Franz Leuninger zum Gedenken

Franz Leuninger mit seinen Brüdern
Franz Leuninger (u.R. rechts) als junger Mann mit seinen Brüdern
o.R. v.lks.:Christian, Georg, Alois
u.R.:Josef, Ernst, Franz

Der
Gewerkschafts-
sekretär

F

ür Franz Leuninger waren die Gewerkschaften bereits ein Begriff, als er noch im schulpflichtigen Alter stand. Im Jahre 1910 kam es im Baugewerbe zu einem Arbeitskampf von ungewöhnlichen Ausmaßen. Über die am 31. März desselben Jahres auslaufenden Regelungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen waren schon vorher zwischen den Tarifpartnern ergebnislose Verhandlungen geführt worden. Über 30 Streitobjekte, worunter der Lohn und die Arbeitszeit die Hauptrolle spielten, standen im Gespräch. Bei den Auseinandersetzungen entstand, hervorgerufen durch das Verhalten der Arbeitgeber, der Eindruck, es gehe diesen schlechthin um eine Schwächung der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber stützten sich auf ihre Organisation mit 22 000 Mitgliedern, die rund 350 000 Arbeiter beschäftigten. Aus dieser Machtposition leiteten sie ihr Recht auf Ablehnung der gewerkschaftlichen Forderungen her. Die Öffentlichkeit befürchtete einen harten Arbeitskampf. Erstmalig schaltete sich in ein solches Geschehen die kaiserliche Regierung ein, die zu vermitteln versuchte. Die Arbeitgeber indessen zeigten sich unnachgiebig und beschlossen am 15. April die Aussperrung, unter die 150 000 bis 200 000 Bauarbeiter fielen. Hiervon wurde Mengerskirchen mit seinen vielen Bauarbeitern in besonderem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Der größte Teil von ihnen kehrte aus der Fremde in die Heimat zurück und war - soweit organisiert - auf die karge Streikunterstützung angewiesen. Der älteste Bruder von Franz, gerade aus der Schule entlassen, konnte, entgegen seiner Absicht, keine Arbeit im Baugewerbe aufnehmen. Die Heimatgemeinde schaffte durch Wegebaumaßnahmen Arbeitsmöglichkeiten für die ausgesperrten Bauarbeiter, um so die Not derselben abzuschwächen. In der Hauptsache waren Steine zu klopfen. Franz half seinem älteren Bruder bei dieser Arbeit nach Ende des Schulunterrichts. Die zu zerkleinernden Steine für den Schotter mußten von den Arbeitern zusammengetragen werden. Für den Kubikmeter Schotter zahlte der Unternehmer 3,50 Mark. Das war eine äußerst geringe Bezahlung. Franz und sein Bruder brachten es bei intensiver Arbeit von fast zwei Monaten auf einen Gesamtlohn von 7 Mark. Dabei mag mitgespielt haben, daß sie 12 und 14 Jahre alt waren. Aber das konnte es nicht allein sein. Es ist nicht auszuschließen, daß die Aufmaße fehlerhaft waren.

So empfand schon der Volksschüler unmittelbar, welche Wertung menschliche Arbeitskraft zu jener Zeit erfuhr, denn letztlich ging es bei der Aussperrung um dieses Problem. Lohn nach ,,Leistung" mit der Unterscheidung des ,,gelernten tüchtigen Gesellen" und ,,geübten tüchtigen Bauhilfsarbeiters". Der Arbeitgeber wollte bestimmen, wann diese Voraussetzungen vorlagen und er dadurch in der Lage war, im Einzelfall den Lohn willkürlich festzusetzen. Die Arbeitszeit sollte nicht weniger als 10 Stunden werktäglich betragen. In den Tagen des Kampfes trat auch die Forderung nach Einschränkung der Koalitionsfreiheit auf. Der Kampf nahm an Härte zu. Andere Wirtschaftszweige wurden in Mitleidenschaft gezogen. Öffentlichkeit und Behörden nahmen unterschiedlich Stellung zur Aussperrung. Die Schwierigkeiten mehrten sich und führten dazu, daß sich Unternehmer an die Regierung und Arbeiterfrauen an den Kaiser wandten. Zu jener Zeit betrug der Maurerstundenlohn in Hamburg 85 Pfennig, in der Umgebung von Breslau 32 bis 33 Pfennig und der Bauhilfsarbeiterlohn in Stuttgart 40 Pfennig.

Die Arbeitskampfparteien waren unnachgiebig. Gewerkschaften und Arbeiter vollbrachten große Leistungen. Gewerkschaftssekretäre verzichteten auf Teile ihrer Gehälter, arbeitende Gewerkschaftsmitglieder leisteten hohe Sonderbeiträge, und die Streikenden selbst mußten sich mit einer bescheidenen Streikunterstützung, die je nach Beitragshöhe, Familienstand und Dauer der Mitgliedschaft zwischen 6 und 18 Mark wöchentlich betrug, begnügen. Die Bemühungen der Reichsregierung führten schließlich zu einer Einigung. Am 18. Juni wurde die Aussperrung beendet. Diese Auseinandersetzung hatte die Gewerkschaften annähernd 9 Millionen Mark gekostet.

