Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1986

Buchbesprechung

Islamische Minderheiten in der Diaspora
MUSLIME IN EUROPA RATLOS


INHALT

Die in den letzten Jahrzehnten nach Europa eingewanderten muslimischen Menschen, überwiegend Arbeiter, bilden nur eine Minderheit, Ihr Einfluß in der Gesellschaft ist verschwindend gering,
Die ganze Tradition und alle maßgeblichen Autoritäten waren bisher nicht in der Lage, umfassende Normen für ein Zusammenleben der islamischen Minderheit mit der Mehrheit zu finden.

 

Unter uns, aber weitgehend unserm Einblick entzogen spielt sich ein religiöses Drama ab: das des Islam in Europa. Entgegen der landläufigen Vorstellung geht es nicht um die Eroberung der europäischen Christenheit durch den Islam sondern um das Überleben islamischer Minderheiten in einer säkularisierten Industriegesellschaft, die zudem vom Christentum geprägt ist. Die Akteure in diesem Drama, die gläubigen Muslime und ihre Gemeinden, sind ratlos. So sieht sie der Islam-Experte von der Universität Münster, Adel Theodor Khoury in seinem Buch "Islamische Minderheiten in der Diaspora".

Dies muß einen Leser, der zufälligerweise mit dem letzten Beitrag des Buches beginnt, erstaunen, ja ihm sogar widersprüchlich vorkommen. Denn zum Schluß ist im Rahmen einer Dokumentation eine Umfrage aus dem Jahr 1981 wiedergegeben zum Thema, was Moslems über Christen denken. In der Kommentierung der Befragung von 12 islamischen Gemeindeverbänden in der Bundesrepublik und 900 praktizierenden Moslems kommt Khoury zu der Einschätzung, daß das Selbstbewußtsein der islamischen Gemeinden gegenüber den Kirchen gewachsen sei, und sie in diesen keine Bestandsbedrohung mehr sähen. Wären vor wenigen Jahren noch Ängste vor christlichen Missionsbemühungen und Proselytenmacherei zu spüren gewesen, so sei heute eher das Gegenteil der Fall.

 

Was aus dieser Umfrage deutlich wird, ist aber auch die Tatsache, daß das Christentum hierzulande nicht als sehr überzeugend erlebt wird. Andererseits, oder hängt es damit zusammen, bestehen kaum Bedenken, muslimische Kinder in christliche Kindergärten zu schicken, ihnen Freundschaften mit Christen zu erlauben und selbst vielleicht sogar engere Beziehungen mit Christen zu pflegen. Fast alle der als fromm und konservativ geltenden Muslime bejahen es, daß Christen und Muslime zusammenarbeiten, sich gegenseitig helfen, miteinander geschäftliche Beziehungen eingehen, ja sogar gemeinsam soziale Einrichtungen gründen oder betreiben. Von einer typischen Ghetto-Mentalität, wie sie gerade den strenggläubigen Muslimen unterstellt wird, kann wenigstens nach dieser Befragung keine Rede sein. Der kritische Punkt ist noch nicht einmal erreicht, wenn es um die Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer christlichen Frau geht, sondern erst da, wo ein christlicher Mann eine muslimische Frau heiraten will. Dies wird wegen der religiösen Dominanz des Mannes prinzipiell abgelehnt.

Warum also nach diesem Meinungsbild noch von Ratlosigkeit sprechen? Khoury, der selbst offensichtlich in dem Befund der Umfrage und ihrer Analyse keinen Widerspruch sieht, führt die Ratlosigkeit darauf zurück, daß die islamische Tradition im Grunde nur ein Modell des Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen kennt und entwickelt hat. Dieses Modell geht davon aus. daß die Muslime die Mehrheit bilden und die Herrschaft im Lande ausüben, die Gesetzgebung gestalten und ihre Rechtsprechung nach islamischem Gesetz und Recht besorgen. Religion und Staat, Glaubensleben und Rechtsprechung sind hier eine unauflösliche Einheit.

Die in den letzten Jahrzehnten nach Europa eingewanderten muslimischen Menschen, überwiegend Arbeiter, bilden nur eine Minderheit, wenn auch in der Bundesrepublik eine in der Größenordnung von zwei Millionen. Ihr Einfluß in der Gesellschaft ist verschwindend gering, sie werden von den Einheimischen eher argwöhnisch betrachtet und haben alle Mühe sich zu behaupten und ihre eigene Identität zu wahren. Die Ratlosigkeit ergibt sich daraus, daß die ganze Tradition und alle maßgeblichen Autoritäten bisher nicht in der Lage waren, umfassende Normen für ein Zusammenleben der islamischen Minderheit mit der Mehrheit zu finden.

