Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1984

Der Fremde als Weltbürger
Religionsphilosophische Perspektiven

Referat zum Wohnungspolitischen Fachgespräch
"Mit Ausländern leben"
des DEUTSCHEN VERBANDES FÜR WOHNUNGSWESEN,
STÄDTEBAU UND RAUMPLANUNG e.V. BONN,
am 14. März 1984 in Frankfurt/Main, Industrie- und Handelskammer
INHALT

1. Der Fremde in vielerlei Rolle

Der Fremde

  • als Freund oder Feind,
  • als Eindringling oder Gast,
  • als Sklave oder Herr,
  • als Gott oder Untermensch,
  • als Söldner oder Händler.

Der Fremde

  • als Vertriebener, Flüchtling, Ausländer;
  • als Jude, Ungläubiger, Muslim;
  • als Gefangenert Hilfswilliger und Fremdarbeiter;
  • als Russe, Engländer und Franzose
  • als Schwarzer und Türke.

Der Fremde

  • als Beisasse
  • als Sündenbock
  • als Exot.

Der Fremde

  • als Schatten.

In all diesen und ungezählten anderen Rollen hat die Geschichte Menschen auftreten lassen, haben wir sie auftreten lassen, sind wir selbst aufgetreten, fremd als Subjekte, fremd als Objekte, Fremde als Opfer, aber auch als Täter.

2. Die ungeklärte Rollenzuweisung in der Bundesrepublik

2.1. Der Gastarbeiter

Die Rollenzuweisung für die Fremden, die als arbeitende Menschen aus anderen Ländern in die Bundesrepublik geholt wurden, scheint bis auf den heutigen Tag nicht geklärt zu sein. Was anfänglich zutreffend wirkt, verliert im Laufe der Jahre diese Eigenschaft, andere Rollenzuweisungen, andere Benennungen werden erwogen und doch erweist sich die ursprüngliche, die Rollenzuweisung als "Gastarbeiter" als beste und wirkungsvollste. In Bonn war man seinerzeit geradezu glücklich über die freundliche Benennung, durch die man an dem geschichtlich belasteten Begriff "Fremdarbeiter" vorbeikam. Im "Gastarbeiter" klang die ganze Dankbarkeit und Freude mit, Menschen gefunden zu haben, die uns helfen würden, den unaufhaltsamen Aufschwung zu garantieren. Dafür wollten wir sie möglichst freundlich behandeln. Als Gäste, bei denen wir uns eher heimlich darüber freuten, daß sie als solche nicht immer hier blieben, auf jeden Fall nur so lange, wie wir sie bräuchten. Der ganze archaische Respekt vor dem Gast schien mitzuschwingen, vor dem Gast allerdings, der Fremder blieb und irgendwann wieder in die Fremde zurückging.

Dennoch, es gab den Versuch von dem als zu euphorisch eingeschätzten Begriff wegzukommen. So machte der WDR, ich glaube, Ende der 60er Jahre, ein Preisausschreiben mit dem ein anderes, treffendere Wort als "Gastarbeiter" gesucht werden sollte (1). Über 32.000 Einsendungen erreichten den Westdeutschen Rundfunk, ein beachtliches Echo, das auf eine veränderte Bewußtseinslage oder doch auf eine erhöhte Sensibilisierung hinwies. Eine veröffentlichte Auswahl der eingesandten Vorschläge umfaßt gutgemeinte und abwertende Bezeichnungen, Spottnamem, Wortschöpfungen, aber nach dem Eindruck der Jury keine überzeugende Alternative, es sei denn, daß der Begriff "ausländische Arbeitnehmer" mit großer Mehrheit als der unter den gegenwärtig gebräuchlichen Bezeichnungen als der am wenigsten mißverständliche gewertet wurde. Viele Namen sind nur eine Variation der Bezeichnung "Gastarbeiter".

