Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1967


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 18. - 23. September1967

Suche nach einem Christen
Richten und gerichtet werden
Moderner Psalm
Heilschlange
Gebetsgemeinschaft
Fanatiker

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Suche nach einem Christen

Zu den schrulligen Philosophen, die uns die Geschichte beschert hat, gehört der Grieche Diogenes, Er pflegte in einem Faß zu übernachten, In dem hochkultivierten Griechenland seiner Zeit wollte er zeigen, wie es sich völlig bedürfnislos leben läßt. Seine Schrulligkeit erreichte ihren Höhepunkt, als er bei hellichtem Tag über den von Menschen erfüllten Marktplatz lief, indem er eine Laterne suchend vor sich hielt. Die Menschen, die schon einiges von diesem Kauz gewöhnt waren fragten ihn interessiert, was er denn mit seiner Laterne suche? Sie erhielten eine verblüffende Antwort : "Ich suche einen Menschen!" Mit dieser Erklärung erteilte Diogenes seinen Zeitgenossen wiederum eine einprägsame Lektion, ein menschliches Wesen ist noch lange kein Mensch. Es ist schwer, ein wirklicher Mensch zu sein. Wie vielen, oder besser, wie wenigen Menschen mag der Philosoph in seinem Leben begegnet sein?

An den Diogenes mit der Laterne wird man denken müssen, wenn eine deutsche Rundfunkanstalt die Umfrage macht: "Haben sie schon einmal einen Christen gesehen?" Ein normaler Mensch wird bald mit der Antwort aufwarten können: "Ja, selbstverständlich, mir sind dutzende, ja hunderte Christen in meinem Leben begegnet". Die Antwort, die ein Arbeiter auf die Frage gegeben hat: "Haben sie schon einmal einen Christen gesehen?", lautete knapp: "Nein!" Damit dürfte er uns nicht weniger schockieren, als es Diogenes mit seiner Erklärung getan hat: "Ich suche einen Menschen!" Wir haben demnach auch unseren modernen Diogenes. Er geht durch die Straßen einer Großstadt und sucht einen Christen. Tausende begegnen ihm, die als Christen ausgewiesen sind; und  keiner dieser Christen sollte dem Arbeiter als Christ begegnet sein?

Sollte die böse Klage Hölderlins in abgewandelter Form zutreffen: Handwerker siehst du, aber keine Christen, Denker, aber keine Christen, Priester, aber keine Christen, Herren und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Christen.

Es ist naheliegend, den besagten Arbeiter zu fragen, was für unmögliche Maßstäbe er anlege, um einen Christen als Christen gelten zu lassen. Einen Maßstab zur Beurteilung der Christen hat dieser Arbeiter tatsächlich. Inwieweit dieser Maßstab abwegig ist, wollen wir noch sehen. Der Frage, ob er schon einmal einen Christen gesehen habe, ging nämlich die Frage voraus, wie ein Christ zu sein habe. Schlicht hatte der Befragte gesagt: "Er muß sich mir anpassen!" Damit ist die Forderung erhoben, daß ein Christ niemals sich selbst leben darf, er muß von sich weggehen um beim Andern anzukommen. Die Formulierung des Arbeiters ist überraschend genau. Bewußt oder unbewußt übernimmt er den Leitgedanken von Paulus, der "Allen alles werden wollte" und sich somit an Christus orientierte, dem es darum ging, sich uns allen anzupassen.

Unser Diogenes ist demnach gar nicht so schrullig. Wir sind's, wenn sein Maßstab auf uns nicht paßt.


Richten und gerichtet werden

Die Frage, ob in der Hölle ein Feuer brennt, hat die Menschen viel weniger beschäftigt als die Frage, nach welchen Gesichtspunkten ein letztes Urteil über das Leben eines Menschen gefällt wird. Außerdem ist immer wieder das Problem aufgetaucht, ob ein Mensch überhaupt so schlecht sein könne, daß er - für den Fall, es gäbe eine Hölle - , in diese geraten müßte.

Letzteres ist für Dante Alighieri in seiner "Göttlichen Komödie" eine selbstverständliche Voraussetzung. Das Inferno, durch das er geführt wird, ist voller Menschen der verschiedensten Kategorien. Unter ihnen sind bekannte Persönlichkeiten seiner Zeit, nicht zuletzt auch Päpste.

Wir staunen über die Unbefangenheit, Menschen in die Hölle zu versetzen und sogar noch einzelne mit Namen aufzuführen. Dahinter steckt, ausgesprochen oder unausgesprochen die Meinung, wir hätten die Maßstäbe, um einen Mitmenschen beurteilen zu können.