Noch nicht 14 Jahre alt, wurde Franz Leuninger Bauhilfsarbeiter. Es ist verständlich, daß er sich dann auch gleich den Gewerkschaften anschloß. Dabei mag das Erlebnis des geschilderten Arbeitskampfes mitgewirkt haben. Mehr aber sicher noch das eigene Erleben in der Welt der Arbeit. Seinen Eintritt in diese Welt und das, was ihm dort in den ersten Monaten widerfuhr, schildert sein älterer Bruder: ,,Im Dezember 1912 wurde ich 15 Jahre alt. Franz war 2 Jahre jünger. Ich arbeitete damals als Hilfsarbeiter im Baugewerbe und schmiedete im Winter Schuhnägel. Im Frühjahr nahm ich wieder die Arbeit am Bau auf, und zwar in Remscheid. Mit Franz hatte ich abgesprochen, daß er nach seiner Schulentlassung nachkommen könne. Er nahm jedoch zunächst eine Hilfsarbeit beim Feldwegebau in Mengerskirchen an. Da ihm der hierfür gezahlte Stundenlohn von 21 Pfennig zu niedrig war, gab er die Arbeit auf und meldete mir kurzfristig sein Kommen in Remscheid an. Ich geriet dadurch in Schwierigkeiten, weil es mir nicht gelingen wollte, Arbeit für ihn zu finden. Nach langem ,,Betteln" fand ich dann doch einen Arbeitsplatz. Dort sollte Franz den Wasserschlauch beim Betonmischern halten, Kaffee kochen, Botengänge machen und anderes mehr. Ich brachte ihn am ersten Tag zu seiner Baustelle. Abends traf ich ihn wieder ,,im Logis". Die Unterkunft bestand aus 2 schrägen durchgehenden Dachzimmern für 6 Mann. Franz saß vor dem Tisch und weinte laut, sein Gesicht war so verweint, daß ich ihn fast nicht erkannte. ,Ich mußte Zement tragen und schaufeln', sagte er. Aber das war sicher nicht die Ursache für seinen Kummer, sondern das Heimweh. Die folgenden Tage verliefen normal. Aber als ich am Lohntag heim kam, spielte sich die gleiche Szene ab wie am ersten Tag. Er hatte nur 20 Pfennig Stundenlohn erhalten. Ich bat am nächsten Tag den Arbeitgeber, Franz doch wenigstens 25 Pfennig die Stunde zu zahlen, und wenn er das nicht könne, solle er mir 5 Pfennige abziehen und sie ihm mehr geben. Franz war damals ein kleiner Kerl. Beim nächsten Lohntag bekam er dann doch 25 Pfennig Stundenlohn, ohne daß mir etwas abgezogen worden war.

Auf mein Anraten hin wurde Franz in den späteren Wochen wiederholt bei dem Arbeitgeber wegen weiterer Lohnerhöhung vorstellig und erreichte, daß sein Lohn nach und nach auf 40 Pfennig die Stunde aufgebessert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er dreizehneinhalb Jahre alt.

Franz wollte aber mehr verdienen. Deshalb wechselten wir im Spätsommer den Arbeitgeber. Ich bekam schon immer den vollen Hilfsarbeiterlohn von 53 Pfennigen die Stunde. Als der neue Arbeitgeber sich weigerte, Franz den gleichen Lohn zu zahlen, stellte der Polier diesen vor die Wahl, entweder Franz 53 Pfennig zu geben oder er, d.h. der Polier, werde kündigen. Beim Auslaufen der Arbeit auf der betreffenden Baustelle wurden 800/o aller Beschäftigten entlassen, Franz war aber bei denjenigen, die bleiben konnten. Er war ein geschickter und arbeitswilliger Junge. Das bewog eine im Akkord arbeitende Putzerkolonne, ihn für sich als Handlanger zu gewinnen. Man sagte ihm auch für den Winter Arbeit zu. Doch bei einer Schwarzarbeit, die der Polier nach Feierabend ausführen ließ, fiel Franz mit einem Sack Zement die Kellertreppe hinunter und verletzte sich so, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Das war Ende November 1912. Franz war damals 13 Jahre und 11 Monate alt. Wir fuhren dann nach Hause zu den Eltern und Geschwistern und schmiedeten den Winter über mit dem Vater Schuhnägel.

Von unserem Verdienst in Remscheid in der Zeit, da wir jeder 53 Pfennige Stundenlohn hatten, schickten wir alle 2 Wochen 50 bis 55 Mark an die Eltern. Wir wollten ihnen damit helfen. Es sind nun fast 60 Jahre her, daß ich das Geschilderte erlebte. Es ist mir aber alles noch so in Erinnerung, als ob es gestern gewesen wäre."

Rückhaltlos setzte sich Franz Leuninger in der folgenden Zeit als Mitglied und Vertrauensmann des christlichen Bauarbeiterverbandes für die Gewerkschaften ein. Wie die anderen Vertrauensmänner arrangierte und führte er Versammlungen durch, unterstützte den Gewerkschaftssekretär, wirkte mit bei der Planung und Durchführung von Hausagitationen, warb für den Verband auf der Baustelle, im Eisenbahnabteil, auf dem Weg zum Arbeitsplatz und in konfessionellen Standesvereinen.