So:

  • Arbeitende Gäste,
  • Bedarfsarbeiter,
  • Besuchstätige, Erlaubtarbeiter,
  • Fernbeschäftigte,
  • Fremdbürger,
  • Gastbürger,
  • Gastdeutsche,
  • Gasttätige,
  • Hilfsdeutsche,
  • Leiharbeiter,
  • Lohndeutscher,
  • Mietarbeiter,
  • Südarbeiter,
  • südländischer Arbeitnehmer,
  • Zeitgast und
  • Zeitpartner.

Eine andere Vorstellungsreihe sucht die menschlich humanitäre Ausdrucksform wie

  • Auslandsgenossen,
  • Ausländerkameraden,
  • Ausländermitmenschen,
  • Bruderarbeiter,
  • Eurobrüder,
  • Mitbrüder und Mitschwestern,
  • Mitbürger;

und schließlich auch der interessante Begriff:

  • eingesiedelte Schutzbürger.

2.2. Der ausländische Mitbürger

Eine Rollenzuweisung nimmt naturgemäß auch das Beratungsergebnis der Arbeitsgruppe des Arbeitskreises Städtebaupolitik, das heute zur Diskussion steht, vor, insofern es den Arbeitstitel "Wohnungspolitik für ausländische Arbeitnehmer" trägt. Damit ist ein Sprachgebrauch übernommen, der sich wohl über die Gewerkschaften als offizieller durchgesetzt hat; allerdings verwendet etwa die Bundesregierung diesen Ausdruck bereits seit Jahren in einer erweiterten Form, insofern in den Regierungsunterlagen von den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien gesprochen wird. Dieser Terminus war in der Zeit, als es noch um eine stärkere Integrationspolitik ging, eine Art Anerkennung des fortgeschrittenen Einwanderungsprozesses, der aber als solcher nicht beim Namen genannt werden durfte.

Daher lässt der Arbeitstitel des Beratungsergebnisses, wo nur von den ausländischen Arbeitnehmern die Rede ist, nicht ahnen, zu welcher Konsequenz das vorliegende Konzept in seiner Rollenzuweisung vordringt. "Es erscheint" - so die allgemeine Feststellung - "unumgänglich, die ausländischen Arbeitnehmer aus ihrem rechtlichen und sozialen Status als 'Gastarbeiter' herauszuführen" (2). Damit stellt das Arbeitspapier fest, daß die ausländischen Arbeitnehmer im Grunde immer noch Gastarbeiter sind. Sie sollen es wohl auch bleiben, wobei gerade der Ausdruck "Gastarbeiter" für eine entsprechende Politik äußerst hilfreich sein könnte. In der Ablehnung der Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer heißt es in einem Kommentar der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung",1980: "Die Ausländer sind Gäste, waren willkommen, haben Anspruch, nicht ohne weiteres ihrer Wege geschickt zu werden. Wenn sie eines Tages weniger willkommen sind, müssen sie sich den Regeln des Gastgebers fügen, wie Gäste das überall zu tun haben"(3). Diese Auffassung hat sich gesellschaftlich und politisch im Grunde wieder durchgesetzt, oder hat vielleicht auch nie in Frage gestanden. Die allgemeine Feststellung der Arbeitsgruppe setzt damit einen anderen Akzent; erst recht da, wo sie den Status beschreibt, in den die "Gastarbeiter" kommen sollten. Er kann nach meiner hoffentlich korrekten Deutung mit den Worten des Papiers als "Anerkennung der Ausländer als Bürger" umschrieben werden. Die Kurzformel für die neue Rollenzuweisung wäre "Gastarbeiter gleich Bürger".

