedanken umherschweift, der nicht träumt. Findet sich der ganze Mensch aber wirklich einzig und allein in der Konzentration, in der gespannten Hab-Acht-Stellung? Es gibt für den Menschen noch etwas Wichtigeres als Konzentration, das, was man Sammlung nennt. Buddhisten würden unsere Konzentration sogar eher als ein Schlafen bezeichnen. Wir hingegen sind versucht, die Sammlung mit Ausruhen gleichzusetzen. Vielleicht gestehen wir ihr noch die Funktion der Entspannung zu, die es uns dann ermöglicht, nachher wieder umso konzentrierter zu arbeiten.

Wir sind schnell mit dem Wort bei der Hand, Undank ist der Welten Lohn, weil ein anderer unser gutes Wollen nicht respektiert oder sogar unsere gute Tat verschmäht. Uns geht es vielleicht wie den Pfadindern, die ihrem Feldmeister voll Stolz berichten: "Wir haben eine Oma über die Straße gebracht!" "Ja, warum denn zu viert?" "Ei, die wollte nicht!" Schuld an diesen oder ähnlichen verfehlten guten Taten ist die mangelnde Kenntnis des andern, die oberflächliche Beurteilung seiner wahren Lage, der durch eine gönnerhafte Einstellung verengte Blickwinkel. Und das nicht nur bei gelegentlichen Begegnungen mit fremden Menschen, sondern auch im Zusammenleben mit Angehörigen, Kollegen oder Untergebenen.

Es wäre eine falsche Alternative, aus dieser Einsicht seinem guten Herzen Einhalt zu gebieten. Es gibt einen besseren Weg, eben den der Sammlung, in die ich den anderen  hineinnehme. Zeit haben für den Nächsten nicht nur in den Augenblicken, wo er mich unmittelbar braucht, sondern wo er mir nur in Gedanken gegenwärtig ist.

Nehmen wir  einen Vater, der seinen Sohn nicht nur danach beurteilt, was er tagsüber so alles anstellt, und welche Noten er aus der Schule mitbringt, sondern der in Muße darüber nachdenkt, was das für ein Mensch ist, der ihm da anvertraut wurde, was für wahre Bedürfnisse er hat und wie sein Wesen ist. Das sollte nicht in angestrengten Überlegungen geschehen, vielleicht nur in einem besinnlichen Anschauen, wenn jener gebeugt über seinen Schulaufgaben sitzt. Wieviel  Einsicht kann eine Mutter erlangen, wenn sie in aller Ruhe ihrem Kind beim Spielen zuschaut. Vor wichtigen, oder sogar kritischen Gesprächen, die zu erwarten sind, sollte man nicht so sehr  die zu verhandelnde Sache als vielmehr den Gesprächspartner selbst bedenken. Es ließen sich weitere Beispiele für diese Art der Sammlung anführen. Die genannten mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß jede Konzentration, vor allem die, die  auf einen anderen Menschen gerichtet ist, am besten in eine verweilende Sammlung eingebettet wird.


Nichts Neues unter der Sonne

„Was gewesen, wird wiederum sein. Was geschehen, wird wieder geschehen. Nichts Neues gibt’s unter der Sonne. Wäre einmal etwas, davon man sagte: Siehe da, etwas Neues!" Diese Worte drücken die Gedanken vieler aus, die sich morgens erheben, zum 14.399sten Mal die Zähne putzen, das Frühstück einnehmen, die Zeitung überfliegen – aber auch da nichts wirklich Neues -, auf die Bahn warten, die Arbeitszeit verrinnen lassen, um sich nach einigen Stunden der Freizeit zum 14.400sten Mal wieder ins Bett zu begeben. Im Hintergrund bleibt die Frage, was hat das alles für einen Sinn, wohin soll es führen? Immer das Gleiche!

Das Gefühl, ja die Angst, es könnte alles sinnlos sein, quält unsere Zeit übermäßig. Sensible Geister haben dem in ihren Worten Ausdruck verliehen und sogar eine Antwort gegeben: Wir können mit der Sinnlosigkeit leben, so ähnlich wie der Sisyphos der griechischen Sage. Der war damit beschäftigt, einen großen Felsblock den Berg hinaufzurollen. Mit Händen und Füßen arbeitete er sich ab. Sooft er aber vermeinte, nun endlich den Gipfel erreicht zu haben, entglitt ihm der Stein und rollte wieder hinunter an den Fuß des Berges. Da begann Sisyphos von Neuem. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, den Kopf hüllte eine Staubwolke ein.

Von dieser Gestalt will uns ein Dichter wie Albert Camus sagen, er sei im Grunde ein glücklicher Mensch gewesen. Das ist eine absurde Interpretation. In der antiken Auffassung jedenfalls war es eine schreckliche Strafe, die Sisyphos in der Unterwelt abzuleisten hatte. Man wäre niemals auf den Gedanken gekommen, ihn glücklich zu preisen.

Das soll nicht heißen, wir könnten die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Lebens so einfachhin übergehen. Sicher, nicht jedem stellt sich dieses Problem in ganzer Schärfe. Oft läßt aber eine auffällige Betriebsamkeit auf unbewußte Unruhe schließen, die in diese Richtung geht.