Wesentlich vorsichtiger verhält sich der Landsmann Dantes, der Dichter Giovanni Papini. Er starb im Jahre 1956. Nach seinem Tode bezeichnenderweise wurde ein Buch von ihm mit dem Titel "Weltgericht'' veröffentlicht.  In ihm sind 350 Repräsentanten der Menschheit aufgeführt, Menschen, die gelebt haben und die in die Geschichte eingegangen sind und Menschen, die Papini frei erfunden hat. In seinem Weltgericht  wird kein Urteil gesprochen. Die Darstellung beschränkt sich nämlich auf eine Phase vor dem letzten Urteilsspruch. Die 350 Menschen, die für die ganze Menschheit stehen, erhalten die Möglichkeit, sich vor einem  Chor der Engel  zu verantworten und gegebenenfalls ihre Entschuldigungen vorzubringen. Diese Möglichkeit wird vor allem von denen in Anspruch genommen, die als  "Übeltäter" in die Geschichte eingegangen sind. Sie wissen vielerlei vorzubringen, was erklären soll, warum sie so und nicht anders gehandelt haben.

Besonders interessant ist es, die Entschuldigungen der Persönlichkeiten zu lesen, die uns noch unmittelbar bekannt sind, Es ist deutlich zu spüren, wie  Papini sich bemüht, jedem Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Entscheidend für seine Einstellung ist schließlich, daß er sich selbst jeden Urteils über die anderen enthält. Daher könnte man über sein Werk auch die Überschrift setzen: "Richtet nicht...!"

Noch einen Schritt weiter geht dann der zeitgenössische Dichter Jean Anouilh . Für ihn findet das Jüngste Gericht einen überraschenden Abschluß. Die Auserwählten stehen bereits erwartungsvoll am Himmelstor. Jeden Moment kann es sich öffnen, damit sie eintreten. Da geht unter ihnen ein unglaubliches Gerücht um: "Der göttliche Richter wird auch den anderen verzeihen!" Mit den anderen sind die Bösen gemeint. Daraufhin sind die Guten aufs Äußerste erregt. Sie geraten dermaßen in Zorn und Empörung, daß dem Herrn nichts anderes übrig bleibt, als sie alle in die Hölle zu stürzen.

Hiermit ist deutlich ausgedrückt, was ich zu bedenken geben möchte. Uns fehlen die Maßstäbe zu urteilen. Wenn wir es wagen zu verurteilen, haben wir uns selbst verurteilt. Die Aufforderung "Richtet nicht!", ist nur die eine Hälfte der biblischen Mahnung. Die andere Hälfte gehört wesentlich dazu: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!"


Moderner Psalm

Der südamerikanische Dichter Ernesto Cardenal hat sich als junger Mensch gegen die Diktatur eines General Somoza aufgelehnt. Er wurde verhaftet, geschlagen, gefoltert. Eine Verschwörung, in die er mit der jungen Intelligenz seines Landes verwickelt war, wurde von der Polizei aufgedeckt. Nur mit knapper Not konnte er entkommen. Von ihm stammt folgender Gebetstext:  
"Höre, meine Worte, Herr höre mein Seufzen, höre meinen Protest, denn du bist Gott und kein Freund der Diktatoren, du folgst nicht ihrer Politik, noch achtest du auf ihre Propaganda. Du hast mit Gangstern nichts gemein."
Das klingt einerseits hochmodern, andererseits aber auch wieder  altvertraut. Es handelt sich um die  dem  Psalm 5 entsprechenden Sätze. In der Bibel heißt die Stelle: "Du bist kein Gott, dem das Unrecht gefällt; Der Böse hat kein Bleiben bei dir, die Frevler können vor Dir nicht bestehen, in ihrem Mund ist keine Wahrhaftigkeit, hinterlistige Pläne ersinnt ihr Herz" und dann die Bitte, die jedem anständigen Menschen aus dem Herzen gesprochen ist: "Strafe sie Herr! Aus ihren Plänen sollen sie fallen!" in der modernen Nachdichtung heißt es dafür: "Ihre Reden sind unaufrichtig wie ihre Presseerklärungen... Die ganze Nacht lang streuen ihre Radiosender Lügen aus, verbrecherische Pläne füllen die Akten ihrer Büros,..., Straf' sie, oh Gott! Lass' scheitern ihre Politik! Bringe ihre Memoranden durcheinander! Verhindere ihre Programme,...  Wenn die Sirene heult, wirst Du mir beistehen, meine Zuflucht bist Du am Tage der Bombe.''

