Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
2000

Ausgrenzung als gesellschaftliches Problem aus theologischer Sicht

Folien  -  Präsentation

Vortrag und Artikel für das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche von Westfalen in Münster am 5. April 2000

Die Erklärung des Ökumenischen Rates

Anfang der 90er Jahre wuchs die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Menschen, Suche nach Arbeit ihre Heimat verlassen mußten, weltweit in starkem Umfang an. Dies wurde in den Kirchen des Ökumenischen Rates als eine besondere Herausforderung verstanden. Waren doch viele der Mitgliedskirchen davon unmittelbar oder mittelbar betroffen. Unmittelbar betroffen waren die Kirchen, deren eigene Mitglieder gezwungenermaßen ihre Herkunftsländer verließen, mittelbar betroffen die Kirchen in Regionen mit einer hohen Zugangsquote von Flüchtlingen oder Arbeitsmigranten.

Dies führte zu einer besonderen Sensibilität für die damit aufgeworfenen Fragen und zur Erarbeitung eines Dokuments. Es wurde als "Erklärung zu entwurzelten Menschen" am 22. September 1995 vom ÖRK-Zentralausschuss einstimmig angenommen. Dabei umfasst der Begriff "entwurzelte Menschen" alle, die aus politischen, umweltbedingten und wirtschaftlichen Gründen zur Aufgabe ihrer Heimat gezwungen sind. Ihre existentielle Lage wird als "Entwurzelung" verstanden. Damit ist eine Vorstellung verknüpft, die eine Solidarisierung nahe legt.

So empfindet die Kirche den genannten Gruppen gegenüber auch eine besondere Verantwortung, die mit einer weltweiten Kampagne und 1997 mit einem eigenen "Ökumenischen Jahr der Solidarität der Kirchen mit entwurzelten Menschen" verbunden wurde.

In der englischen Originalfassung trägt die Erklärung den Titel "Risking to be with the Uprooted People". Dahinter steht offensichtlich die Erfahrung, daß der Einsatz für entwurzelte Menschen mit einem gewissen Risiko verbunden ist. So wird im Text darauf verwiesen, Flüchtlinge und Migranten stießen in den Staaten, in denen sie leben oder von denen sie aufgenommen werden, auf eine wachsende Fremdenfeindlichkeit; sie wiederum löse eine abwehrende Einwanderungs- und Asylpolitik der Regierungen aus.

Die von Christen zu erwartende "Koinonia" (Gemeinschaft) mit den Migranten und Flüchtlingen "verlangt einen hohen Preis und stellt uns vor die Herausforderung, mit allen Konsequenzen das R i s i k o einzugehen, uns für andere hinzugeben": Der Preis ergibt sich aus der Konfrontation "mit den etablierten Kräften und den Privilegierten". Das dürfte sich eher auf gesellschaftliche Kreise in den Aufnahme- als in den Herkunftsländern beziehen. Demnach gehört Wagemut dazu, sich eindeutig und klar an die Seite der Flüchtlinge und Migranten zu stellen. Es heißt gegen einen starken Trend anzugehen und gegen den Strom zu schwimmen. Dieser Aspekt kommt in der deutschen Übertragung, die von der "Solidarität mit den Entwurzelten" spricht, nicht zum Tragen. Vielleicht ist das Wagnis eines Einsatzes für die Entwurzelten in den westlichen Demokratien nicht allzu hoch. Dafür ist das "mit den entwurzelten Menschen sein" des englischen Textes durch "Solidarität" sicher eindeutiger umschrieben. Auf jeden Fall sind die Christen mit der ÖRK-Erklärung zu einem Verhalten aufgerufen, das sich gegen die allgemein verbreitete Stimmung der Ablehnung der "Fremden" stellt. Für die solidarische Haltung könne es, wie es ausdrücklich heißt, in den Kirchen keine Alternative geben.

Entwurzelung und Ausgrenzung

Entwurzelung ist eine Form der Ausgrenzung und bedeutet, wie eine Pflanze oder ein Baum aus dem Boden gerissen zu werden. Das gilt für die Umwelt, dem ein Mensch entstammt, und die sein bisheriges Leben bis in die Verästelungen des Verhaltens hinein geprägt hat. Die Wurzeln werden abgetrennt vom kulturellen, politischen, familiären und auch religiösen Humus. Aus ihnen speist sich die eigene Identität. Die Entwurzelung wird anfangs zumeist als Heimweh empfunden, wirkt sich aber später oft als schwere seelische Schädigung aus.