Diese Kurzformel könnte an den ähnlich klingenden Titel eines Buches erinnern, das 1971 erschienen ist. Dieser Titel verbindet den Begriff Gastarbeiter und Mitbürger mit einem Gleichheitszeichen: "Gastarbeiter = Mitbürger" (4). Mir ist nicht bekannt, wer die Benennung "ausländische Mitbürger" geprägt oder in unseren Sprachgebrauch eingeführt hat. Jedenfalls ist der ausländische Mitbürger sicher durch die Kirchen favorisiert worden, nicht zuletzt durch den "Tag des ausländischen Mitbürgers", den die Kirchen ins Leben gerufen haben und in bestimmten Abständen, vielleicht sogar künftig jährlich als "Woche der ausländischen Mitbürger" initiieren. Allerdings wird diese Bezeichnung, wo sie auf ihren Gehalt untersucht wird, erheblich kritisiert, etwa in dem Kommentar einer Berliner Zeitung (5.5.1983), weil eine Senatsanzeige von ausländischen Mitbürgern gesprochen hatte. Dabei kollidiere, so die Zeitung, die ständig auch offiziell wiederholte Floskel mit unserem "ungemein freiheitlichen und wirklich weise konzipierten Grundgesetz". Die Verfassung setze unübersehbare Grenzen zwischen dem deutschen Mitbürger und dem ausländischen Mitmenschen. Dies in offiziellen Verlautbarungen zu verwischen, fördere nicht die viel zitierte Integration, sondern Missverständnisse, falsche Erwartungen und Fehlurteile (5). Ähnlich argumentiert ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6): Kirchen, Gewerkschaften, aber auch konservative Politiker verwendeten die Bezeichnung "ausländische Mitbürger" bevorzugt. In ihr stecke gleichsam eine Umarmung, ein Signal zur Integration, zum friedfertigen Zusammenleben. Die Bezeichnung wird aber von der FAZ für schlicht falsch gehalten. Es steckten in ihr Verniedlichung und leiser Betrug. „Mitbürger hieße doch: Staatsbürger, also Deutscher im Sinne des Art. 116, I Grundgesetz". Wenn Mitbürger im Sinne von Vollbürger gemeint ist, ist diese Kritik gerechtfertigt, wenigstens was den faktischen Zustand betrifft. Vielleicht liegt aber in diesem Begriff und in seiner Verwendung die Vorstellung des Beibürgers, des Beisassen und Schutzbürgers früherer Zeiten, der mit dem eigentlichen Bürger, vor allem dem Grundbesitz-Bürger keineswegs gleichgestellt war. Die Verwendung des Wortes Mitbürger in der Verbindung mit „ausländischer" dürfte eigentlich dieses Verständnis nahelegen; denn ich kann einen Vollbürger nicht als ausländischen Bürger bezeichnen, dies wäre ein Widerspruch in sich. Somit liegt es durchaus nahe, die Verwendung des Begriffs "ausländische Mitbürger" als einen wohlmeinenden Aufruf, als eine sympathische Anregung zu verstehen, die betroffenen Menschen so ähnlich wie Bürger zu behandeln, bzw. ein konfliktfreies und humanes Zusammenleben von Menschen mit einem durchaus unterschiedlichen Rechtsstatus zu ermöglichen.

So aber war der Titel des Buches "Gastarbeiter = Mitbürger", der den ersten "Tag des ausländischen Mitbürgers", der 1970 nur regional, und zwar in Hessen begangen wurde, nicht gemeint. "Dieses Buch", so heißt es in der Einleitung, "hat ein politisches Ziel: Die menschliche, soziale und rechtliche Gleichstellung derjenigen Mitbürger, die man zu Unrecht Gastarbeiter nennt" (7).

Mit dieser Vorstellung wurde auch der erste "Tag des ausländischen Mitbürgers" vorbereitet und durchgeführt. Er stellt m.E. einen bedeutsamen Wandel im kirchlich-sozialen Engagement dar, insofern die Ebene des reinen Appells und der Hilfe im Einzelfall um die politische Ebene erweitert wurde. So heißt es in einem der Aufruf-Texte: "Wir blicken auf zehn Jahre der Appelle zurück: Seit nett auch zu den Gastarbeitern! Auch Gastarbeiter sind Menschen". Ein anderer Text formuliert es so: "Ein Mensch in Not braucht individuell Hilfe. Es ist jedoch mit dieser humanitären Hilfe allein das Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung nicht zu lösen. Wir müssen Partei ergreifen für die 'Neger Europas' (Danilo Dolci) ... Das Gastarbeiterproblem ist ein Teil des Weltproblems der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit"(8).