Hier betet ein Mann, der sich in einer ähnlichen Situation befindet wie sein unbekannter Vorgänger vor Tausenden von Jahren. Daher verbietet es sich auch, von Nachdichtung zu sprechen. Diese Texte sind nicht nachgedichtet, sondern nacherlebt, Ernesto Cardenal hat das, was er beschreibt oder im Gebet herausschreit, am eigenen Leib erfahren.

Jetzt verstehen wir, wie dieses Gebet entstehen konnte. Seine Anlehnung an die Psalmen ist kein literarischer Gag, sondern entspricht einer inneren Folgerichtigkeit bis hin zu der Bitte um Rache und Vergeltung.

Mittlerweile hat sich Cardenal von der Politik abgewandt. Er ist Mönch in einem strengen Trappistenkloster geworden. Was bedeutet dieser Wandel in seinem Leben? In einem Brief nimmt er dazu Stellung: "Die Politik geht mich immer an, aber ich sehe sie mit anderen Augen als meinen früheren, ich sehe z.B., daß Somoza (des Diktators) Wurzeln tiefer sind, und daß sie sich manchmal auch in mir zeigen, in meinem täglichen Schaffen. Die Diktatoren sind in uns. Die H-Bombe ist in unserem Innern."

"Die Diktatoren sind in uns, die H-Bombe ist in unserem Innern". Sind damit die ursprünglichen Ziele des Revolutionärs aufgegeben? Wie kann der Mönch Cardenal jetzt noch seinen Psalm beten, in dem es heißt :"Du bist kein Freund der Diktatoren... meine Zuflucht bist Du am Tage der H-Bombe?", wenn der Diktator in mir ist und auch die H-Bombe. Was bleibt dann - es sei mir das Wort gestattet - von dem schmerzlichen  'Protestsong' übrig? Nun, er hört auf, ein Lied des politischen Umsturzes zu sein und doch bleibt er ein umstürzlerisches Lied, da mein Inneres mit in diesen Umsturz einbezogen ist. Übrigens nennt man einen derartigen Umsturz, den entscheidendsten Umsturz in dieser Welt, in der Sprache der Psalmen "Buße".


Heilschlange

Das Auto eines Arztes ist daran zu erkennen, dass an der Windschutzscheibe ein kreisrundes Schildchen angebracht ist. Auf ihm ist ein Stab mit einer Schlange zu sehen. Niemand wundert sich mehr, dass gerade die Schlange Symbol der Heilkunst ist , obwohl Schlangen für uns doch unheimliche Tiere sind. Wir empfinden sie normalerweise als gefährlich.

In einer indischen Erzählung ist es ein alter Mann, der sich täglich von einer Schlange bedroht fühlt. Er versucht auf allerlei Weise die Gefahr zu bannen. Es ist ihm aber kein Erfolg beschieden. In seiner Not wendet er sich an einen Weisen. Dieser gibt ihm folgenden Rat:"Dein bisheriger Kampf mit der Schlange konnte nicht zum Erfolg führen. Du musst es anders machen! Verhalte dich in Zukunft wie die Schlange, ahme ihre Bewegungen nach und passe dich ganz ihrer Art an, Dann wirst du Ruhe haben". Der Mann befolgte diesen Rat, der ihm eigenartig vorkommen musste - und tatsächlich die Schlange hörte auf, ihm feindlich zu sein.

"Passe dich der Schlange an, und die Schlange hört auf, dein Feind zu sein." Wir lesen indes auf den ersten Seiten der Bibel von einer Anpassung des Menschen an die Schlange, die ihm nicht zum Heil, sondern zum Unheil geworden ist. Die Schlange verspricht in diesem bildhaften Bericht vom Paradies zwar das Heil, aber sie bewirkt das Gegenteil.

Die zwielichtige Rolle der Schlange ist damit für die Bibel noch nicht ausgespielt, Bei der Wüstenwanderung des Volkes Israel raffen Giftschlangen viele der rebellierenden Israeliten hinweg. Da richtet Moses einen Pfahl auf, lässt aus Erz eine Schlange nachbilden und befestigt sie an dem Pfahl. Wenn nun eine Schlange, so heißt es in dem Text, jemanden gebissen hatte und dieser die aufgerichtete Schlange ansah, so schadete ihm dieser Biss nicht. Wir fühlen uns sofort an die indische Parabel erinnert. Passe dich der Schlange an und sie ist kein Unheil mehr für dich!