Zu der Ausgrenzung aus der Heimat, die im Wortsinn mit einer Grenzüberschreitung ist, kommt eine neue Ausgrenzung hinzu, nämlich die im Aufnahmeland. Es ist zuerst die Erfahrung fremd zu sein und noch nicht dazu zu gehören. Wenn dies noch mit dem Gefühl verbunden ist, im Aufenthaltsland nicht willkommen zu sein und als Randgruppe diskriminiert zu werden, wird die Ausgrenzung zu einer schweren Belastung.

Schließlich gibt es eine weitere Form der Ausgrenzung. Sie ist politischer Natur und bedeutet den Versuch, Menschen überhaupt daran zu hindern die Grenzen in ein anderes Land zu überschreiten. Diese Politik läßt sich am besten an den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union verdeutlichen. Beide Regionen sehen sich damit konfrontiert, daß sie das Ziel von Menschen sind, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen ihre Heimat verlassen. In beiden Regionen wächst die Sorge, daß diese Entwicklung ohne Abschottung und Überwachung der Grenzen nicht gesteuert werden kann und sich ins Uferlose ausweitet. Als eigentlicher Hintergrund für diese Wanderungsbewegungen wird das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Ziel- und Herkunftsgebieten angesehen. Dabei sind die Unterschiede zwischen Menschen, die aus wirtschaftlicher Not die Heimat aufgeben, gegenüber denen, die wegen politischer Verfolgung flüchten, fließend. Politik und Öffentlichkeit in den Zielgebieten neigen dazu, alle unter dem Begriff des "Wirtschaftsflüchtlings" einzuordnen, denen es nur um eine bessere Existenz gehe. Wirtschaftsflüchtlinge aufzunehmen sehen sich aber die Zielstaaten nicht verpflichtet. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die international die Behandlung von politisch Verfolgten regelt, bindet die Unterzeichnerstaaten nur Menschen aufzunehmen, die wegen erfahrener oder drohender politischer Verfolgung den Schutz ihres Herkunftslandes verloren haben, und auf den Schutz durch die internationale Gemeinschaft angewiesen sind.

Um sich aber den Verpflichtungen dieser geltenden Konvention zu entziehen, sind gerade die westlichen Staaten dazu über gegangen, sich an den Grenzen abzuschotten. Damit sollen gleichermaßen Migranten wie Flüchtlinge von einer Einreise abgehalten werden.

Das Schengener Abkommen

Das Schengener Abkommen, das in der Europäischen Union gilt, ist für diese Politik ein typisches Beispiel.

Es gibt die Liste von etwa 130 Staaten, deren Bürgerinnen und Bürger ein Visum brauchen, wenn sie in die Europäische Union einreisen wollen. Es ist der unsichtbare Festungswall, der weit vor den Toren Europas eine kaum übersteigbare Hürde bildet. Auf dieser Liste stehen nämlich vor allem die Länder, aus denen möglicherweise Flüchtlinge kommen könnten. Fluggesellschaften werden von den Regierungen kräftig zur Kasse gebeten, sollte es ihnen unterlaufen, einen Passagier ohne ausreichende oder mit gefälschten Papieren zu transportieren Da Flüchtlinge praktisch auf reguläre Weise keine Einreisepapiere bekommen, vertrauen sie sich zwielichtigen Agenturen oder sogar Banden an, die ihnen echte oder gefälschte Dokumente gegen hohe Gebühren beschaffen. Sie übernehmen auch den Transport in Containerkammern oder auf seeuntüchtigen Schiffen.

Die Grenzüberwachungsorgane werden ständig verstärkt. Durch Hubschrauber, Nachtsichtgeräte, ganze Hundestaffeln und Schnellboote wird z.B. die Oder-Neiße-Grenze zur bestbewachten Grenze Europas. Bürgerinnen und Bürger werden einbezogen in ein Meldesystem heimlichen Grenzübertritts. Beitrittskandidaten der EU müssen nachweisen, daß sie ihre Grenzen lückenlos überwachen können. Dafür erhalten sie Geld und Ausbildungshilfe.

Schließlich führt die Einführung des Begriffs vom "sicheren Drittstaat" dazu, daß Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen werden können. Wenn der Flüchtling nämlich durch ein solches Land gereist ist, muß dieses den Flüchtling übernehmen und das Asylverfahren durchführen.

