Franz Leuninger zum Gedenken

Die Eltern
Die Eltern von Franz Leuninger. Der Vater lehnte das seinerzeit noch geltende Dreiklassenwahlrecht ab. Danach gehörte er zu den Drittkläßlern.

Der politische Weg

I

m Elternhaus wurde seit jeher das politische Gespräch geführt. Zwar erlebte man das Tagesgeschehen in dem abseits gelegenen Westerwalddorf größtenteils am Rande. Die Tageszeitungen erreichten bis in die Zeit des ersten Weltkrieges hinein nur in wenigen Exemplaren Mengerskirchen. Das religiöse Schrifttum war etwas stärker verbreitet, ebenso die Heimatkalender.

Unmittelbare politische Vorgänge waren allerdings die jeweiligen Gemeindewahlen, die nach dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht durchgeführt wurden. Diese gesetzliche Regelung, im Jahre 1849 für Preußen getroffen und 1918 aufgehoben, teilte die Wahlberechtigten in 3 Klassen - je nach Steuerleistung - ein. Vor dem ersten Weltkrieg gehörten in Preußen 3,80/o der Wahlberechtigten der ersten, 13,90/0 der zweiten und 82,30/o der dritten Klasse an. Diese Zahlen auf Mengerskirchen angewandt bedeutete bei 300 angenommenen Wahlberechtigten, daß von diesen rund 11 der ersten, rund 42 der zweiten und der Rest von 257 der dritten Klasse angehört hätten. Bei der Gemeindewahl, bei der 12 Gemeindevertreter zu wählen waren, fielen den Wahlberechtigten einer jeden Klasse, unabhängig von der jeweiligen Zahl der Wahlberechtigten, vier Gemeindevertreter zu. Bei diesen Wahlen ging es in erster Linie um den Bürgermeisterposten. Interessant war nun dabei, daß die Vertreter der dritten Klasse bei der Wahl des Bürgermeisters den Ausschlag gaben, und zwar insofern, daß die Klasse den Bürgermeister stellte, dem die Drittkläßler ihre Stimmen gaben, und das war entweder die erste oder zweite Klasse. Auf den Gedanken, daß auch einmal ein Mann aus der dritten Klasse Bürgermeister werden könne, ist man zur damaligen Zeit erst gar nicht gekommen. Allerdings hat das ,,Volk" einmal die Einsetzung eines Bürgermeisters erzwungen, und zwar in der 1848er Revolution. Nur kurze Zeit hat aber dieser Mann das Amt bekleidet, denn mit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts im Jahre 1849 machten die begüterten Bürger ihren Anspruch, den Bürgermeister zu bestimmen, wieder mit Erfolg geltend. Dieses Wahlrecht war auch für andere politische Wahlen in Preußen gültig.

Es ist nur zu verständlich, wenn die Familie, zu der Franz Leuninger gehörte und deren Vater auch Drittkläßler war, diese Ordnung ablehnte. Das entsprach ihrem Selbstbewußtsein und der Erkenntnis, daß nicht Reichtum und Besitz die bestimmenden Kräfte im politischen Leben eines Volkes sein können.

Indessen stand man in äußerster Konsequenz all jenen Bestrebungen entgegen, die unter Mißachtung christlicher Grundsätze eine neue Ordnung, sei es mit Gewalt oder auch auf legalem Wege, herbeizuführen suchten. Die Grundlage hierfür lag in der religiösen Atmosphäre und den Erkenntnissen, die katholische Einrichtungen vermittelten. Hier ist vor allem der im Jahre 1890 gegründete Volksverein für das katholische Deutschland zu nennen, der sich die politische, soziale und kulturelle Belehrung und Erziehung seiner Mitglieder zur Aufgabe gemacht hatte. Sein Ziel war es, ,,Irrtümer und Umsturzbestrebungen auf sozialem Gebiet zu bekämpfen". Der Verfasser erinnert sich noch gut an die belehrenden Schriften des Vereins, die durch einen Vertrauensmann in das Elternhaus gebracht wurden und deren Inhalt allseits großes Interesse fand.

Im übergemeindlichen Raum zählte sich die Familie zum Zentrum, jener Partei, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und durch Fraktionen im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag vertreten war. Die Wähler des Zentrums rekrutierten sich vorwiegend aus dem katholischen Volksteil, und zwar aus allen Bevölkerungsschichten. Große Teile der in den christlichen Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer waren Zentrumsanhänger. Führende Gewerkschaftler gehörten als Zentrumsabgeordnete verschiedenen Parlamenten und nach 1918 vielen Regierungen an. Das weitgehend übereinstimmende christlich-soziale Gedankengut beider Institutionen war das Bindeglied.

