Nr. 20, 10. Oktober 1986, Seite 3

Asylsuchende

Gegen Mauerbau und Abschreckung
Die Flüchtlinge stellen die Deutschen vor eine Bewährungsprobe
Von Herbert Leuninger

Der Versuch von Flüchtlingen aus verschiedenen Teilen der Welt, in der Bundesrepublik politisches Asyl zu erhalten, hat in den letzten Monaten heftige Reaktionen ausgelöst: Auf der einen Seite steht dabei die Abwehr gegen die Fremden - bis hin zu dem Versuch, die Stimmung und die Ängste vor der sogenannten "Asylantenflut" für Wahlkampfzwecke auszunutzen; dabei wird meist verschwiegen, daß die 62 000 Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik in diesem Jahr bisher um Asyl nachgesucht haben, nur einen vergleichsweise kleinen Teil jener 15 Millionen Menschen ausmachen, die sich weltweit auf der Flucht befinden. Auf der anderen Seite aber besinnen sich vor diesem Hintergrund viele Christen und beide Kirchen darauf, Partei für die an den Rand Gedrängten zu ergreifen. So hat insbesondere der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, immer wieder daran erinnert, daß es in der Kirche keine Fremden geben darf. In den Flüchtlingen begegne uns Jesus - sein Leben habe mit der Herbergssuche begonnen. Und die katholische Deutsche Bischofskonferenz hat zuletzt bei ihrer Herbst-Vollversammlung in Fulda die christliche Verpflichtung unterstrichen, sich verfolgter Menschen anzunehmen. Die Menschen aller Rassen und Völker seien gleichermaßen Kinder Gottes. Der Staat habe die Aufgabe, Asylanten und Flüchtlingen zu helfen und sie menschenwürdig zu behandeln.

Gegen einen "Mauerbau" gegen Flüchtlinge und für eine Kirche, die sich als universelle Friedensgemeinschaft versteht, spricht sich in seinem Beitrag für Publik-Forum Herbert Leuninger aus. Leuninger ist Ausländerpfarrer im Bistum Limburg. Anfang September hat er mit einem fünftägigen Hungerfasten im hessischen Flüchtlingslager Schwalbach ein deutliches Zeichen gesetzt, das über die sonst üblichen Stellungnahmen weit hinausgeht; Leuninger protestierte mit der Aktion gegen die Unterbringung der Asylbewerber in Zelten.

WT

(Siehe dazu das Porträt Leuningers in unserer neuen Rubrik "Zeugnis" auf Seite 4).

Die Politik gegenüber den Flüchtlingen in der Bundesrepublik ist eine Abschreckungspolitik - und das ist auch durchaus so beabsichtigt. Man will möglichst viele Menschen daran hindern, daß sie das Recht auf Asyl, das ihnen nach Artikel 16 des Grundgesetzes zusteht, auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Die Bundesrepublik soll möglichst stark abgeschottet werden.

In diese Richtung zielt auch die jetzt in Kraft getretene Vereinbarung mit der DDR, nach der Flüchtlinge nur noch dann zum Transit in die DDR einreisen dürfen, wenn sie über ein Anschlußvisum in die Bundesrepublik oder andere Staaten verfügen. Der Kanzlerkandidat der SPD, Johannes Rau, hat es sich auf seine Fahnen geschrieben, den entscheidenden Beitrag für das Zustandekommen dieser Vereinbarung mit der DDR geleistet zu haben. Die Regelung trifft unterschiedslos alle Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, und nimmt ihnen eine weitere Möglichkeit, in der Bundesrepublik Asyl zu erhalten. Die SPD hat sich damit in einen zweifelhaften "Konsens der Demokraten" begeben und sich in der Bundesrepublik einen Berliner Bärendienst erwiesen. Wenn der Pulverdampf dieses Bundestagswahlkampfes verraucht ist, dürfte die Sozialdemokratie mit einer rußgeschwärzten roten Weste dastehen, und Kanzlerkandidat Rau wird die hocherhobene Maurerkelle sinken lassen, mit der er an der zweiten Berliner Mauer gegen Flüchtlinge mitgebaut hat.

