Wiesbadener Kurier vom 11. September 1986

Ein Pfarrer hungert und ein Minister wütet

Protest gegen Zeitstadt im Schwalbacher Asylantenlager
Solidarität mit Herbert Leuninger

Von unserem Redaktionsmitglied CHRISTOPH RISCH

SCHWALBACH Schmerzen hat er nicht, noch nicht einmal Hungergefühle. Lediglich Anzeichen von Schwäche lassen Pfarrer Herbert Leuninger erkennen, daß sein Körper beginnt, auf den am vergangenen Sonntag begonnenen Hungerstreik zu reagieren. Unter dem Bett im Zelt Nummer 3 eine Wasserflasche - Flüssigkeit ist das einzige, was der katholische Geistliche zu sich nehmen will, solange die Zelte im Asylantenlager von Schwalbach stehen. Vor wenigen Wochen sah sich Hessens Sozialminister Armin Clauss gezwungen, die Zeltstadt aufbauen zu lassen. Das Lager, so seine Begründung, quelle über. 350 Plätze gibt es in den Wohnbaracken, gestern waren 464 Asylbewerber registriert. Mehr als 100 müssen zur Zeit mit einem Platz im Zelt vorlieb nehmen. Pfarrer Leuninger: "Ein Skandal!'

Als Ausländerreferent in der bischöflichen Verwaltung von Limburg kennt er die Probleme, die Ausländer in der Bundesrepublik haben. Vor einem Jahr bat er den Bischof, nur noch mit halber Kraft für das Referat tätig sein zu müssen. Die andere Hälfte stellt er seitdem voll und ganz den Kreisen zur Verfügung, die sich um Asylbewerber kümmern. In Hofheim schloß sich Herbert Leuninger der örtlichen Gruppierung von Pax Christi, der internationalen katholischen Friedensbewegung, an. Diese Hungeraktion hat der Geistliche nicht mit seinem Bischof abgesprochen, er weiß ihn aber hinter sich: "Da besteht völlige Identität!" Bischof Franz Kamphaus hat sich in der jüngsten Vergangenheit wiederholt für die Asylbewerber in der Bundesrepublik stark gemacht. Das gibt Pfarrer Leuninger die Gewißheit, daß er die Rückendeckung des Bischofs hat.

Schwierigkeiten hat er dagegen mit den weltlichen Oberen, speziell mit Sozialminister Armin Clauss. Der Sozialdemokrat schrieb dem Geistlichen "verwundert und betroffen" einen Brief, in dem er vor allem einmal zurückwies, die Unterbringung in Zelten sei menschenunwürdig: "Dem muß ich mit allem Nachdruck widersprechen!" Für Herbert Leuninger sind es weniger die nachts immer wieder mit einem Heidenlärm anspringenden Ölbrenner der Heizgebläse, die stören. Sicher könne man in den Zelten einigermaßen überleben. Nicht der Unbequemlichkeiten wegen lehnt er die Zeltstadt ab, sondern wegen des fatalen Eindrucks, den sie erweckt. Leuninger: "Damit soll doch gezeigt werden: Das Boot ist voll, wir können keine Asylbewerber mehr verkraften. Und die Zelte machen deutlich, daß diese Menschen nicht dieselben Ansprüche stellen können wie wir!"

Weil hier überdeutlich werde, wie die politische und soziale Kultur in diesem Land zerfalle, sehe er sich zu dieser Aktion gezwungen. Und die Aufforderung des Sozialministers, die Kirche solle sich doch gefälligst um Plätze für Asylbewerber kümmern, anstatt durch einen Hungerstreik den Betrieb im Lager zu stören, kann Leuninger überhaupt nicht verstehen: "Das ist das typische Argument konservativer und reaktionärer Politiker, die von der Verantwortung der Politik ablenken möchten!"

Was den Geistlichen stark macht, ist die Solidarität über alle Konfessionsgrenzen hinweg, die er bei seiner Aktion erfährt. Dutzende von Menschen besuchen ihn täglich, viele Asylbewerber darunter. Gerade deren Anteilnahme bewegt ihn, sehen doch die - zumeist nichtchristlichen - Ausländer in ihm nicht den katholischen Pfarrer, sondern einen, der zu ihnen gehört, der bereit ist, ihre Strapazen mit zu ertragen. Eine Flüchtlingsfrau aus Eritrea bat ihn, den Hungerstreik abzubrechen. "Wir brauchen Sie doch noch!' Doch gerade deswegen will Herbert Leuninger weitermachen. Seit Dienstag steht er unter ärztlicher Kontrolle, um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen.

Wie lange er den Hungerstreik noch durchstehen kann, das weiß er nicht. Er weiß nur, daß das Vorgehen des Sozialministers und dessen harsche Kritik an dieser Aktion sehr viel mit Wahlkampf zu tun hat. Einschneidende Maßnahmen gegen Asylbewerber als Thema vor den Bundestagswahlen, und das in einem rotgrün regierten Land? Leuninger hält auch das für möglich, hat ihm doch Innenminister Horst Winterstein in diesem Zusammenhang gesagt, daß Politik mit Ethik nicht das geringste zu tun hat. Seit die Zelte in Schwalbach stehen, weiß Herbert Leuninger, was der Minister damit gemeint hat.

Aktion gegen Zelte