In dem rein katholischen Mengerskirchen war die Zentrumspartei immer dominierend. Bei der Wahl zur Nationalversammlung im Jahre 1919 wurden dort für sie über 90% der Stimmen abgegeben. Gewiß war dabei der katholische Charakter der Partei mitbestimmend, zumal der Kulturkampf in Preußen in der Zeit nach dem Krieg 1870/71 noch nicht vergessen war, in dessen Rahmen man den Bischof von Limburg, zu dessen Diözese Mengerskirchen gehörte, abgesetzt hatte und der dann viele Jahre in der Verbannung leben mußte. Auf der anderen Seite hielten es die Katholiken mit ihrer religiösen Haltung nicht für vereinbar, liberale oder sogar atheistisch-marxistische Parteien zu wählen.

Hinter dieser Haltung verbarg sich alles andere als ein enger Horizont, sondern ein großes politisches Verantwortungsgefühl. Das bezieht sich vor allem auch auf die Arbeiter in Mengerskirchen, die auf den Arbeitsplätzen in den Großstädten und Industriegebieten mit den Nöten der Zeit und auch mit den sozialistischen Anschauungen konfrontiert wurden. In Versammlungen und durch die Lektüre ihrer Gewerkschaftszeitungen hatten sie sich ein beachtliches politisches Urteilsvermögen angeeignet.

Das war die politische Atmosphäre, in der Franz Leuninger heranwuchs und sich entfaltete. Dazu kamen noch die persönlichen Erlebnisse in jungen Jahren. Es entwickelte sich bei ihm ein gesundes nationales Denken, wenn auch in seiner Heimat bei der damaligen älteren Generation die Abneigung gegen den militanten preußischen Geist spürbar war, was nicht nur auf der Auflösung des Herzogtums Nassau und seine Umwandlung in eine preußische Provinz beruhte. Die letzten Spuren dieser Haltung wurden jedoch durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges verwischt. Noch nicht 16 Jahre alt, wollte sich Franz Leuninger damals als Kriegsfreiwilliger melden, was die Eltern allerdings verhinderten. Aber zwei Jahre später mußte er Soldat werden und kam nach kurzer Ausbildung an die Westfront. Frühzeitig erhielt er eine Kriegsauszeichnung und wurde bald zum Unteroffizier befördert. Nach dem Zusammenbruch der Front kehrte er zu Ende des Jahres 1918 in sein Elternhaus zurück. Dort traf er zu mitternächtlicher Stunde ein. Unter Tränen meinte er, das deutsche Heer hätte wenigstens an den Grenzen halten und den Feind abwehren müssen.

Indessen fühlte er sich mit der monarchistischen Staatsform nicht kritiklos verbunden und fand bald ein Verhältnis zur neuen Ordnung. Der Raum für sein politisches Denken und Handeln wurde die Zentrumspartei, deren Mitglied er war. Noch einmal stand er im aktiven Einsatz für sein Volk, und zwar im Rahmen des sogenannten Ruhrkampfes im Jahre 1923. Damals besetzte Frankreich ohne Rechtsgrundlage das Ruhrgebiet als Sanktionsmaßnahme im Zusammenhang mit den von Deutschland auf Grund des Versailler Vertrages zu leistenden Reparationen. Diese Maßnahme stieß auf passiven und aktiven Widerstand des gesamten Volkes. Als junger Gewerkschaftssekretär in Euskirchen beteiligte sich Franz Leuninger an diesem Widerstand und mußte sich deshalb einer Verhaftung durch die französischen Militärbehörden durch Flucht aus dem besetzten Gebiet entziehen.

Es ist schon früher erwähnt worden, daß die christlichen Gewerkschaften ein gesundes nationales Denken pflegten. Hierzu sagte Elfriede Nebgen: ,,Zur Tradition der christlichen Gewerkschaften gehörte (nun einmal) das Bekenntnis zur natürlichen Verbundenheit mit dem eigenen Volk." So und nicht anders war die nationale Gedankenwelt Franz Leuningers, die er in persönlichen Gesprächen und auch in der Öffentlichkeit bekundete, wobei es ihm vor allem auf eine würdige Eingliederung der Arbeiterschaft in unser Volk ankam.