Diese Maßnahme ist freilich nur ein Baustein einer umfassenden Abschreckungspolitik. Schon vor Jahren haben Bund und Länder einvernehmlich Regelungen getroffen, um den Lebensstandard für die Asylbewerber zu senken; die Kirchen haben daher immer wieder darauf hingewiesen, daß mit dem Bündel dieser Maßnahmen ein Mindestmaß an Humanität gegenüber den Flüchtlingen nicht mehr gewahrt sei. Zu den Maßnahmen gegen die Asylsuchenden gehören das jahrelange Arbeitsverbot, die Unterbringung in Lagern oder Gemeinschaftsunterkünften, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die finanzielle Zuwendung mit einem eingeschränkten Sozialhilfesatz, der oft nur in Form von Gutscheinen gewährt wird, so daß die freie Wahl von Lebensmitteln und anderen notwendigen Gütern eingeschränkt ist.

Mit einer solchen Abschreckungspolitik werden Menschen instrumentalisiert: Die Flüchtlinge werden politisch benutzt, um durch ihr Beispiel einer eingeschränkten Lebensmöglichkeit andere davon abzuhalten, in die Bundesrepublik zu kommen.

Teil dieser Politik ist die abstruse Vorstellung, daß das Grundgesetz allen Menschen in der Welt das Recht einräumte, in die Bundesrepublik zu kommen und dort einige Jahre auf Kosten der Allgemeinheit leben zu können. Solche Vorstellungen halte ich geradezu für wahnhaft. Das Asylproblem wird, nicht zuletzt als Teil des Wahlkampfes, auf ein Maß vergrößert, das mit der tatsächlichen Bedeutung für die Gesellschaft der Bundesrepublik kaum noch etwas zu tun hat. Man schürt Ängste vor den Flüchtlingen, anstatt sich den Fragen anzunehmen, die für die Bundesrepublik wirklich bedrohlich sind: die Fragen nach der Erhaltung des Friedens und nach einer intakten Schöpfung, die Fragen nach Arbeitslosigkeit und nach wachsender Armut in der Bundesrepublik. Schon einmal, Anfang der 80er Jahre, konnte man ähnliche Phänomene wie heute beobachten. Die Fremden - es ging damals in erster Linie um die Türken - wurden in Wahlkämpfen instrumentalisiert und zu Sündenböcken gemacht, wohl wissend, daß sie sich politisch nicht, wehren können, weil sie kein Stimmrecht haben. Damals ist mir zum ersten Mal aufgegangen, wieso es in Deutschland zu jenem verhängnisvollen Umschwung des Jahres 1933 kommen konnte. In der Bundesrepublik gibt es zwar keine Ideologie, die der Weltanschauung der Nazis und der daraus resultierenden Vernichtung des jüdischen Volkes gleichzusetzen wäre, aber die Parallele, daß auf einmal eine bestimmte Bevölkerungsgruppe negativ herausgestellt wird, ist nicht von der Hand zu weisen: Eine Minderheit wird gewissermaßen zur Aggression freigegeben, um eine Aggression gegen die eigentlich Verantwortlichen, die Mächtigen, gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Die Abschreckungspolitik gegenüber Fremden steht in einem tieferen Zusammenhang: Der Abschreckung von Flüchtlingen entspricht die Abschreckungspolitik gegenüber äußeren Gegnern, mit der die Aufrüstung mit immer neuen Waffen begründet wird. Es erscheint daher sinnvoll, die Arbeit mit Flüchtlingen in die Friedensarbeit einzubinden. Denn der innere und äußere Frieden hängt letztlich von der Überwindung dieser umfassenden Abschreckungsideologie ab. Die Frage nach dem Umgang mit den Flüchtlingen darf nicht als gesonderte gesellschaftliche Frage betrachtet werden. Wenn wir diese Frage isolieren, handeln wir ähnlich wie die Politiker, die versuchen, die Asylfrage als Sonderproblem herauszustellen. Die zahlreichen Initiativgruppen, die in den letzten Monaten entstanden sind und versuchen, sich den Flüchtlingen anzunehmen, werden nur weiterkommen, wenn es ihnen gelingt, das Engagement für die Flüchtlinge in den großen universellen Rahmen der Friedensarbeit zu stellen. In diese Richtung müssen auch die Bemühungen der Kirche gehen: Sie muß sich selbst als universale Friedensgemeinschaft verstehen, die daran arbeitet, bereits hier und jetzt jene umfassende Gemeinschaft zu verwirklichen, auf die wir eschatologisch (als endzeitliche Verheißung) hoffen.