Daher kann die Verwendung eines Begriffs "Mitbürger" auf die Fremdarbeiter durchaus als ein Programm verstanden werden, das sich nicht in einer hilfreichen Zuwendung zum Fremden erschöpft, sondern erwiesenermaßen nachdrücklich, allerdings auch mit dem Zugeständnis nur schrittweiser Realisierung, die Angleichung der Rechtsstellung der Fremden an die der Einheimischen betreibt. Somit lässt sich die Begriff gleichzeitig mit faktischer Rechtsungleichheit, mit geforderter Rechtsgleichheit, sogar mit dem dynamischen Prozess von einen zum anderen Status assoziieren.

3. Der Fremde in der Rollenzuweisung jüdisch-christlicher (islamischer) Tradition

Warum aber gerade diese Benennung eine bedeutsame Rolle zum Teil im Bewußtsein, zum Teil sogar im Unterbewußtsein der Kirche spielen kann, habe ich für mich selbst zu verstehen gesucht. Meine Gedanken hierzu eröffnen vielleicht einen religionsphilosophischen Horizont, der über die Traditionen des Christentums in das Judentum, in den Orient, in die religiöse Kultur von Nomaden, Halb-Nomaden, Sesshaft-Gewordenen und vielleicht auch nie Sesshaft-Werdenden hineinreicht. Vielleicht werden die Umrisse eines Menschen erkennbar, der sich selbst immer fremd bleibt, der sich als Fremder erfahren hat, sich als solcher versteht, der den Fremden als Freund benötigt, aber gerade als Fremder auf der ganzer Welt zuhause sein möchte, auf einer Erde, die er als Steppe oder Wüste, als Paradies oder Gelobtes Land, als unendliche Region der Einwanderung, als provisorisches Aufnahmeland, aus dem er im ewigen Exodus wegstrebt, erleidet oder erhofft.

3.1. Der Emigrant Abraham

Ich erinnere an eine der großen Traditionsgestalten von Judentum, Christentum und Islam, an den Patriarchen Abraham, dessen angebliches Grab in Hebron eine der bedeutenden Wallfahrtsstätten dieser Religionen, und damit bei den Spannungen im Vorderen Orient gleichzeitig auch Brennpunkt religiös-politischer Auseinandersetzungen ist. Abraham gehörte wahrscheinlich zu einer Gruppe halbnomadischer Einwanderer, die zwischen 2000 bis 1700 v. Chr. aus der syrisch-arabischen Wüste und Mesopotamien in Syrien und Kanaan einwanderten. Die Auswanderung aus dem Ur der Chaldäer wird religiös motiviert. Sicher gehörten aber auch politische und wirtschaftliche Gründe dazu.

Mit dem Namen Abraham ist eine der ergreifenden Ätiologien, d.h. Begründungserzählungen für die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Gast- und Fremdenrechts, die über die Zeit der Erzväter der Bibel hinaus auf uralte Traditionen der Menschheit verweist, verbunden. Ein Fremder mit seinen zwei Begleitern hat sich in der Glut der Mittagshitze dem Zelt Abrahams genähert. Abraham nötigt ihm seine Gastfreundschaft auf und bewirtet ihn fürstlich (9). Die Bibel interpretiert diese Begegnung als eine Begegnung mit dem Herrn: Der Fremde ist Gott. Damit hat jeder Fremde etwas Göttliches; es könnte ja Gott selbst sein, der als Gast einkehrt. So wird Abrahams Zelt zum Tempel, ähnlich wie die Hütte von Philemon und Baucis, des alten Ehepaars, das allein von allen Menschen Jupiter und Merkur auf ihrer Migration gastlich aufnahm, Die Götter überschwemmten darauf die ganze Umgebung, die Hütte der beiden verwandelten sie aber in einen prächtigen Tempel.