Mit diesen Überlegungen sind wir in der Lage, einen schwierigen Satz im Neuen Testament zu verstehen, der von Christus handelt. "Und wie Moses die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss des Menschen Sohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt (gläubig zu ihm aufsieht) das ewige Leben hat". Dieser Satz will besagen, bei Moses konnte die Giftschlange durch den Blick auf die aufgerichtete Heilschlange überwunden werden. Jesus Christus ist ebenfalls am Pfahl aufgerichtet worden. Damit hat er sich angepasst an die Schlange die am Baum der Erkenntnis hing. Er ist für uns - symbolisch gesprochen - zur Schlange geworden, um die Schlange zu besiegen. Setzen wir statt Schlange das Wort Sünde ein, dann gehört hierher der Satz von Paulus: „Ihn, der die Sünde nicht kannte, hat Gott für uns zur Sünde gemacht." Damit ist die Bedrohung der Schlange, die Bedrohung durch die unheimlichen Mächte der Sünde in uns und um uns gebannt für den, der zu Christus aufblickt.


Gebetsgemeinschaft

Paris, den 22. Febr. 1908", "Mein lieber großer Freund," so beginnt der Brief eines jungen Mannes an den schon zu dieser Zeit berühmten Dichter Paul Claudel. Der Brief, der dann folgt, gehört zu einem Briefwechsel zwischen diesen Beiden, der sich über Jahre erstreckte. Eine Reihe von Briefen an den jungen Mann hat Claudel aus Frankfurt geschrieben, "einer äußerst hübschen Stadt voller Blumen und Grün," wie es unter dem 11. Oktober 1911 heißt. Heute (22. Februar 1967) vor 60 Jahren wurde nun ein Brief geschrieben, aus dem ich eine Stelle herausgreifen möchte. Der Briefpartner des Dichters schreibt da: "Ich habe auch versucht, so wie Sie mich gebeten haben, zu beten, um dadurch mit ihnen vereinigt zu sein. Es ist mir nicht gelungen, so sehr habe ich es verlernt, ich verspreche Ihnen, mein Möglichstes zu tun." Und ein paar Zeilen später wiederholt er: "Ich verspreche ihnen alles zu tun, was in meiner Nacht steht - es ist recht wenig - um mit ihnen zu beten,"

Um diese Zeilen zu verstehen, muss man den entsprechenden Passus eines Briefes vom 11. Januar desselben Jahres kennen, in dem Claudel schreibt: "Ich habe deshalb den Entschluß gefaßt zu versuchen, jeden Tag meinen Rosenkranz für Sie zu beten. Es würde mir Freude bereiten, wenn auch Sie sich von Zeit zu Zeit zu dieser Übung zwingen wollten. Das Gebet hat einen solchen Wert, daß es, selbst wenn Sie nicht giauben, selbst wenn Sie ihm Ihrerseits keine Aufmerksamkeit schenken, nicht fruchtlos bleiben wird, Es ist etwas wundervoll Beruhigendes für den Geist und wird Ihnen den Weg zur Betrachtung öffnen. Wenn Sie mich wirklich, wie Sie sagen, lieben, dann können Sie mir dieses Werk des guten Willens nicht gut abschlagen, das uns jeden Tag im gleichen Gedanken und in gleichen Worten miteinander vereinigt."

Daß Claudel gerade den Rosenkranz wählt um jemanden das Beten zu lehren, will ich einmal übergehen. Viel befremdlicher ist dir Umstand, daß ein Mensch, der sich selbst als glaubenslos ausgibt, beten soll, selbst dann wenn er vom Beten nichts hält. Ist das von einem redlichen jungen Mann nicht zu viel verlangt? Claudel weiß aber, was er will. Er erwartet nicht, dass sein ungläubiger Freund gleich auf das Gebet vertraut, sondern, daß er auf seine Person vertraut. Dabei versteht er sich als ein Schrittmacher des Gebetes, so wie es die Schrittmacher für den Herzschlag gibt. Sein Beten gibt den Rhythmus an. Der Freund, der sich vertrauensvoll auf diesen Rhythmus einläßt, wird mit der Zeit auf denselben einschwingen. Schließlich kann der Rhythmus des andern zum eigenen Rhythmus werden, Dar fremde Glaube ist zum eigenen Glauben, das fremde Beten zum eigenen Beten geworden.