Die Kirche hat einen weltumspannenden Charakter. Wenn der Papst oder die Bischöfe sich kraft ihres Amtes zum Flüchtlingsproblem und zur Ausländerfrage äußern, dann tun sie das vor dem Hintergrund ihrer weltkirchlichen Einbindung und sie versuchen dabei, nationalistische Beschränktheit zu überwinden. Ich habe den Eindruck, daß die Bischöfe in dieser Frage weiter denken als die meisten katholischen Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik: Viele von ihnen orientieren sich eher an den Aussagen der deutschen Politiker als an den Aussagen ihrer Bischöfe und des Papstes.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, wenn etwa der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, immer wieder auf den Zusammenhang zwischen der Anwesenheit der Flüchtlinge hier und den ungelösten Problemen der Entwicklungspolitik hinweist. Denn die Abschreckung von Flüchtlingen ändert nichts an den Ursachen, die die Betroffenen zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Eine ernsthafte Asylpolitik kommt deshalb nicht umhin, sich der Frage zu stellen, wie eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung verwirklicht werden kann. Das würde letztlich bedeuten, daß die Bundesrepublik aufhören muß, die Welt für ihre nationalen Wirtschaftsinteressen zu benutzen.

Christen sind dazu verpflichtet, sich an die Seite der Flüchtlinge zu stellen. Gott ist Mensch geworden, um seine tiefe Solidarität mit den Armen deutlich werden zu lassen. Jeder Christ muß sich in diese Bewegung Gottes zum Menschen, besonders zu den Armen, hineinstellen. Wer sich an die Seite der Bedrängten stellt, muß gewärtig sein, daß er dann auch selbst zu den Machtlosen gerechnet wird, zu denen, die verachtet und angegriffen werden. Dies ist ein Teil des Schicksals Christi.

Die Gemeinden können die Wahrheit des Evangeliums bezeugen, wenn sie Verständnis und Respekt vor der vollen Menschenwürde der Flüchtlinge entwickeln. Die Anwesenheit der Flüchtlinge und von Menschen verschiedener Nationalität ist eine Chance auf überraschend neue Weise die Universalität der Kirche zu erfahren. Denn den Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen und annehmen, eröffnet sich bereits im Kleinen der Horizont auf eine Weltgemeinschaft hin. Eine solche Gemeinschaft ist die Form, in der nicht nur die Kirche, sondern auch die Menschheit leben wird. Im Miteinander und im Zueinander fängt unter uns eine neue Form des Zusammenlebens an. Diese neue Form der Gemeinschaft geht über eine Hilfestellung für die Schwächeren hinaus: Sie ist geprägt von Freundschaft und Partnerschaft, die beglückende Erfahrungen möglich machen - Erfahrungen von mehr Leben, von freierem und befreiterem Leben.

 

 

Noch Tage, nachdem er das Hungerfasten längst wieder abgebrochen hatte, kam Pfarrer Herbert Leuninger (54) immer wieder ein Bild ins Bewußtsein: Hähnchen mit Reis. Das war jenes Gericht, das den Lagerbewohnem am Dienstag, dem dritten Tag des Hungerprotests von Pfarrer Leuninger, aufgetischt werden sollte. Doch viele der Asylbewerber in den Zelten der Hessischen Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge (HGU) in Schwalbach (Main-Taunus-Kreis) verweigerten das Essen: "Wenn der Father fastet", sagten sie, "dann fasten wir auch."

Die Flüchtlinge drückten damit spontan aus, wie tief es sie beeindruckt hat, daß jemand nicht nur Anteil an ihrem Schicksal nimmt, sondern bereit ist, dafür mit Leib und Seele einzustehen. In Zelt 3, an der Seite der Asylsuchenden liegend, hat Herbert Leuninger fünf Tage lang gehungert und nur Tee und Wasser zu sich genommen. Am 7. September begann er seine Aktion, um damit gegen die Unterbringung der Asylsuchenden in Zelten zu protestieren. In einem Offenen Brief an den hessischen Sozialminister Armin Clauss (SPD), der für das Zeltlager verantwortlich ist, kündigte der Geistliche an, solange zu fasten, bis die Zelte abgebaut und die Menschen in festen Häusern untergebracht würden. Der Minister gab schließlich, wenn auch widerwillig, der Forderung des Asylpfarrers nach, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der vielen Stimmen, die sich mit Leuningers Hungerprotest solidarisierten. Nach fünf Tagen, am 11. September, brach der Kirchenmann sein Fasten. Die fast 200 Flüchtlinge, die in dem ungastlichen Zeltlager leben mußten, sind inzwischen in feste Unterkünfte verlegt worden - ein Schritt, der ihr Los erleichtert, wenn er auch ihre Probleme nicht mit einem Schlag lösen kann.

