Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1989

Die Republik hat ihre Schlappe erlebt

INHALT
Rede auf der Kundgebung des DGB Frankfurt am 13. März 1989 gegen den Einzug der NPD ins Stadtparlament.

Die heutige Kundgebung kommt sechs Wochen zu spät! Daher konnte in Hessen der schlimmste Wahlkampf seit Bestehen der Bundesrepublik geführt werden. Der CDU/CSU insgesamt, und nicht nur der hessischen CDU, sind nach den Berliner Wahlen die moralischen Sicherungen durchgebrannt. Von da an haben die Rechtsradikalen Regie geführt. Und die CDU hat nach Anweisung getanzt. Wer hätte das vor Berlin und außerhalb Bayerns für möglich gehalten?

Der Sturm der Entrüstung ist ausgeblieben, als noch Zeit gewesen wäre, das Schlimmste zu verhindern. Jedermann wußte, daß es die Strategie von CDU und CSU war, von nun an menschenfeindliche Wahlkämpfe zu führen. Oder will einer im Ernst behaupten, er hätte wieder nicht gewußt, was vorgeht? Ein solcher gespenstische Wahlkampf, wie er dann in Hessen skrupellos geführt wurde, hätte mit allen Mitteln verhindert werden müssen. Daß er stattfinden konnte, ist die Katastrophe, eine größere Katastrophe als der Einzug von Rechtsradikalen in den Römer. Was sollen alle Gedenkreden zum Aufstand vom 20. Juli 1944, zur Kapitulation Hitlerdeutschlands, zur Reichspogromnacht? Was sollen alle Feiern »40 Jahre Bundesrepublik«? Die entscheidende Lektion ist nicht gelernt! Nicht nur, wer Minderheiten zu Sündenböcken macht, verrät unsere Republik, sondern auch, wer es ohne allerschärfsten Protest zuläßt. Die Republik hat ihre Schlappe bereits vor dem gestrigen Tag erlebt.

PRO ASYL hat in Appellen, Briefen und Anzeigen die Meinungsführer der politischen und geistigen Öffentlichkeit beschworen. Stoppt die Wahlkampagne gegen Asylbewerber! Wehrt den Angriff auf eine stimmlose Minderheit ab!

Die Literaten und Verleger von Weltliteratur waren mit den Satanischen Versen beschäftigt. Was soll da eine Provinzposse in Hessen?

Die großen Theologen waren mit dem Papst befaßt, mit Bischofsstühlen und ihren eigenen Lehrstühlen. Was ficht es sie an, daß Menschen anderer Herkunft die Stühle vor die Tür gesetzt werden?

PRO ASYL hat die Kirchen Hessens beschworen: Läutet die Glocken zum Schutz der Flüchtlinge! Die evangelische Kirche hat sich gegen den Wahlkampf der CDU gestellt. Die katholische, meine, Kirche hat in der Öffentlichkeit geschwiegen. Die Schwachen und Stimmlosen müssen sich von ihr im Stich gelassen fühlen. Ein vielleicht historisches Versagen.

PRO ASYL dankt der Evangelischen Kirche Hessen-Nassaus und der Evangelischen Kirche Frankfurts für ihre Solidarität mit den Schwachen und Stimmlosen.

PRO ASYL dankt auch der SPD und den Grünen für ihren klaren Einsatz zugunsten der Asylbewerber.

Der Wahlkampf in Hessen ist zwar zu Ende. Der nächste Wahlkampf ist aber bereits im Gange, unter Umständen noch rücksichtsloser, noch gottvergessener.

Daher ist auch die heutige Demonstration zur Wende der Not notwendig. Es gibt die Solidarität in der Bundesrepublik, nicht unbedingt die der Großen, aber die der Kleinen. Die Solidarität der Kleinen mit den Flüchtlingen. Ich habe in den letzten Jahren nichts Großartigeres erlebt als diese tiefe und unverbrüchliche Solidarität mit den verachteten Asylbewerbern. Gerade hier wird die weithin vergessene Solidarität neu buchstabiert. Diese Solidarität, besonders von Frauen, ist eine große Hoffnung auf die Wende. Warten wir nicht auf die Solidarität der Großen. Stärken wir die Solidarität der Kleinen. Das ist die wirkliche Solidarität. Nur sie verhindert weitere politische Katastrophen.

veröffentlicht in:
ötv Hessen Aktuell
Nr. 2 Juli 1989, S.2