Abraham wird zum Vater nicht nur des Volkes Israel, sondern auch zum Vater vieler (aller) Völker, nicht zuletzt zum Vater der Christen und Muslime. Bis zum Ende bleibt er allerdings der Fremde, wenn er bei den Hethitern eine Grablege für seine Frau Sarah erbittet und dieses Ersuchen mit den Worten einleitet: "Ich bin ein Ausländer und lebe nur als Gast bei euch" (10 .

Als ein Emigrant, der auswandert und Grenzen überschreitet, um die verheißene Lebenserfüllung für sich und seine Nachkommen zu erreichen, wird er zum Prototyp dreier Hochreligionen, die die westlichen und Teile der östlichen Hemisphäre geprägt haben. Gleichzeitig ist er aber auch als der Urahn und Vater vieler Völker ein die Universalität dieser Religionen bestimmendes Prinzip. So ist jede dieser Religionen eine Weltreligion, die auf die ganze Welt und alle Menschen ausgerichtet ist und diese als die eine Menschheit auf der einen, gemeinsamen Erde betrachtet.

3.2. Der Exodus des Volkes Israel

Zum wesentlichen Traditionsgut von Juden und Christen gehört neben der Erinnerung an den Migranten Abraham auch die kollektive Erfahrung des Volkes Israel, das aus Ägypten aus - und nach Kanaan einwandert. Dabei wird diese Auswanderung als Exodus aus feindlicher Fremde und Einwanderung als Rückkehr in die Heimat, in das Gelobte Land verstanden. Es ist eine Art Aufhebung bzw. Umkehrung der Vertreibung der Stammeltern Adam und Eva aus dem Paradies.

Die vornehmlich über das jüdische und dann auch über das christliche Osterfest erinnerte und verinnerlichte Erfahrung des Exodus als befreiende Auswanderung schlechthin ist migrationssoziologisch und religionsphilosophisch von besonderem Interesse, weil ein aktueller Bezug nicht mühsam hergestellt werden muß, sondern sich geradezu aufdrängt.

In der Erinnerung des Volkes Israel stellt sich sein Aufenthalt in Ägypten zwischen Einwanderung und Exodus in folgenden Etappen dar (11): Jakob und seine Söhne wandern als Hirtennomaden in den Ostteil Ägyptens ein, weil sie für ihre Herden keine Weide mehr finden und ihnen eine Hungersnot droht. Der Pharao duldet die Einwanderung, zumal er in begrenztem Umfang Arbeitskräfte benötigt. Er zeigt sich an tüchtigen und gesunden Männern interessiert, die seine Herden betreuen.

Die Israeliten indes, bleiben über Generationen in Ägypten und vermehren sich als eingewanderte Bevölkerung zusehends.

Als sich das politische Klima verschlechtert, vermittelt der Pharao seinem eigenen Volk: Die Hebräer werden zu zahlreich und zu stark. Er empfiehlt daher eine "Konsolidierungspolitik", die ein weiteres Anwachsen des Volkes Israel verhindern soll. Zwei Gründe scheinen für seine Politik maßgebend zu sein: Machtkämpfe im Innern und Druck von außen lassen ihn um seine Macht fürchten. Diese Bedrohung projiziert er auf die hebräische Minderheit. Er unterstellt ihr für den Kriegsfall mangelnde Loyalität. Sie könnten im Falle eines Krieges das Land verlassen, zu den Feinden übergehen und gegen Ägypten kämpfen.