In dieser Weise wird auch heute ein Glaubender Schrittmacher des Glaubens sein können. Nicht die Glaubenstheorie , sondern der gläubige Mensch überzeugt, Nach einigen Jahren erhält dann auch Paul Claudel einen Brief mit dem Satz: "Sie vermögen sich nicht vorzustellen, welch unmerklichen, aber langen Weg ich zurückgelegt habe, seitdem ich Sie kenne,''


Fanatiker

Savonarola, der große Prediger von Florenz, übte eine erstaunliche Macht auf seine Zuhörer aus. Es heißt von der Wirkung seiner Predigten: "Viele Frauen und mitunter Männer wurden während seiner Predigten von Weinkrämpfen befallen, andere wiederum blieben stumm, bewegungslos, wie erstarrt von Entsetzen". Fanatische Menschen - und dazu wird der mittelalterliche Dominikaner bei allem Respekt vor seiner Persönlichkeit gezählt - faszinieren uns immer wieder. Das hat eich erst in jüngster Zeit wieder gezeigt. Fanatiker sind beherrscht von einer einzigen Idee. Sie entwickeln diese in klaren Beweisgängen und sind kompromisslos in ihren Folgerungen. Heimlich wünschen wir uns auch so zu sein. Wir wären dann nicht so inkonsequente, (durchschnittliche) Alltagsmenschen.

Uns ruft Nietzsche zu: "Oh, dass dir doch der Kamm schwölle, oh, dass du doch Überzeugungen hättest!" Der Kamm schwillt uns schon, aber bei unwichtigen Gelegenheiten, bei kleinen Ärgerlichkeiten. So bleibt nichts verständlicher, als wenn wir uns ausliefern an die großen, überzeugenden Gestalten, die sich unter uns erheben und uns bei weitem überragen.

Manchmal kommt es sogar so weit, dass diese Kompromisslosigkeit mit der Leidenschaftlichkeit Christi gleichgesetzt wird, Auch dafür gibt es gegenwartsnahe Belege. Aber bleiben wir bei Savonarola. Seine Gestalt ist bereits Geschichte. Er hat sich ausdrücklich mit Christus gleichgesetzt. In einer seiner Predigten steigert er sich bis zu dem Ausruf: "Wenn ich lüge, so lügt auch Christus!"

Von Christus haben wir das Wort: "Meine Speise ist es, den Willen meines Vaters zu tun." Es gibt also eine Idee, die sein ganzes Leben beherrscht, der Gehorsam gegenüber dem Vater. Davon gibt es kein Abweichen nach rechts oder links. Es werden von ihm auch Gemütserregungen berichtet. Leidenschaftlichkeit, wie wir sie von Christus kennen, und Fanatismus sind aber zwei verschiedene Dinge. Leidenschaft ist etwas Edles, wo sie fehlt, da versinkt der Mensch in eine flache und spießerische Haltung. Er wagt nichts mehr, ist ohne Überzeugung, ohne Kraft und Schwung. Der leiden-schaftliche Mensch hat mit dem Fanatiker gemein - auch deswegen kann man sie so leicht verwechseln – dass beide nach dem Höchsten und Letzten streben. Daher darf es nicht verwundern, wenn wir gerade im religiösen Bereich sowohl den leidenschaftlichen Menschen als auch den fanatischen kennen. Beide sind Ausnahmemenschen. Aber irgendwo liegt ein großer Unterschied, und es ist wichtig, ihn zu kennen oder wenigstens zu ahnen.

Wo aber liegt der Unterschied? Er zeigt sich in den Augenblicken, in denen der fanatische Weltverbesserer, Reformer oder Revolutionär in höchste Erregung gerät. Dann legt er die Tiefenschichten seiner Seele bloß. An drei aufeinander folgenden Sonntagen hat Savonarola z. B. gegen seinen großen Feind gewettert: "Schlagt ihm den Kopf ab ...." Ein anderer Rebell in Christo wollte "keinen Menschen auf dieser Erde verschonen, der dem Worte Gottes widersteht." Hier sehen wir die Grenze, die echte Leidenschaft von ungutem Fanatismus trennt, Oft geht diese Grenze durch ein und denselben Menschen. Wer zu Terror, Zwang und Gewalttaten, wer zur Ausrottung seiner Gegner aufruft, hat diese Grenze eindeutig überschritten, Seine Offensive gegen das Böse ist gepaart mit Hassgefühlen und das Gefährliche ist, dass diese Hassgefühle sich leicht übertragen auf die Masse. Wehe denen, die Objekte dieses Hasses sind, seien es die Juden, die Ketzer, die Kommunisten, die Amerikaner, die satten Bürger.... die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen, Misstrauen wir den Fanatikern, den frommen nicht weniger als den politischen.