Die Vertrauensmänner waren das organisatorische Rückgrat des Verbandes. Ihre Tätigkeit würdigt das Verbandsorgan "Die Baugewerkschaft" u. a. mit folgenden Worten:

"Die Kollegen, die am Sonnabend und Sonntag ohne Ausnahme mit den Verbandszeitungen, Beitragsmarken, Flugblättern und Aufnahmescheinen ausgerüstet, ihr nicht immer leichtes Amt als Vertrauensmann und Kassierer versehen und die von ihnen betreuten Mitglieder aufsuchen, Aufklärung schaffen und stets bestrebt sind, dem Verband neue Mitglieder zuzuführen... Dieses stille Wirken gewinnt vor allem deshalb an Wert, weil alle die mit dieser Tat verbundenen Opfer freiwillig und ohne Anspruch auf materiellen Lohn gebracht werden."

Aus dem Kreis der Vertrauensmänner rekrutierten sich denn auch die Gewerkschaftssekretäre im christlichen Bauarbeiterverband. Mochten bei dem Einzelnen bei der Übernahme einer solchen Funktion Lücken in bezug auf die Voraussetzungen hierfür bestanden haben, so besaßen doch alle den Opfersinn und die Einsatzbereitschaft, die ein solches Amt erforderte. Nicht selten waren Mühsal und Diffamierungen damit verbunden.

Im Jahre 1922 arbeitete Franz Leuninger im Raum Aachen. Dort tat er sich wie überall in der Gewerkschaftsarbeit hervor. Es ging dabei nicht nur um die Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem gewerkschaftlichen Gegner. Auf Grund seines energischen und gewandten Auftretens bestellte ihn der christliche Bauarbeiterverband zum ,,Lokalbeamten" für den Bereich Euskirchen. Diese Berufsbezeichnung galt für Gewerkschaftssekretäre auf der lokalen Ebene. Als Gewerkschaftssekretär war er nun herausgehoben und in eine Funktion versetzt, die ihn prägte; das Leben zeigte sich ihm von einer anderen Seite. Die Aufgaben waren vielseitig und auch manchmal hart. Er stand aber nunmehr ganz im Dienst für die anderen.

Mit die wichtigste Aufgabe des Lokalbeamten war der Auf- und Ausbau der Verbandsorganisation. Wesentlich dabei waren Werbung und die Betreuung der Mitglieder. In dieser Beziehung nahmen die Gewerkschaftssekretäre im christlichen Bauarbeiterverband eine besondere Stellung ein. Die Mitglieder wechselten infolge der Eigenart des Gewerbes im Gegensatz zu anderen Industriearbeitern - oft den Arbeitsplatz. Dadurch war die Gefahr einer Lockerung der Beziehungen zum Verband gegeben. Dem wirkten die Gewerkschaftssekretäre durch häufigen Besuch der Baustellen entgegen. Das war meist nur in der Mittagspause möglich. Diese Besuche erregten gar oft den Unwillen der Arbeitgeber und führten zu Spannungen und Feindseligkeiten. Gar mancher Gewerkschaftssekretär mußte unter Drohungen die Baustelle verlassen. Aber auch die unorganisierten Arbeiter sahen nicht selten eine Belästigung im Erscheinen des Gewerkschaftssekretärs auf ihrem Arbeitsplatz. Ein besonderes Problem für den christlichen Gewerkschaftssekretär war die Auseinandersetzung mit den sozialistisch organisierten Arbeitern, die mitunter rüde Formen annahm. So fuhr der Gewerkschaftssekretär mit seinem Fahrrad von Baustelle zu Baustelle, immer in dem Bewußtsein, den Angriffen seiner Gegner dort ausgesetzt zu sein. Bei diesen Besuchen bot sich die Möglichkeit einer Kontrolle und Überwachung der Unfallverhütungsvorschriften.

Einen breiten Raum nahm im Aufgabenbereich dieser Männer das Versammlungswesen ein. Jede Ortsgruppe und Zahlstelle hatte in der Regel ihre monatliche Mitgliederversammlung, an welcher der Gewerkschaftssekretär teilnahm. Diese Veranstaltungen dienten in erster Linie der Information und Schulung. Darüber hinaus gab es noch Verwaltungsstellenkonferenzen, Vorstands-, Vertrauensmänner- und Baudelegiertensitzungen. Die Zusammenkünfte fanden vorwiegend am Wochenende statt, so daß der Gewerkschaftssekretär an Samstagen und Sonntagen selten bei seiner Familie sein konnte.

Oft fehlte auf dem Verbandssekretariat eine Büro- oder Schreibkraft, wodurch dem Sekretär noch zusätzliche Verwaltungsarbeiten zufielen.

Wesentlich für den Lokalbeamten war auch die Kontrolle darüber, ob die Bestimmungen der Tarifverträge und sonstiger Abmachungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zum Schutze der Arbeiter beachtet wurden. War dies nicht der Fall, so hatte er geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht zu erzwingen. So standen die Gewerkschaftssekretäre vor den Schranken des Arbeitsgerichts oder den tariflichen Schlichtungsstellen, um das zu fordern, was rechtens war. Ebenso klärten sie Streitigkeiten der Gewerkschaftsmitglieder mit den Sozialversicherungsbehörden und halfen nicht selten in anderen schwierigen Lebenslagen. Ein Mann, der von 1912 bis 1933 Sekretär im christlichen Bauarbeiterverband war, sagte: ,,Der Gewerkschaftssekretär war Mädchen für alles". Manche Unbill mußte dabei auch noch hingenommen werden, die in Einzelfällen bis zu Gefängnisstrafen reichten. So stand Josef Mergenthal aus Winkels im Westerwald als Funktionär des christlichen Bauarbeiterverbandes in den Jahren 1907/08 in Remscheid wiederholt vor dem Schöffengericht, weil man ihn für Vorgänge im Rahmen eines Streiks verantwortlich machte, die nach damaliger Anschauung ungesetzlich erschienen. Ein Verfahren brachte ihm eine Haftstrafe von 2 Wochen ein. Als er aus dem Gefängnis nach Hause kam, hatte ihm der Gerichtsvollzieher einen Teil seines Hausrates - so die Nähmaschine - wegen der nicht bezahlten Gerichtskosten gepfändet.