Zur vollen politischen Wirksamkeit kam er im Rahmen seiner Tätigkeit als Bezirksleiter des christlichen Bauarbeiterverbandes in Schlesien. In Breslau war er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, Deputierter in der Baudeputation beim Magistrat und Angehöriger sonstiger kommunaler Institutionen. August Weimer sagt über diese Tätigkeit: , überall war er der erfolgreiche und in gewissen Kreisen auch gefürchtete Vertreter der Menschen, die immer um den Platz an der Sonne kämpfen müssen. Er fühlte sich als Anwalt des ,Kleinen Mannes'." Bei den letzten Reichtstagswahlen im Jahre 1932 kandidierte er für die Zentrumspartei Schlesiens.

Seine politische Haltung war nicht eng von der eigenen Partei bestimmt. Im Mittelpunkt stand immer das ganze Volk. Schwer belastete ihn dessen Schicksal in den Notjahren vor 1933. Im Neujahrsartikel seiner Verbandszeitschrift vom 3.1.1931 bringt er zunächst ein Zitat:,,Die Zukunft noch ein festverschlossenes Buch, von ahnungsvollem Grauen bang umwittert" und setzt sich dann mit den Reparationslasten und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen auf unser Volk auseinander, wobei er der Arbeitslosigkeit und dem Kampf um das Tarifvertragsrecht besondere Beachtung schenkt. Scharf wies er die Äußerung eines Landgutführers in einer Bauernversammlung zurück, die lautete: ,,Die Arbeiterschaft ist der einzige Stand, welcher von den Folgen des Krieges noch nichts gespürt hat." Diesen Worten setzt er folgendes entgegen:

"Die Arbeiterschaft will, das muß auch am Anfang dieses Jahres klar und deutlich gesagt werden, keine Sonderstellung innerhalb des Staats- und Volkslebens. Was sie will, ist Arbeit und durch ihre Arbeit den angemessenen Lebensunterhalt für ihre Familien. Dazu Gleichberechtigung und Gleichachtung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft."

Zur innenpolitischen Lage äußert er sich so:

"Möge vor allem in unserem tiefgeprüften Land der unselige Bruderkampf, wie er leider im Jahre 1930 geführt wurde, im Jahre 1931 aufhören. Die jüngste Vergangenheit hat doch schlagend bewiesen, daß wir nur als Gesamtvolk aufsteigen oder als Gesamtvolk untergehen können. Hoffentlich führt die Not, von der gesagt wird, daß sie zusammenführt, auch das deutsche Volk endlich zusammen. Wir als christliche Arbeiter wollen auch hier helfen, soweit wir dazu in der Lage sind. Mit dem Glauben an das deutsche Volk verbinden wir die Hoffnung an eine bessere Zukunft. Wir glauben an unser Volk und hoffen auf die Zukunft, weil wir Volk und Vaterland lieben."

In einem weiteren Aufsatz des gleichen Jahres geißelt er scharf die Auswüchse des politischen Kampfes, die er für ein Unglück hielt, und sagte dazu:

"Eine radikale Abkehr von dem bisherigen Weg ist notwendig. Der Revolver, der Dolch und der Schlagring müssen aus dem politischen Kampf verschwinden. Es sind doch schließlich alles deutsche Volksgenossen, welche tagtäglich verbluten. Mögen sie von der Schutzpolizei, von der Linken oder Rechten oder aus unpolitischen Kreisen stammen. Das Menschenleben, das fast wertlos geworden ist bei uns, muß wieder höher in Kurs kommen. Der Arbeiterschaft sollte ganz besonders die Tatsache zu denken geben, daß in der Regel sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten ihre Standesgenossen es sind, welche von den politischen Drahtziehern in den Tod gehetzt werden."

Indessen ging das deutsche Schicksal seinen Weg. Franz Leuninger hat bis zur letzten Stunde vor dem Nationalsozialismus gewarnt. Vor allem als Reichstagskandidat im Wahlkampf zur Wahl im November des Jahres 1932. Es mutet fast seherisch an, daß er in einer Wahlversammlung im Glatzer Bergland, wie von einem Versammlungsteilnehmer bekundet wurde, sagte, in diesem Bereich würden alle ihre Heimat verlieren, wenn Adolf Hitler zur Macht komme. Seine Ahnung wurde von den späteren Ereignissen noch weit übertroffen.

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