„Nichts Neues gibt’s unter der Sonne!" Dieses Zitat ist, wenn Sie es nicht schon gleich erkannt haben, aus der Bibel. Der selbst für unsere Begriffe sehr pessimistische Prediger des Alten Testamentes sagt es im ersten Kapitel. Unsere Sorge wurde also bereits zu dieser frühen Zeit klar formuliert, und man hat diesen Text nicht aus der Heiligen Schrift herausgenommen. Wir befinden uns somit in bester Gesellschaft. Nur noch ein kleiner Schritt ist es von da bis zu dem Rat: „Es gibt für den Menschen nichts Besseres als zu essen und zu trinken und sich’s wohl sein zu lassen bei seiner Mühe." Zu gut deutsch: „Freu dich des Lebens, solange das Lämpchen noch glüht!. Dabei stammt die Aufforderung zum Essen und Trinken wiederum vom Prediger. Hier allerdings werden seine Worte geradezu bedenklich. Man erinnert sich die scharfe Kritik des Apostels Paulus: „Ihr Gott ist der Bauch." Aber das braucht unseren Autor aus dem Alten Testament nicht zu treffen, fährt er doch an besagter Stelle fort: „Ich sah, daß auch dies aus Gottes Hand kommt. Denn, wer kann essen und genießen ohne ihn". Das ist entwaffnend gläubig.

Wo liegt die Lösung, wenn wir weder als glückliche Sisyphoi noch als Menschen leben wollen, die im Brei des Schlaraffenlandes die Frage nach dem Sinn des Lebens ersticken? Halten wir der Frage ruhig ein wenig stand und verlassen wir uns nicht auf eine fromme Antwort, die zur Unzeit gegeben, nur Wortgeklingel ist. Loten wir das Gefühl der Sinnlosigkeit aus, erwarten wir aber keine Lösung aus unseren Voraussetzungen. Die große Leere ruft nicht nach dem Füllsel sondern nach der Fülle.


Zuhörer sein

Die Menschen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in die weitaus stärkere Gruppe derjenigen, die lieber reden als zuhören und in die entsprechend schwächere Gruppe derer, die lieber zuhören als reden. Beide Kategorien ergänzen sich vorzüglich. Nur finden sich normalerweise für die "Redner" zu wenige "Zuhörer", eine statistische Misere, für die es nur insofern eine Lösung gibt, als in jedem "Redner" auch ein "Zuhörer" steckt und umgekehrt. Auf diese Tatsache und ihre Bedeutung möchte ich sie aufmerksam machen.

Bei den allermeisten unter uns ist das Bedürfnis zu reden, und zwar über sich selbst zu reden, groß. Man braucht oft nur anzutippen, und schon ergießt sich ein Schwall von Gedanken, Nöten, Vorstellungen und Erlebnissen. Wer da imstande ist, ein aktiver Zuhörer zu sein, nicht einer, der bloß ein interessiertes Gesicht hinhält, unterdessen aber völlig anderes denkt, der erweist seinem Gegenüber einen großen Dienst. Manchmal bin ich überrascht, wenn sich mein Gegenüber für das gute Gespräch bedankt, bei dem ich meines Wissens kaum etwas gesagt habe. Mag es bisweilen sogar Geschwätz sein, was man zu hören bekommt, ein Gespräch ist deswegen noch lange nicht unnütz. Geht es doch zumeist nicht darum, Inhalte mitzuteilen, sondern darum, vom Zuhörer anerkannt zu werden, als Mensch ernst genommen zu werden. Und wer verdiente dies nicht? Die Anerkennung, die ich dem "geringsten der Brüder" zuteilwerden lasse, in diesem Falle dem Schwätzer, ist sie nicht auch eine Anerkennung Christi? "Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt..."

Daß es sich beim Zuhören um eine hohe Kunst der Menschlichkeit handelt, schildert eine kurze Erzählung von Franz Werfel: Ein Dichter, der zu einer Gesellschaft geladen ist, sieht, daß der Hausherr im Gegensatz zu seiner Gattin schüchtern und hilflos in einer Ecke steht. Daraufhin sucht er ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Da es sich beim dem Gastgeber um einen Finanzexperten handelt, fragt er ihn nach dem Einfluß der kubanischen Mißernte auf die Wirtschaft. Der Angesprochene gibt mit verschämtem Lächeln und auf sprunghafte Weise einige Erklärungen und fragt nun seinerseits den Dichter: "Sagen Sie, Herr Doktor, da waren wir gestern im Rosenkavalier. Was halten Sie von der Inszenierung? In verlegener Höflichkeit sagt der Dichter etwas Unbestimmtes, um dann wieder auf die kubanische Mißernte zu kommen. So reden die Männer längere Zeit aneinander vorbei, beide bemüht, die Interessen des andern vor die eigenen zu stellen, bis sie plötzlich beide lächeln müssen und sich in einer Aufwallung der Herzen die Hände reichen. "Von diesem unbemerkten Augenblick an", fährt Werfel fort, "bemächtigte sich der Gesellschaft ein ruhiges, gehobenes Wohlbehagen, welches wohl in der stillen Tugend von zwei Anwesenden seine Ursache hatte."

Selten genug ergibt sich ein Gespräch wie das gerade geschilderte. Völlig überflüssig sind jedenfalls Unterhaltungen, in denen sich zwei gleichzeitig einen Monolog halten. Notwendig ist, daß der, welcher einen guten Zuhörer sucht, mich dazu bereit findet.


 
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