Alljährlich in den Wintermonaten führte der christliche Bauarbeiterverband eine sogenannte Winteragitation durch. Ein großer Teil der Mitglieder stammte aus den katholischen Bereichen des Eichsfeldes, Hessens, des Sauerlandes, des Taunus und des Westerwaldes. Hier gab es Orte mit hundert und mehr Bauarbeitern, die ihre Arbeitsplätze vorwiegend in westdeutschen Industriegebieten hatten und nur in den Wintermonaten zu Hause waren. In dieser Zeit suchten die Gewerkschaftssekretäre die vorgenannten Gebiete zur Gewinnung neuer Mitglieder, der Festigung der Organisation und Unterrichtung der Bauarbeiter in sozialen und wirtschaftlichen Fragen auf. Im Verbandsbezirk Frankfurt führte man beispielsweise in den Wintermonaten des Jahres 1927 im Rahmen der vorgenannten Maßnahmen 100 Versammlungen und 5 Konferenzen durch. Für die beteiligten Gewerkschaftssekretäre war die Aktion mit erheblichen Strapazen verbunden. Als Redner mußten sie täglich in mehreren Versammlungen auftreten. Die Verkehrsmöglichkeiten waren ungünstig; die Wege mußten vielfach bei schlechter Witterung auf verschneiten Landstraßen zu Fuß zurückgelegt werden.

Die gesellschaftliche Stellung des Gewerkschaftssekretärs war zwiespältig. Nicht selten sah er sich öffentlichen Angriffen ausgesetzt. Man nannte ihn einen Demagogen und Unruhestifter, ,,der von den Arbeitergroschen lebe". Andererseits bestand Klarheit darüber, daß die Arbeiter ohne die Gewerkschaften und ihre Funktionäre relativ wehrlos den Manipulationen der Arbeitgeber ausgesetzt waren. Die Bezahlung der Gewerkschaftssekretäre stand in keinem Verhältnis zu Leistung und Aufwand. Im christlichen Bauarbeiterverband richtete sich ihre Besoldung nach dem Stundenlohn der Maurer. Das Monatsgehalt des Lokalbeamten setzte sich aus 230 Maurerstundenlöhnen und einem zehnprozentigen Zuschlag zusammen. Der Bezirksleiter erhielt bei gleicher Stundenzahl einen dreißigprozentigen und die angestellten Mitglieder des Hauptvorstandes einen fünfzigprozentigen Zuschlag. Die Reisespesen lagen niedrig. Als Beispiel hierfür diene die Tatsache, daß ein Sekretär in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, der eine das gesamte Verbandsgebiet umfassende Tätigkeit ausübte und viel auf Reisen war, Tagesspesen von 4 bis 5 Mark hatte, wozu noch die Übernachtungskosten in einem Gasthof kamen. Versammlungsspesen wurden mitunter groschenweise geltend gemacht.

Franz Leuninger war kurze Zeit Sekretär in Euskirchen und übernahm dann das Verbandssekretariat in Krefeld. Von dort erfolgte im Jahre 1927 seine Versetzung nach Breslau, wo er

- noch nicht 30 Jahre alt - als Bezirksleiter für den ganzen schlesischen Raum wirkte. Hier entfaltete er eine beachtliche Aktivität. Dies soll durch einige Veröffentlichungen im Verbandsorgan "Die Baugewerkschaft", deren Mitarbeiter er war, belegt sein.

Er sah die Gleichberechtigung und Gleichachtung insbesondere des Handarbeiters in Wirtschaft und Gesellschaft auch im Jahre 1929 als noch nicht gegeben. In einem Aufsatz unter der Überschrift ,,Jedem das Seine" schrieb er:

,,Es gibt viele Leute, welche auf Grund der Tatsache, daß einige Arbeiterführer Minister, Polizei-, Ober- und Regierungspräsidenten oder Landräte geworden sind, die Auffassung vertreten, die Arbeiterschaft habe die Gleichberechtigung und Gleichachtung erlangt, oder sie sei diesem Ziele wesentlich näher gekommen. Dieser Auffassung muß entschieden widersprochen werden. Gewiß hat der gewerkschaftliche Zusammenschluß uns im Laufe der Zeit den anderen Ständen gegenüber ein gewisses Ansehen verschafft, teilweise fürchtet man uns sogar. Aber das kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der körperlichen Arbeit noch lange nicht der Wert zugemessen wird, der ihr gebührt... Die Gewinne aus der Tätigkeit des Arbeiters fließen in stärkstem Maße auch heute noch denen zu, die mit der körperlichen Arbeit wenig oder gar nichts zu tun haben.

Diese Zustände erzeugen verständlicherweise bei dem Arbeiter ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl und den Gedanken, er sei ein Mensch zweiter Klasse. Das zeigt sich denn auch auf den Arbeitsstellen. Demütig, unterwürfig, sucht man sich die Gunst des Vorgesetzten und Arbeitgebers zu erhalten. Wo klare Rechte sind, werden diese nicht gefordert, sondern man bittet, denkt nicht daran, daß der Arbeitgeber auch auf den Arbeiter angewiesen ist, nicht nur der Arbeiter auf den Arbeitgeber.