Viele Gemeinden richten sich an den Verhaltensmustern aus, die sie aus ihrer Heimat kennen. So gibt es eine Richtung, die - was natürlich eine völlige Verkennung der Realität bedeutet - auf eine vollständige Islamisierung der westlichen Gesellschaft setzt. Sie fühlt sich durch die heutige Renaissance des Islam in diesem Bemühen bestärkt.

Gegenüber dieser Bewegung macht Khoury eine hoffnungslose Minderheit in der Minderheit aus, nämlich die, die sich dafür einsetzt, dem Islam im Rahmen der Weltgesellschaft einen Weg zu eröffnen, der sich mit einer teilweisen Säkularisierung des Gemeinwesens verträgt. Zwischen den Verfechtern einer militanten Islamisierung und den Befürwortern einer säkularisierten Gesellschaft gibt es eine gemäßigte Richtung, die zwar eine islamische Gestaltung des Lebens in der Gemeinschaft wünscht, jedoch offen ist für die Kompromisse, die für ein Leben in der Diaspora nötig sind und für ein gutes Zusammenleben mit Nicht-Muslimen unumgänglich erscheinen.

Diesem Mittelfeld will Khoury offensichtlich den Rücken stärken. Mit seinem Buch möchte er nämlich die Erarbeitung eines Lebensmodells unterstützen und fördern, das den Muslimen in nicht-islamischen Ländern ermöglicht, zugleich gute Muslime und gute Bürger des jeweiligen Landes zu sein. Khoury ist sich zwar bewusst, daß ein solches Modell nicht aus den Werken der Klassiker herauszulesen ist, glaubt aber in der Rechtstradition des Islams viele Elemente vorzufinden, die für die Erarbeitung eines solchen Modells hilfreich sein könnten.

Daher beschäftigt sich der größte und wichtigste Teil des Buches mit den Grundlagen des islamischen Rechtssystems, d.h. mit dem Koran als dem Weg Gottes., mit der Sunna als dem Weg des Propheten Muhammad und mit dem Konsens, also mit der Übereinstimmung der Rechtsgelehrten als dem Weg der Gemeinschaft. Der Leser gewinnt einen guten Einblick in den kontinuierlichen, von großen geistigen Auseinandersetzungen geprägten Prozeß, durch den der Islam versucht, gültige Antworten auf alle moralischen und religiösen Fragen zu geben. Hierbei werden auch die großen islamischen Rechtsschulen vorgestellt, die entscheidenden Einfluß auf diesen Prozeß genommen haben, selbst aber in vielen Fragen zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind.

Trotz aller Schwierigkeiten sieht Khoury für die islamische Diaspora eine echte Chance, eine wegweisende Richtung zu finden und einzuschlagen. Die Muslime dürften sich seiner Meinung nach in dieser Situation am Geist der koranischen Freiheit orientieren und sich ein Lebensmodell entwerfen, das der koranischen Intention entspricht und sie in der Freiheit des Gottesglaubens bestärkt. Er glaubt eine große Flexibilität in der Anwendung der islamischen Überlieferungen auf je neue Herausforderungen feststellen zu können.

Die Führer der mehrere Hundert zählenden islamischen Gemeinden in der Bundesrepublik rechnen einhellig mit der Dauerpräsens ihrer Gemeinden in Deutschland. Man kann davon ausgehen, daß sie auf die eine oder andere Weise Modelle des Zusammenlebens finden werden, weil sie solche finden müssen. Unrealistische Vorstellungen dürften hierbei die geringsten Chancen haben oder aber bestimmte Teile der islamischen Gemeinden in ein Ghetto führen. Khoury’s Buch ist ein erhellender Beitrag, um die Dramatik der religiösen Auseinandersetzung innerhalb des Islam zu erkennen. Es ist eine verständliche, aber keine schnelle Information für den Leser, der dieses Drama verfolgen möchte und sich hierbei den Akteuren innerlich verbunden fühlt.

Buchbesprechung vom 10.1.1986
Adel Theodor Khoury:
Islamische Minderheiten in der Diaspora
1985,192 S. DM 26,50
für eine Veröffentlichung des
Matthias-Grünewald-Verlag Mainz
Chr. Kaiser Verlag München