Eine Stellungnahme der früheren Bundesregierung von 1998 eliminiert sogar den Begriff des Flüchtlings und macht diesen zum illegalen Einwanderer. Nicht minder bedeutsam für die Abwehr von Flüchtlingen dürfte die Verbindung sein, die zwischen "illegaler Einwanderung" und "Kriminalität" hergestellt wird. Da kann das UN-Hochkommissariat noch so oft sagen, daß illegaler Grenzübertritt einem Flüchtling nicht zum Nachteil gereichen dürfe. Dadurch, daß der "Flüchtling" vom "illegalen und kriminalitätsnahen Eindringling" ersetzt wurde, rechtfertigen sich alle Maßnahmen der Abweisung von Asylbewerbern an der Grenze.

Die Abschottung der USA

Die Vereinigten Staaten haben sich auf die Abschottung vor allem gegenüber Mexiko konzentriert. Der Bericht eines deutschen evangelischen Theologen (Christoph Keienburg) über den Besuch des Grenzgebietes, die er 1996 vorgenommen hat, zeigt deutliche Parallelen zu Westeuropa. So hat er die Grenzabschnitte, die er besichtigt hat, als "dicht" bezeichnet, "bis auf jene schmalen Furten in den verglasten Betonblöcken, in denen ausnahmslos Beamte der USA den Zugang kontrollieren, gewähren und blockieren. Dazwischen: Maschendraht, Beobachtungsposten mit mehreren Jeeps, Staffeln geparkter Hubschrauber, die nach dem Einbruch der Dunkelheit meist à deux ausschwärmen und mit ihren Riesenscheinwerfern den Grund abtasten". Es ist eine Militarisierung der Grenzüberwachung im Gange, die bereits als "low-intensity-conflict" eingestuft wird. Dieser Begriff stammt aus politischen Analysen der USA und meint die Vorstufe einer kriegerischen Auseinandersetzung mit regulären Truppen.

Die Aufgabe der Kirche gegenüber den Entwurzelten und Ausgegrenzten

Die Kirchen sehen sich unterschiedslos in der Pflicht gegenüber den Verfolgten, ebenso wie gegenüber Umwelt- und Wirtschaftsflüchtlingen. Der Umweltflüchtling ist dabei wohl der Prototyp des Migranten der Zukunft, wenn Verkarstung, Versteppung und überhaupt die Zerstörung der Umwelt voran schreiten und die bereits jetzt vorausgesagten Kriege um e Wasser geführt werden. Dabei dürfte immer deutlicher werden, daß die Verfolgung von Minderheiten und Oppositionellen Teil der immensen Verteilungskämpfe ist, die uns in der Welt bevor stehen. Umso mehr verbietet es sich, allzu scharf zwischen politischer, wirtschaftlicher und umweltbedingter Flucht unterscheiden zu wollen.

Um die Motivation der Christen zur Solidarität mit den Entwurzelten zu erhöhen und den einzelnen Gemeinden eine grundsätzliche Orientierung zu geben, verweist die ÖRK-Erklärung mit Nachdruck darauf, daß gerade durch Matthäus 25, 31-46 Kirche die Kirche Jesu Christi des Fremden ist und erklärt: "Wir sind eine Kirche des Fremden". Das gibt allen Fremden einen bevorzugten Platz in der Gemeinde. Seite an Seite in der christlichen Gemeinschaft kann nur bedeuten, "sich auf die Seite der Unterdrückten, der Verfolgten, der Marginalisierten und der Ausgegrenzten zu stellen". Ihre Begleitung und die Fürsprache für sie sind Ausdruck des prophetischen Zeugnisses und Dienstes (Diakonie).

Für den Ökumenischen Rat steht in den Kirchen die grundsätzliche Entscheidung an, sich als Kirche des Fremden zu verstehen und sich solidarisch gegenüber den Entwurzelten zu handeln. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Kirchen von den Fremden abwenden und die Frage insgesamt ignorieren. Das würde allerdings die Frage nach der kirchlichen Daseinsberechtigung aufwerfen. Sie droht verloren zu gehen, wenn Kirchen und Gemeinden sich dem Fremden in ihrer Mitte verschließen. Gäben sie es doch auf, danach zu streben eine integrierende Gemeinschaft zu sein. Sie wären nicht mehr Zeichen und Vorwegnahme des Reiches Gottes. Kann es kirchlicherseits eine höhere Motivationsstufe geben? Der in der Gesellschaft marginalisierte Fremde rückt in das Zentrum des Gemeindelebens, des Gottesdienstes und der Aktivitäten. Um den hohen Anforderungen gerecht werden zu können, empfiehlt die Erklärung zuerst einmal eine selbstkritische Prüfung der Erfolge und des Versagens.