Der Weg, den die Arbeiterschaft noch zu gehen hat, wird steil und steinig sein. Andere Stände sind ihn vor uns gegangen und haben es geschafft. Was sie erreichten, wird auch der vierte Stand - die Lohnarbeiterschaft - erreichen, wenn er den ernsten Willen dazu hat."

In der ihm eigenen Art setzte er sich auch mit den sozialistischen Gewerkschaften auseinander, zumal dann, wenn diese aus parteipolitischen Gründen die gewerkschaftliche Linie verließen. Das zeigt ein Rundschreiben, das er als Bezirksleiter von Breslau an die Vorstandsmitglieder und Vertrauensleute seines Bezirks richtete. Hier ein Auszug:

,,Am 21. 8.1929 hat der sozialdemokratische Arbeitsminister im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstages seine Abänderungsvorschläge für die Arbeitslosenversicherung vorgelegt. Was Wissel verlangt, ist schlimmer als das, was wir befürchtet haben.

Nach seinem Vorschlag sollen die Bauarbeiter, welche keine 50 Wochen an einem Stück gearbeitet haben - und das sind doch alle - noch niedrigere Unterstützung bekommen, als die Krisenfürsorge vorsieht.

Für die Ledigen soll eine verkürzte Wartezeit Platz greifen, und als Drittes... eine verkappte Prüfung der Bedürftigkeit der Bauarbeiter.

Wir werden nichts unversucht lassen, um das Schlimmste abzuwehren und unsere Mitglieder vor der Verelendung zu schützen..."

Dieses Rundschreiben, das noch einige Angriffe auf den Arbeitsminister enthielt, führte zu einer heftigen Reaktion der sozialdemokratischen Tagespresse Schlesiens und auch des Organs des Sozialdemokratischen Bauarbeiterverbandes ,,Der Grundstein", auf Franz Leuninger. Darauf antwortete er wie folgt in dem Verbandsorgan "Die Baugewerkschaft":

,,Für mich kommt es nicht darauf an, welcher Partei der Arbeitsminister angehört, sondern entscheidend ist für mich, was er tut. Wollt Ihr vielleicht das decken, was Wissel während seiner Amtszeit getan hat? Ich nicht! Wohin sollte es kommen, wenn wir als gewerkschaftliche Organisation nicht mehr den Mut aufbrächten, gegen einzelne politische Parteien Stellung zu nehmen. Wenn der ,Grundstein' meint, ich sei ein verbissener Gegner der Sozialdemokratie und ein eingeschriebenes Mitglied der Zentrumspartei' so ist das seine Sache. Ich habe keine Ursache, ihm gegenüber ein politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich kann ihm aber sagen, daß ich in erster Linie Gewerkschaftler bin und im gegebenen Falle auch gegen die Parteien ins Feld ziehen werde, welchen ich politisch nahestehe..."

Aber auch im engeren gewerkschaftlichen Bereich, nämlich in der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern, zeigte er Mut und Entschlossenheit. Hiervon gibt Zeugnis ein Lohnstreik, den er mit den schlesischen Bauarbeitern im November 1932 - wahrscheinlich einer der letzten Lohnstreiks der Bauarbeiter überhaupt vor der Hitlerherrschaft - führte. Dabei ging es nicht um Lohnerhöhungen, sondern die Arbeitgeber forderten einen Abbau der Stundenlöhne in der Höhe von 15 bis 27 Prozent. Die Gewerkschaften drohten mit Streik, was die Arbeitgeber ironisch beantworteten mit der Bemerkung, daß für einen streikenden Bauarbeiter zehn andere zur Stelle seien. In der Tat herrschte damals unter den schlesischen Bauarbeitern eine große Arbeitslosigkeit. Vor den Toren Breslaus gab es Orte, in denen Hunderte von ihnen zwei Jahre und länger ohne Arbeit waren. Auf diese zählten die Arbeitgeber. In Tageszeitungen suchten sie Bauarbeiter, denen sie einen Stundenlohn von 80 Pfennig anboten, während der Tariflohn 92 Pfennig betrug.

Als die Tarifverhandlungen scheiterten, forderten die Arbeitgeberverbände ihre Mitglieder auf, ab 1. November 1932 allgemein den Stundenlohn auf 80 Pfennig zu senken. Im Falle einer Nichtbefolgung wurden hohe Verbandsstrafen angedroht und in der Tat auch auferlegt. Unter diesem Umständen zahlten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Arbeitgeber den herabgesetzten Lohn.

Trotz aller Bedenken hinsichtlich der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt, riefen die Gewerkschaften zum Streik auf. Die Solidarität der Bauarbeiter, ihr Geschick und ihre Ausdauer zeitigten den angestrebten Erfolg. Franz Leuninger konnte berichten:

,,Wir haben den Kampf gewonnen. Alle Unternehmer, welche Arbeit haben, verpflichten sich, bis zum 31. März 1933 die vor dem 31. Oktober 1932 geltenden Löhne zu zahlen."