Durch das Misstrauen, das er gegen die Hebräer erzeugt, strebt er wohl die Absicherung seiner Macht an. Die öffentliche Abwertung der Israeliten erlaubt es ihm auch, sie für entfernte Kriegsvorbereitungen in der Form der Anlage von Magazinen und Vorratsstädten als kräftige und billige Arbeitskräfte einzusetzen, denen er überdies noch durch harte Arbeit die Lust am Kinderkriegen nehmen will. Das Volk Israel wird zu harter Fronarbeit gezwungen.

Je mehr das Volk bedrückt wird, umso zahlreicher wird es und umso stärker breitet es sich aus.

Nun will der Pharao das Volk an der Wurzel seiner Lebenskraft treffen und befiehlt seinen Hebammen, die hebräischen Knaben bei der Geburt zu töten. Die im sozialen Dienst stehenden Hebammen verweigern diesen Henkersdienst mit dem bezeichnenden Hinweis, die Hebräerinnen seien im Unterschied zu den ägyptischen Frauen so lebenskräftig, daß sie schon geboren hätten, ehe sie als Hebammen zur Stelle wären. Das Volk wächst weiter, so daß der Pharao den Holocaust-ähnlichen Befehl erteilt, alle Knaben der Hebräer, die geboren werden, in den Fluß zu werfen. Dem Volk ersteht in Moses, der am Hof des Pharao erzogen und als völlig integriert und assimiliert gelten muß, ein Führer, der den Willen der Minderheit zur Wahrung seiner Identität, zur Befreiung und zum Exodus repräsentiert und den Wegzug seines Volkes auf dem Verhandlungswege zu erreichen sucht.

Damit sieht der Pharao seine vorgeschobenen Befürchtungen bestätigt, es fehle den Hebräern an der notwendigen Loyalität. Außerdem will er nicht einen so wertvollen Teil seiner Arbeitsbevölkerung verlieren. Er beantwortet das Ersuchen des Volkes auf Auszug und Reintegration mit noch größerer Repression. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit stellt das Volk als faul hin, dem man durch Mehrarbeit seine törichten Gedanken austreiben müsse.

Nur durch verheerende Plagen, die am Ende an die Substanz des eigenen Volkes gehen, lässt sich der Pharao bewegen, die Auswanderung - wohl nur zum Schein - zu gestatten. Es könnte in seiner raffinierten Planung gelegen haben, den für ihn uninteressanten Teil der Auswanderer letztlich ziehen zu lassen und den für ihn wichtigen Bevölkerungsteil wieder einzufangen und dann rigoros als Sklaven einzusetzen. Das Selektionsprogramm scheitert, die militärisch hochgerüsteten Sklavenjäger kommen am Schilfmeer um.

Das Volk Israel feiert den Sieg über die Ägypter am Schilfmeer und den gelungenen Exodus als die Großtat Gottes.

Der Exodus wird über Jahrtausende bis auf den heutigen Tag als Grunderfahrung nicht nur der Juden sondern auch der Christen in Erinnerung gerufen und gefeiert. Allerdings hatte der Exodus seine Bewährung auf einem existenzbedrohenden Wüstentreck zu bestehen, auf dem das Volk immer wieder der Versuchung zu erliegen drohte, an die Fleischtöpfe Ägyptens zurückzukehren und die damit verbundene Unfreiheit in Kauf zu nehmen.