Zunächst hatte Leuninger gegen diese menschenunwürdige Unterbringung mit den herkömmlichen Formen protestiert: Zusammen mit dem "Solidaritätskreis Asyl" aus Hofheim am Taunus, einer Basisgruppe der internationalen katholischen/Friedensbewegung Pax Christi, und dem Arbeitskreis "Hilfe und Beratung für Asylbewerber" im benachbarten Eschborn hat er Resolutionen verfaßt, Aufrufe geschrieben, die Presse über das Zeltlager informiert - aber nichts hat sich getan. Selbst die Personengruppen, von denen er meinte, sie seien den Flüchtlingen freundlich gesonnen, haben die Behandlung der Flüchtlinge, die ganz offensichtlich zur Abschreckung dienen sollte, auf sich beruhen lassen. Leuninger wurde klar: "Das Argumentative allein genügt nicht. Es muß etwas dazu kommen, daß durch den Magen, durch das Herz, durch den Leib geht. Wenn das persönliche Zeichen zum Wort kommt, entfaltet das Wort erst seine wahre Wirkung." So hat sich der Geistliche mit seiner ganzen Person in den Protest mit einbezogen. Die entscheidenden Frage, auch über diese einzelne Aktion hinaus, ist für Leuninger: Wie glaubwürdig ist die Kirche, wenn sie nicht wenigstens in ihrem eigenen Leben das Wort zeichenhaft verwirklicht? Und: Reichen ausgezeichnete ausländerpolitische Erklärungen allein aus?

Leuninger ist seit 1972 Ausländerreferent im Bistum Limburg. Im Laufe der Jahre mußte er sich eingestehen, daß seine innerkirchliche Vermittlungsaufgabe, unter Katholiken - Laien wie Amtsträgem - für Aufgeschlossenheit gegenüber den Ausländern zu wirken, an ein Ende gelangt ist. Leuninger: "Innerhalb der Großkirche hat sich nur wenig bewegt." So hat er sich schließlich vor einem Jahr von einem Teil seiner Aufgaben als Ausländerreferent freistellen lassen, um sich als "Asylpfarrer" speziell den Anliegen der Flüchtlinge widmen zu können.

Leuninger ist ein unbequemer Kirchenmann, unbequem für die Politiker wie für die Kirchenoberen gleichermaßen. Das zeigte sich schon zu Beginn seines Wirkens als Priesters. Als Pfarrer in Kriftel bei Hofheim war einer Reihe von Gemeindemitgliedern seine aufgeschlossene, am Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils orientierte Arbeit ein Dorn im Auge. Und auch danach, als Jugendpfarrer im Bezirk Main-Taunus, erregte er Aufsehen: Im Jahre 1971 sorgte das von Leuninger organisierte "Hofheimer Meß-Festival,' für ein "mittleres kirchliches Erdbeben" (Leuninger). 700 junge Leute feierten Gottesdienst in freier Form, mit Agape, dem gemeinsamen Mahl, und Tanz in der Kirche. Heute ist dies keineswegs mehr so ungewöhnlich, aber vor 15 Jahren flatterte dem damaligen Limburger Bischof Wilhelm Kempf wegen des Meß-Festivals sogar eine Anfrage aus Rom ins Haus.

Auch die soziale Frage ist für Leuningers Arbeit immer wichtig gewesen. Er stammt aus einer katholischen Familie, die gleichzeitig gewerkschaftlich engagiert ist. Ein Bruder seines Vaters war hessischer DGB-Vorsitzender; und Ernst Leuninger, der Bruder von Herbert Leuninger, ist ebenfalls Priester geworden - er ist im Limburger Ordinariat als Dezernent für Erwachsenenarbeit tätig.

Herbert Leuninger studierte Theologie in Vallendar und in Sankt Georgen. Die Theologie, sagt er, ist ihm aber erst lebendig geworden, als ihm die Theologen nicht mehr helfen konnten: als es darum ging, den an den Rand gedrängten Minderheiten nicht nur in Wort, sondern auch in Tat beizustehen. W. Tocha

Aktion gegen Zelte