Das Arbeitsgebiet des Gewerkschaftssekretärs verlangte von diesem härtesten Einsatz. Was die christlichen Gewerkschaften von ihnen erwarteten, formulierte Adam Stegerwald - ihr profiliertester Führer - in der Jubiläumsfestschrift ,,25 Jahre christliche Gewerkschaften" 1924 folgendermaßen:

,,Die Arbeiterbewegung ist keine nur wirtschaftliche Angelegenheit. Sie hat vielmehr den religiösen Bedürfnissen der Arbeiterschaft mit großem Verständnis zu begegnen und diese weitgehend zu unterstützen. Aus diesem Grund ist insbesondere zu verlangen, daß die Angestellten der christlichen Gewerkschaften sorgfältig ausgewählt werden. Sie müssen eine gründliche Ausbildung erfahren, sich als Charaktere und Persönlichkeiten erweisen, im privaten und öffentlichen Leben sich als praktizierende Christen bestätigen, mit den Vertretern der Religionsgemeinschaften ein gutes Verhältnis aufrechterhalten und pflegen, den konfessionellen Vereinen Verständnis entgegenbringen, sie fördern usw."

Die Sekretäre des christlichen Bauarbeiterverbandes entsprachen weitgehend den Vorstellungen Stegerwalds. Mögliche Mängel ihres Bildungsgrades kann man ihnen nicht anlasten. Diese waren in den seltensten Fällen in der Person, sondern in der Widrigkeit der Verhältnisse begründet. Als junge Männer kamen sie vielfach von einer ländlichen Volksschule in die städtischen und industriellen Bereiche. Ihre Situation ließ selten eine geordnete Berufsausbildung zu. Mühsam mußten sie sich, meist direkt vom Arbeitsplatz kommend, in die Funktionen eines Gewerkschaftssekretärs einarbeiten. Aber sie schafften es, sie wurden keine Versager, weil sie Persönlichkeiten waren.

Bei den Bauarbeitern in Schlesien

H

Hierüber schreibt sein Freund und Mitarbeiter Franz Heisig aus Neustadt in Oberschlesien:

,,Wenige Wochen, nachdem Franz Leuninger im christlichen Bauarbeiterverband Bezirksleiter für Schlesien geworden war, kam er auch zu uns nach Neustadt/OS., um in einer Mitgliederversammlung zu sprechen. Die Versammlung war außerordentlich gut besucht, denn jeder wollte den neuen Bezirksleiter sehen und kennenlernen. Wir wußten von ihm nur, daß er aus Westdeutschland kam. Die Erwartung war um so größer, weil mitunter Redner von dort eine gewisse Überlegenheit uns gegenüber in den Vorträgen und auch in der Unterhaltung zu demonstrieren suchten. Es mußte ein tüchtiger Kollege sein, denn sonst wäre er nicht Bezirksleiter einer so großen Provinz geworden. Auch ich sah dieser Begegnung gespannt entgegen. Ich war Schriftführer und saß mit am Vorstandstisch. Als wir uns die Hand reichten und ansahen, blickte ich in das sympathische Gesicht eines offenen, aufrechten Menschen. In seinen Ausführungen fand ich meinen Eindruck voll bestätigt. Er sprach nicht herablassend, sondern erzählte uns von seiner Heimat, seinen Eltern und den Nöten seiner Jugend. Er kannte unsere Sorgen, und wir spürten seinen Willen, uns zu helfen.

Schon in dieser ersten Versammlung hatte er sich die Achtung und das Vertrauen aller Kollegen erworben, was auch auf den Baustellen in Gesprächen zum Ausdruck kam.

Nach Schluß der Versammlung begleitete ich ihn auf dem Wege zur Bahn. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir vor allem über unsere Bauproduktivgenossenschaft, die sich zu einem beachtlichen Unternehmen entwickelt hatte. Da diese u. a. auch die großen Landarbeitersiedlungen baute, wurden laufend Bauarbeiter eingestellt. Gewerkschaftlich Nichtorganisierte versuchten wir mit Erfolg für den christlichen Bauarbeiterverband zu gewinnen. Bei anders Organisierten vertrat ich - im Gegensatz zu einigen älteren Kollegen - die Auffassung, daß man diese nicht zum Übertritt drängen dürfe. Ich lehnte es nämlich entschieden ab, Menschen, die ihrer inneren Einstellung nach nicht zu uns gehörten, unter Ausnutzung ihrer Notlage in unseren Verband aufzunehmen. Mir kam es auf überzeugte Mitglieder an, wenn auch seitens der sozialistischen Bauarbeiterorganisation anders gehandelt wurde. Franz hörte sich meine Auffassung an, und ich fragte ihn um seine Meinung. Er blieb stehen und erwiderte impulsiv: ,Kollege Heisig, Du hast recht, so geht es nicht, so darf man es nicht machen. So sehr ich Eure Bestrebungen, die Verwaltungsstelle auszubauen, anerkenne und begrüße, darf auf keinen Fall bei der Werbung ein Druck ausgeübt werden. Menschenwürde und freie Gewissensentscheidung sind unantastbar. Wenn wir das nicht achten, von wem sollte man es dann noch erwarten?'

Als ich Franz kennenlernte, war ich noch Vertrauensmann im christlichen Bauarbeiterverband. Auf seine Initiative hin wurde ich im Jahre 1929 Lokalbeamter für den Bereich Neustadt/OS.

Anfänglich hatte ich Bedenken, eine solche Funktion zu übernehmen. Er räumte sie aus und verwies darauf, daß er mich nie für diese Tätigkeit zu gewinnen versucht hätte, wenn meine Eignung nicht gegeben gewesen wäre.