Die Einwanderung ins Gelobte Land, das von Milch und Honig fließen sollte, hatte den Charakter einer Eroberung, der kriegerischen Landnahme, mit der eine Dezimierung und Unterdrückung der autochthonen Bevölkerung verbunden war. Um dies aber zu legitimieren, schildert die Bibel den Einzug der Israeliten in Kanaan nicht als Eroberungszug eines fremden Volkes, sondern als Rückkehr der Stämme, die einst in einer längst vergangenen, aber nicht vergessenen Zeit im Lande gewohnt hatten. Der Schriftsteller und Politiker Abba Eban: "Das Volk, das jetzt zurückkehrte, hatte das ‚Gelobte Land’ zwar nie gesehen, aber doch seit` Generationen davon geträumt" (12). Einwanderung also hier verstanden nicht nur als Rückkehr ins Paradies, sondern auch als Rückkehr in das Eigene. Trotz weitgehender Assimilierung der ursprünglichen Bevölkerung blieb das Verhältnis des Volkes Israel zu den Fremden im Land nicht unproblematisch, so daß es von den Propheten immer wieder ermahnt wurde, sich seiner Vergangenheit in Ägypten zu erinnern und die Fremden im eigenen Land nicht zu unterdrücken, sondern wie seinesgleichen zu behandeln.

Die Glaubens- und Lebenserfahrung von Nomaden, von Emigranten, von Unterdrückten und befreiten Sklaven, von Einwanderern und auch von Unterdrückern steht am Anfang von Judentum und Christentum und bestimmt eine Befindlichkeit, die ich in aller Ambivalenz und sogar Vieldeutigkeit als existentiell bestimmende Migrantenmentalität bezeichnen möchte. Daß damit das Gefühl für Grenzenlosigkeit und Universalität verbunden ist, möchte ich an der christlichen Traditionsgeschichte zu belegen versuchen.

3.3. Die Kirche als Migrantengeselllschaft

3.3.1 In der Urkirche

Das Lebensgefühl der Christen war zumindest in den ersten Jahrhunderten ein zwiespältiges ambivalentes. Sie bewohnten jeder sein Vaterland, aber wie Beisassen, wie Scbutzverwandte, also wie nicht ganz dazugehörige Nebenbürger: Sie nehmen an allem wie die (Voll-)bürger teil, erleben aber alles wie irgendwie Fremde. Das ist eine Beschreibung aus dem fiktiven Brief eines anonymen Verfassers um 200 n. Chr. an einen gewissen Diognet, ein Brief der als Apologie , als Verteidigungsschrift, verfasst war. Das darin angedeutete dialektische Bewusstsein gipfelt in dem Satz: "Jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland Fremde" (13.

Bereits in den ersten Schriften ihrer Gemeinschaft verstehen sich die Christen als in dieser Welt lebende Fremde, als Beisassen, als Paroiken, ein Begriff, der sich über lateinisch Parochia, Pfarrei, erhalten hat und die christliche Gemeinde als Gemeinschaft von Fremden und Beisassen versteht, die letztlich nirgends hingehören und doch überall zuhause sein können.

Diesem Fremdsein in den politischen und gesellschaftlichen Strukturen entspricht ein letztes Zuhausesein, das als Himmel umschrieben wird und das in der Gemeinschaft der Kirche bereits seinen Anfang nimmt, Paulus beschreibt dieses Spannungsverhältnis in einem Brief an die Gemeinde in Ephesus, eine der bedeutendsten Städte des Altertums in West-Kleinasien. Paulus hatte dort mehrere Jahre gelebt und mußte wegen „geschäftsschädigendem" Verhalten vor den Devotionalienhändlern des Tempels der Artemis von Ephesus flüchten. Paulus schreibt "Ihr seid nicht mehr Xenoi, das heißt Fremde, bzw. Gäste und auch nicht mehr Paroiken, Bei- oder Nebenbürger, sondern Mitbürger der Heiligen und gehört zum Haus und zur Familie Gottes" (14),

Die existientielle Fremdheit des Menschen in der Welt und auch vor Gott ist in dem neuen Glaubensverständnis aufgehoben und durch eine gleichberechtigte Vollbürgerschaft im Hauswesen Gottes ersetzt. Wörtlich könnte man so übersetzen: Ihr seid nicht mehr Neben-Häusler, als Menschen minderen Rechts, sondern vollwertige Familienmitglieder und Vollbürger einen neuen Gemeinwesens. Sympolitai ist das griechische Wort für Mitbürger, wie es die kirchliche Sprache heute verwendet, zumindest dürfte diese Bedeutung mitschwingen. Dabei wird trotz des religiösen Ursprungs deutlicher, dass „Mitbürger" in einem Sinne verstanden wird, der ursprüngliches Vollrecht des Eingesessenen von dem nachträglich an den Fremden verliehenem unterscheidet. D.h. Beisassen werden zu Bürgern deklariert und mit den gleichen Rechten wie die Ursprungsbürger ausgestattet.

