Der politische Weg
m Elternhaus wurde seit jeher das politische Gespräch geführt.
Zwar erlebte man das Tagesgeschehen in dem abseits gelegenen Westerwalddorf
größtenteils am Rande. Die Tageszeitungen erreichten
bis in die Zeit des ersten Weltkrieges hinein nur in wenigen Exemplaren
Mengerskirchen. Das religiöse Schrifttum war etwas stärker
verbreitet, ebenso die Heimatkalender.
Unmittelbare politische Vorgänge waren allerdings die jeweiligen
Gemeindewahlen, die nach dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht
durchgeführt wurden. Diese gesetzliche Regelung, im Jahre
1849 für Preußen getroffen und 1918 aufgehoben, teilte
die Wahlberechtigten in 3 Klassen - je nach Steuerleistung - ein.
Vor dem ersten Weltkrieg gehörten in Preußen 3,80/o
der Wahlberechtigten der ersten, 13,90/0 der zweiten und 82,30/o
der dritten Klasse an. Diese Zahlen auf Mengerskirchen angewandt
bedeutete bei 300 angenommenen Wahlberechtigten, daß von
diesen rund 11 der ersten, rund 42 der zweiten und der Rest von
257 der dritten Klasse angehört hätten. Bei der
Gemeindewahl, bei der 12 Gemeindevertreter zu wählen waren,
fielen den Wahlberechtigten einer jeden Klasse, unabhängig
von der jeweiligen Zahl der Wahlberechtigten, vier Gemeindevertreter
zu. Bei diesen Wahlen ging es in erster Linie um den Bürgermeisterposten.
Interessant war nun dabei, daß die Vertreter der dritten
Klasse bei der Wahl des Bürgermeisters den Ausschlag gaben,
und zwar insofern, daß die Klasse den Bürgermeister
stellte, dem die Drittkläßler ihre Stimmen gaben, und
das war entweder die erste oder zweite Klasse. Auf den Gedanken,
daß auch einmal ein Mann aus der dritten Klasse Bürgermeister
werden könne, ist man zur damaligen Zeit erst gar nicht gekommen.
Allerdings hat das ,,Volk" einmal die Einsetzung eines Bürgermeisters
erzwungen, und zwar in der 1848er Revolution. Nur kurze Zeit hat
aber dieser Mann das Amt bekleidet, denn mit der Einführung
des Dreiklassenwahlrechts im Jahre 1849 machten die begüterten
Bürger ihren Anspruch, den Bürgermeister zu bestimmen,
wieder mit Erfolg geltend. Dieses Wahlrecht war auch für
andere politische Wahlen in Preußen gültig.
Es ist nur zu verständlich, wenn die Familie, zu der Franz
Leuninger gehörte und deren Vater auch Drittkläßler
war, diese Ordnung ablehnte. Das entsprach ihrem Selbstbewußtsein
und der Erkenntnis, daß nicht Reichtum und Besitz die bestimmenden
Kräfte im politischen Leben eines Volkes sein können.
Indessen stand man in äußerster Konsequenz all jenen
Bestrebungen entgegen, die unter Mißachtung christlicher
Grundsätze eine neue Ordnung, sei es mit Gewalt oder auch
auf legalem Wege, herbeizuführen suchten. Die Grundlage hierfür
lag in der religiösen Atmosphäre und den Erkenntnissen,
die katholische Einrichtungen vermittelten. Hier ist vor allem
der im Jahre 1890 gegründete Volksverein für das katholische
Deutschland zu nennen, der sich die politische, soziale und kulturelle
Belehrung und Erziehung seiner Mitglieder zur Aufgabe gemacht
hatte. Sein Ziel war es, ,,Irrtümer und Umsturzbestrebungen
auf sozialem Gebiet zu bekämpfen". Der Verfasser erinnert
sich noch gut an die belehrenden Schriften des Vereins, die durch
einen Vertrauensmann in das Elternhaus gebracht wurden und deren
Inhalt allseits großes Interesse fand.
Im übergemeindlichen Raum zählte sich die Familie zum
Zentrum, jener Partei, die bereits in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und durch Fraktionen
im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag vertreten
war. Die Wähler des Zentrums rekrutierten sich vorwiegend
aus dem katholischen Volksteil, und zwar aus allen Bevölkerungsschichten.
Große Teile der in den christlichen Gewerkschaften organisierten
Arbeitnehmer waren Zentrumsanhänger. Führende Gewerkschaftler
gehörten als Zentrumsabgeordnete verschiedenen Parlamenten
und nach 1918 vielen Regierungen an. Das weitgehend übereinstimmende
christlich-soziale Gedankengut beider Institutionen war das Bindeglied.
In dem rein katholischen Mengerskirchen war die Zentrumspartei
immer dominierend. Bei der Wahl zur Nationalversammlung im Jahre
1919 wurden dort für sie über 90% der Stimmen
abgegeben. Gewiß war dabei der katholische Charakter der
Partei mitbestimmend, zumal der Kulturkampf in Preußen in
der Zeit nach dem Krieg 1870/71 noch nicht vergessen war,
in dessen Rahmen man den Bischof von Limburg, zu dessen Diözese
Mengerskirchen gehörte, abgesetzt hatte und der dann viele
Jahre in der Verbannung leben mußte. Auf der anderen Seite
hielten es die Katholiken mit ihrer religiösen Haltung nicht
für vereinbar, liberale oder sogar atheistisch-marxistische
Parteien zu wählen.
Hinter dieser Haltung verbarg sich alles andere als ein enger
Horizont, sondern ein großes politisches Verantwortungsgefühl.