Die Aufgabe der Solidarität mit den Entwurzelten ist jeder Gemeinde aber auch den Kirchen insgesamt gestellt. Sie verlangt also nicht nur lokales Engagement, sondern ebenso die weltweite ökumenische Zusammenarbeit nicht nur untereinander sondern auch mit anderen Sektoren der Zivilgesellschaft.

Der politische Aspekt

Damit steht auch die politische Dimension des Einsatzes für die Ausgegrenzten an. Dabei kann sich dieser nicht auf die Zusammenarbeit der Kirchen beschränken. Die Notwendigkeit einer umfassenderen Kooperation ergibt sich nämlich nicht nur daraus, daß im Bereich "entwurzelte Menschen" auf allen Ebenen die verschiedensten menschenrechtlich ausgerichteten Organisationen tätig sind, sonder vor allem dadurch, daß kein gesellschaftlicher Bereich allein in der Lage ist, "die systembedingten Ursachen der Entwurzelung ab(zu)bauen".

Es geht demnach nicht nur darum, an den Symptomen zu kurieren. Was am ganzen System falsch ist, muß verändert werden, eine politische Aufgabe. Systembedingte Ursachen sind alle politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die auf den Migrations- und Fluchtbereich einwirken und ihn bestimmen. Um hier Veränderungen zu erreichen genügt nicht die solidarische und integrative Funktion der einzelnen Gemeinde, obwohl sie die Grundlage aller weitergehenden Interventionen ist. Die Kirche als gesellschaftliche Kraft muß intervenieren und auf das politische Geschehen Einfluß nehmen wollen.

Zum ersten müssten sich die Kirchen ein Bild über die Ursachen der Entwurzelung verschaffen. Dabei ist auch Klarheit darüber zu gewinnen, welche Rolle die einzelnen Regierungen bei der Entstehung nicht akzeptabler Migrations- und Fluchtbewegungen spielen. Als nächstes müssen sich die Kirchen prüfen, welche Möglichkeiten sie haben, die Ursachen anzugehen. Dabei würde sicher sehr schnell deutlich, daß eine Zusammenarbeit mit anderen Sektoren der Gesellschaft und vorhandenen Organisationen unausweichlich ist.

Zukunftsszenarien

Seit 1990 gibt es in den Vereinigten Staaten ein Gesetz, das ein umfassendes wissenschaftliches Projekt über die globalen Entwicklungen und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Veränderungen initiiert. (The U.S. Global Change Research Program). Einer der an diesem Projekt maßgeblich beteiligten Wissenschaftler Allen Hammond hat auf dem Hintergrund bereits vorhandener Analysen ein dreifaches Szenario möglicher künftiger Entwicklungen entwickelt. Es sind keine Voraussagen, sondern Möglichkeiten einer Entwicklung, die wesentlich von Politik und Wirtschaft bestimmt wird. Die Szenarien werden als Markt-, Festungs- und Reformwelt umschrieben.

Die Marktwelt geht davon aus, daß freie Märkte, privates Unternehmertum und ein globaler Markt der beste Weg sind, um den Wohlstand zu steigern und die Wohlfahrt der ganzen Menschheit zu sichern. Dabei sind Wirtschaftsreformen, Privatisierung und Deregulierung der Schlüssel für eine bessere Zukunft. Es handelt sich um die Sicht des Neoliberalismus, die sich derzeit weitgehend durchgesetzt hat.

Mit der Festungswelt ist eine Entwicklung zu erwarten, in der die Kluft zwischen Reich und Arm weiter wächst und die bisher erreichten sozialen Errungenschaften abgebaut werden. Die sozialen und ökologischen Prozesse gelten als nicht steuerbar. Die Folge davon ist, daß Hunderte von Millionen Menschen zu einem Leben in äußerster Armut verdammt sind. Die dramatische Verschlechterung der Lage der Mehrheit der Menschen führt zu gesellschaftlicher Instabilität und wachsenden Konflikten. Gewalt und Chaos sind eine ständige Gefahr. Die Welt ist gespalten, die Besitzenden und Privilegierten sichern sich festungsartig gegen die arme Bevölkerung ab.