Als Gewerkschaftssekretär kam ich nun oft mit Franz, der mein Bezirksleiter war, zusammen. Wir besuchten in meinem Arbeitsbereich gemeinsam Mitgliederversammlungen, die immer gut besucht waren. In seiner gewinnenden Art sprach er dann zu den Kollegen, die ihn sehr schätzten. In Deutsch-Rasselwitz hatten wir nur 40 Mitglieder, aber unsere Versammlung war gut besucht, denn auch die Gegner waren gekommen. In einer kleinen, aber gut vorbereiteten Rede nahm der Vorsitzende die Eröffnung und Begrüßung vor. Nach der Versammlung begleiteten uns sehr viele Kollegen zum Bahnhof; es war ein kleiner ,Festzug'. Während der Bahnfahrt sprachen wir über unsere Eindrücke von der Versammlung. Franz war besonders von der Ansprache des Vorsitzenden angetan. Er sagte dazu: ,Hast Du gesehen, wie er nach Worten rang, als er von unseren Idealen sprach und uns etwas Liebes sagen wollte. Er ist ein prächtiger Mensch, den auch die anderen Kollegen gern haben.' In Oberglogau hatten sie einmal die alte Gewerkschaftsfahne zur Versammlung mitgebracht, die in einem überfüllten Lokal stattfand. Franz sprach hier über die Arbeit und ihren Wert. Dabei zitierte er die Holzhauer aus Goethes Faust:

Nur Platz, nur Blöße!
Wir brauchen Räume,
Wir fällen Bäume,
die krachen, schlagen;
Und wenn wir tragen,
Da gibt es Stöße.
Zu unserm Lobe
bringt dies ins Reine!

Denn wirkten Grobe
nicht auch im Lande,
wie kämen Feine
für sich zustande
so sehr sie witzten?
Des seid belehret;
Denn ihr erfröret,
wenn wir nicht schwitzten.

Doch nicht nur bei ernsten Anlässen begegneten wir gemeinsam unseren Mitgliedern. Die oberschlesischen Bauarbeiter wußten auch zu feiern. Dann kamen sie mit ihren Frauen und sonstigen Angehörigen zusammen. Es wurde gesungen und getanzt. Froh begrüßten sich alle, und der Bezirksleiter versäumte nie, jedem die Hand zu drücken. So kamen wir auch einmal mit der Kleinbahn zu einem Bauarbeiterfest in einem kleinen oberschlesischen Ort. Der Saal war festlich geschmückt, die Frauen hatten ihre Trachtenkleider angelegt, die Männer waren im Sonntagsstaat. Bis tief in die Nacht hinein erklangen die alten Tanzweisen der Musikkapelle, und wir beide mußten uns bemühen, alle Kollegenfrauen einmal zum Tanz zu führen. Am Ende des Festes ertönte dann ein ernster Choral, der an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern sollte, dem alle stehend und schweigend zuhörten. Dieser alte Brauch beeindruckte Franz sehr.

Als Gewerkschaftsfunktionär lernte ich Franz erst richtig bei den Lohn- und Tarifverhandlungen kennen. Hier war er den anderen Beteiligten weit überlegen. Seine Darlegungen erfolgten mit Sachverstand und Herz und wirkten überzeugend. Er konnte ,aber auch hart und unerbittlich sein, wenn den berechtigten gewerkschaftlichen Forderungen kein Verständnis entgegengebracht wurde. Sehr lag ihm das Geschick der Bauarbeiter und ihrer Familien am Herzen. Ich erinnere mich an ein Rededuell in Gleiwitz mit dem Syndikus des Arbeitgeberverbandes, in welchem seine Worte einen ungewöhnlich scharfen Ton hatten. Sicher und selbstbewußt war seine Rede, Angriffe wies er schlagfertig zurück. Nie hat er in diesen Situationen seine Selbstbeherrschung verloren, nie wurden seine Worte verletzend. Hier zeigte sich seine ganze Persönlichkeit. In diesen Stunden haben wir den Freund bewundert. Auch seine Gegner akzeptierten ihn, das zeigte sich in der Wertschätzung, mit der man ihm allenthalben begegnete.

Und dann kam die Zeit der politischen Wirren. Der Kampf gegen die Gewerkschaften wurde heftiger, die Hetze immer schärfer. Wir trafen uns nur noch gelegentlich, dabei sprachen wir von der ungewissen Zukunft. Als Hitler im Januar 1933 die Herrschaft übernahm, sah Franz die Zerschlagung der Gewerkschaften, die Beseitigung der Demokratie und der freien Meinungsäußerung voraus. ,Wir gehen schweren Zeiten entgegen, wer weiß, was noch wird.' Die Ereignisse gaben ihm recht. Kurz vor der Übernahme unseres Verbandes durch die Nazis sandte er mir noch mein Gehalt mit einem Grußwort an mich und meine Familie.

Franz war uns ein lieber Freund gewesen. Ich bin ihm zu tiefem Dank verpflichtet, denn er hat mir für meine Gewerkschaftsarbeit wie für mein Leben überhaupt viel gegeben. Als mir und meinen Angehörigen die Nachricht von seinem Tode zuging, waren wir tief traurig, so, als ob ein Mitglied der Familie von uns gegangen sei. Seither haben wir immer wieder von ihm gesprochen. Er wird uns unvergessen bleiben."