Das bezieht sich vor allem auch auf die Arbeiter in Mengerskirchen,
die auf den Arbeitsplätzen in den Großstädten
und Industriegebieten mit den Nöten der Zeit und auch mit
den sozialistischen Anschauungen konfrontiert wurden. In Versammlungen
und durch die Lektüre ihrer Gewerkschaftszeitungen hatten
sie sich ein beachtliches politisches Urteilsvermögen angeeignet.
Das war die politische Atmosphäre, in der Franz Leuninger
heranwuchs und sich entfaltete. Dazu kamen noch die persönlichen
Erlebnisse in jungen Jahren. Es entwickelte sich bei ihm ein gesundes
nationales Denken, wenn auch in seiner Heimat bei der damaligen
älteren Generation die Abneigung gegen den militanten preußischen
Geist spürbar war, was nicht nur auf der Auflösung des
Herzogtums Nassau und seine Umwandlung in eine preußische
Provinz beruhte. Die letzten Spuren dieser Haltung wurden jedoch
durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges verwischt. Noch nicht
16 Jahre alt, wollte sich Franz Leuninger damals als Kriegsfreiwilliger
melden, was die Eltern allerdings verhinderten. Aber zwei Jahre später mußte
er Soldat werden und kam nach kurzer Ausbildung an die Westfront.
Frühzeitig erhielt er eine Kriegsauszeichnung und wurde bald
zum Unteroffizier befördert. Nach dem Zusammenbruch der Front
kehrte er zu Ende des Jahres 1918 in sein Elternhaus zurück.
Dort traf er zu mitternächtlicher Stunde ein. Unter Tränen
meinte er, das deutsche Heer hätte wenigstens an den Grenzen
halten und den Feind abwehren müssen.
Indessen fühlte er sich mit der monarchistischen Staatsform
nicht kritiklos verbunden und fand bald ein Verhältnis zur
neuen Ordnung. Der Raum für sein politisches Denken und Handeln
wurde die Zentrumspartei, deren Mitglied er war. Noch einmal stand
er im aktiven Einsatz für sein Volk, und zwar im Rahmen des
sogenannten Ruhrkampfes im Jahre 1923. Damals besetzte Frankreich
ohne Rechtsgrundlage das Ruhrgebiet als Sanktionsmaßnahme
im Zusammenhang mit den von Deutschland auf Grund des Versailler
Vertrages zu leistenden Reparationen. Diese Maßnahme stieß
auf passiven und aktiven Widerstand des gesamten Volkes. Als junger
Gewerkschaftssekretär in Euskirchen beteiligte sich Franz
Leuninger an diesem Widerstand und mußte sich deshalb einer
Verhaftung durch die französischen Militärbehörden
durch Flucht aus dem besetzten Gebiet entziehen.
Es ist schon früher erwähnt worden, daß die christlichen
Gewerkschaften ein gesundes nationales Denken pflegten. Hierzu
sagte Elfriede Nebgen: ,,Zur Tradition der christlichen Gewerkschaften
gehörte (nun einmal) das Bekenntnis zur natürlichen
Verbundenheit mit dem eigenen Volk." So und nicht anders
war die nationale Gedankenwelt Franz Leuningers, die er in persönlichen
Gesprächen und auch in der Öffentlichkeit bekundete,
wobei es ihm vor allem auf eine würdige Eingliederung der
Arbeiterschaft in unser Volk ankam.
Zur vollen politischen Wirksamkeit kam er im Rahmen seiner Tätigkeit
als Bezirksleiter des christlichen Bauarbeiterverbandes in Schlesien.
In Breslau war er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, Deputierter
in der Baudeputation beim Magistrat und Angehöriger sonstiger
kommunaler Institutionen. August Weimer sagt über diese Tätigkeit:
, überall war er der erfolgreiche und in gewissen Kreisen
auch gefürchtete Vertreter der Menschen, die immer um den
Platz an der Sonne kämpfen müssen. Er fühlte sich
als Anwalt des ,Kleinen Mannes'." Bei den letzten Reichtstagswahlen
im Jahre 1932 kandidierte er für die Zentrumspartei Schlesiens.
Seine politische Haltung war nicht eng von der eigenen Partei
bestimmt. Im Mittelpunkt stand immer das ganze Volk. Schwer belastete
ihn dessen Schicksal in den Notjahren vor 1933. Im Neujahrsartikel
seiner Verbandszeitschrift vom 3.1.1931 bringt er zunächst
ein Zitat:,,Die Zukunft noch ein festverschlossenes Buch, von
ahnungsvollem Grauen bang umwittert" und setzt sich dann
mit den Reparationslasten und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen
auf unser Volk auseinander, wobei er der Arbeitslosigkeit und
dem Kampf um das Tarifvertragsrecht besondere Beachtung schenkt.
Scharf wies er die Äußerung eines Landgutführers
in einer Bauernversammlung zurück, die lautete: ,,Die Arbeiterschaft
ist der einzige Stand, welcher von den Folgen des Krieges noch
nichts gespürt hat." Diesen Worten setzt er folgendes
entgegen:
In einem weiteren Aufsatz des gleichen Jahres geißelt er
scharf die Auswüchse des politischen Kampfes, die er für
ein Unglück hielt, und sagte dazu:
Indessen ging das deutsche Schicksal seinen Weg. Franz Leuninger
hat bis zur letzten Stunde vor dem Nationalsozialismus gewarnt.
Vor allem als Reichstagskandidat im Wahlkampf zur Wahl im November
des Jahres 1932. Es mutet fast seherisch an, daß er in einer
Wahlversammlung im Glatzer Bergland, wie von einem Versammlungsteilnehmer
bekundet wurde, sagte, in diesem Bereich würden alle ihre
Heimat verlieren, wenn Adolf Hitler zur Macht komme. Seine Ahnung
wurde von den späteren Ereignissen noch weit übertroffen.
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