Die optimistische Variante einer künftigen Zeit stellt die Reformwelt dar. Vertreter dieses gesellschaftlichen Konzepts sind davon überzeugt, daß menschliche Genialität und Solidarität der ganzen Menschheit eine gute Zukunft garantieren können. Soziale, politische und ökonomische Reformen verhelfen zu einem nicht gerade reicheren, aber besseren Leben. >Dabei wird auf Prozesse verwiesen, die bereits im Gange sind und günstige Prognosen erlauben.

Bei nüchterner Einschätzung der ideologischen, politischen und vor allem wirtschatlichen Kräfteverhältnisse sieht es so aus, als würde sich eine Kombination der beiden ersten Szenarien abzeichnen, also eine Verbindung von Markt- und Festungswelt. Hierbei wird die Glücksverheißung der Marktwelt nur von denen geglaubt, die bisher und erst recht in der Zukunft von einem entfesselten Markt profitieren. Die Marktwelt könnte die vorhandene Spaltung zwischen arm und reich und die Ausgrenzung des Restes der Welt von den nördlichen Industrienationen verewigen. Dies würde gerade auch angesichts der demografischen Entwicklung des Südens zu einer Festungsmentalität des Nordens führen. Wesentliches Element dieser Haltung wäre der weitgehende Ausschluß von Völkern und Erdteilen von weiterer technischer und ökonomischer Entwicklung. Eine Abschottung der Grenzen nach außen und die Sicherungseinrichtungen im Innern der Gesellschaften entsprächen sich dabei.

Erfahrungen, wohin es führt, wenn sich Bevölkerungsgruppen mit ihren Privilegien und Reichtümern gegen die übrige Welt abschotten, werden seit Jahren in den USA gemacht. Sie dürften aber auch für andere Weltzonen gelten, wo großer Reichtum der wenigen mit krasser Armut der Mehrheit einhergeht. Wir haben es hier mit einem Modell städtebaulicher Apartheid zu tun, daß sich - wie Robert Lopez meint - in aller Stille ausbreitet (vgl. Le Monde diplomatique, März 1996)- Von Los Angeles bis Johannesburg, von Brasilien bis Lagos entstehen Städte oder Stadtteile, die nur von Reichen bewohnt und von einer Privatpolizei bewacht werden. Diese Bezirke bilden eine Welt für sich, die abgeschirmt ist von dem Elend und der Not, aber auch von der bedrohlichen Gewalt. Friedliches und ruhiges Leben spielt sich hinter hohen, elektronisch gesicherten Mauern ab. Diese Anlagen lassen sich gut verteidigen und funktionieren wie mittelalterliche Burgen; im Unterschied zu diesen sind sie aber wie High-Tech-Zentren ausgestattet. Es sollen bereits vier Millionen Amerikaner in derart geschlossenen Wohnwelten leben. Kirchliche Räume dürfte es dort sicher auch geben.

Bei dieser Perspektive stellt sich die Aufgabe der Kirche, es immer mit den Ausgegrenzten und Entwurzelten zu halten, auf neue Weise. Sie ließe sich auf die Fragen reduzieren? Wird die Kirche Teil der lokalen und regionalen Festungen sein, oder wird sie sich außerhalb der Festungen bei den Ausgegrenzten einrichten? Wird sie vielleicht sogar beides tun wollen, ohne sich der Schizophrenie bewußt zu sein? Wird sie vielleicht in einem Balanceakt sondergleichen innerhalb der Festung für die Ausgegrenzten wirken? Diesseits der Mauern ist dies eine sehr, sehr schwere Aufgabe, weil sie letztlich darauf hinaus läuft, sich für die Schleifung der Mauern zu verwenden. Hier wird deutlich, wie hoch das Risiko für die Kirche ist, sollte sie sich auf diese Aufgabe einlassen. Sie wäre inmitten einer Festungswelt geistige und politische Zufluchtsstätte für die Anliegen und Rechte der extern – aber auch der intern - Ausgeschlossenen, erhöbe ihre machtvolle und gewaltige Stimme, wäre unüberhörbar Prophetin einer neuen Welt, die dem Willen Gottes entspricht, würde sich als Anwältin zur Verfügung zu halten, der die besten Argumente zu Gebote stehen. Die Mauern von Jericho stürzten ein! Die Reformwelt entstünde!