Offensichtlich hat sich Franz Leuninger mit den Bereichen Schlesiens besonders verbunden gefühlt, die als Grenzland galten und deren Arbeiterbevölkerung in besonders schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebte. Hiermit beschäftigte er sich in einem Aufsatz in der ,,Baugewerkschaft" vom November 1928 eingehend. Darin stellt er folgendes fest:

"Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterschaft in Schlesien entspricht bei weitem nicht der der übrigen deutschen Arbeiterschaft.

Es ist bezeichnend, daß dort Tausende von Frauen mit Schwer- und Schwerstarbeiten beschäftigt werden. Man sieht sie an den Kippwagen der Kalköfen. An den Laderampen der Fabriken laden sie mit den männlichen Arbeitern Kohle und andere Materialien ab. Selbst auf den Ziegeleien, in Sandgruben und bei Straßenbauten sind unzählige Frauen, verheiratete und unverheiratete, beschäftigt.

Bei Löhnen von 45 bis 50 Pfennig pro Stunde, wie sie beispielsweise die Textilarbeiter von Neustadt haben, darf von Hungerlöhnen geredet werden. Aber auch unsere Bauarbeiter haben ein Einkommen, mit dem es nicht möglich ist, die bescheidensten kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen. Besonders schwierig ist die Lage für unsere Kollegen, die nicht jeden Abend zu ihren Familien zurück können und deshalb gezwungen sind, auswärts zu wohnen. Was diesen Arbeitern an Lohn bleibt für den Unterhalt ihrer Familien, sei an nachfolgendem Beispiel gezeigt: Am Staubeckenbau Ottmachau werden die höchsten Tiefbaulöhne Oberschlesiens gezahlt, und zwar 67 Pfennige pro Stunde. Bei 48stündiger Arbeitszeit beträgt das Nettoeinkommen rund 27 Mark pro Woche. Für Logis und ein bescheidenes Essen - ohne Fleisch natürlich -werden pro Woche wenigstens 8 Mark verlangt. Für Fahrgeld und Verbandsbeitrag werden 2,50 Mark gebraucht, so daß, - wenn der Mann keine Pfeife Tabak raucht und kein Glas Bier trinkt, ihm für seine Familie nur noch 16,50 Mark verbleiben. Das traurigste Kapitel in den schlesischen Grenzlanden ist die Wohnungsnot. Während in Großstädten wie Bremen und Bochum auf 100 Wohnungen nur 2,8 bzw. 2,6 Wohnungen mit einem Zimmer kommen, entfallen auf 100 Wohnungen im Waldenburger Gebiet 45 Einzimmerwohnungen. Was für Waldenburg und Umgebung gilt, trifft für weite Teile des Grenzgebietes zu. Wer sich von diesen Verhältnissen nicht selbst durch Augenschein überzeugt, hält sie für unmöglich."

In Breslau pflegte Franz Leuninger besonders gute Beziehungen zum katholischen Gesellenverein. Dort begegnete er auch Leuten vom Bau. Daraus entwickelte sich ein Freundeskreis. Dessen Mitglied, Johannes Beck, Kachelofenmeister, schreibt aus jener Zeit: ,,Als Geselle lernte ich Franz kennen. Es war damals die große Arbeitslosigkeit. Wir erlebten ihn oft in Versammlungen, wobei in bemerkenswerter Weise seine positive katholische Einstellung zum Ausdruck kam. Nach Versammlungsschluß versuchten wir meistens, ihn noch persönlich zu sprechen. Das war nicht so leicht, denn von vielen Seiten wurden Anliegen an ihn herangetragen. Und er hatte für alle Verständnis."

Die Gründe für die Verbundenheit mit dem katholischen Gesellenverein, dem Werk des Schuhmachergesellen und späteren Priesters Adolf Kolping, waren verschiedenartig. Rein äußerlich galt zunächst die Mitgliedschaft und die Tatsache daß er als lediger junger Mann in katholischen Gesellenhäusern gewohnt hat. Letztlich entscheidend mag aber die Achtung gewesen sein, die er den Ideen Adolf Kolpings entgegenbrachte. Er war zwar nicht der wandernde Geselle, dessen leiblicher und seelischer Not Kolping entgegenzuwirken brauchte. Aber als Arbeiter im Baugewerbe erlebte er das karge Dasein in der Fremde, das vergleichbar war mit der Unbill der wandernden Handwerksgesellen jener Zeit. Für ihn war Kolping das, was ein anderer später folgendermaßen formulierte: ,,Ein praktischer, im Religiösen verankerter Volkserzieher, dem es um sittliche Erneuerung der Jugend und um die Rettung des christlichen Familienideals ging."

In diesem Zusammenhang ist auch auf das Verhältnis von Franz Leuninger zur katholischen Arbeiterbewegung hinzuweisen. Besonders in der Zeit, da er als Gewerkschaftssekretär in Krefeld tätig war, stand er zu dieser in einem guten Kontakt. Er gehörte dem katholischen Arbeiterverein seiner Pfarrgemeinde an und war aktiv für die Bewegung tätig. Auch hier zeigte sich seine feste religiöse Überzeugung, so wie sie nach Beck später im katholischen Gesellenverein in Breslau zutage trat. Franz Leuninger wußte sich auch eins im Widerstand mit den Männern aus der katholischen Arbeiterbewegung, wie Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus und vielen anderen.


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