Eine weitere Dialektik macht den Fernen zum Nahen, zum Gruppenfreund. Dabei wird aus dem Neuen Israel, wie sich die Christen verstehen, eine Gemeinschaft aus allen Völkern und Nationen, in der es nicht mehr heißt, Heide oder Jude, beschnitten oder unbeschnitten, Barbare, Skythe, Sklave oder Freier (15). Damit gelten Vorstellungen als eingelöst, auf die der Glaube Israels als auf die Erfüllung dessen, was Abraham versprochen war, eingestellt war.

Daß dies in den frühen Gemeinden keine Fiktion, sondern Realität war, bestätigen die kritischen Stimmen aus der damaligen und heutigen Zeit. 1981 ist in Tübingen ein Buch erschienen, in dem der führende Kopf der Neuen Rechte Frankreichs, Alain de Benoist, in scharfer Form mit dem Christentum abrechnet. Dabei erwähnt er, daß sich die ersten Zentren der christlichen Propaganda in Antiochien, Ephesus, Thessaloniki und in Korinth gebildet hätten. ."In diesen großen Städten, wo Sklaven, Händler und Eingewanderte in ständigem Verkehr mit den Kaufleuten lebten, wo alles zu verkaufen und zu kaufen war, wo die Prediger und die Schwärmer in immer größerer Zahl um die Gunst der brodelnden, buntgescheckten Menge buhlten, fanden die ersten Apostel ein aufnahmebereites Terrain". Syrer, Asiaten und die ganze Masse der Graeculi, die ohne eigene Gemeinschaftstraditionen waren, werden als die aufgeführt, die die christliche Botschaft mit Begeisterung aufgenommen hätten. Den Alten sei das Christentum als Sklaven- und Heimatlosenreligion erschienen (16).

3.3.2. Nach der konstantinischen Wende

Die Wende kam mit Konstantin, dem römischen Kaiser, der 313 mit dem Edikt von Mailand den Übergang des Christentums von einer Religion der Fremden und Heimatlosen zur Staatsreligion einleitete, und dazu beitrug, daß sich die Christen im Staat nicht mehr als Beisassen, sondern als Vollbürger verstanden, irgendwie aber als Vollbürger in zwei Reichen, in dem der Erde und in dem des Himmels; wobei die römische Basilika vielleicht als Symbol sakralisierter Sesshaftigkeit gedeutet werden kann.

Das Fremd- uns Unterwegssein als grundlegendes Lebensgefühl wurde künftig nur noch von elitären Minderheiten auf alternative Weise realisiert, etwa von den Wandermönchen und Wüstenvätern, von den Mönchs- und Armutsbewegungen, von den Pilgern auf den quer durch Europa führenden Pilgerstrassen, von den Kreuzfahrern, den Landsknechten, Entdeckern und Missionaren.

Der Fremde aber wird wieder in klassischer Weise der Andere, zu dem die Christen ihr genuines Verhältnis suchen, ohne es bis auf den heutigen Tag wiedergefunden zu haben. Mahnend verweist Ambrosius, 140 in Trier geboren und später als Biscbof von Mailand einer der großen Lehrer der Kirche, auf jüngste Ereignisse in Rom. Leute, die bereits den größten Teil ihres Lebens dort zugebracht hätten, habe man aus der so weitausgedehnten Stadt gejagt, Mit Tränen in den Augen seien sie mit ihren Kindern fortgezogen, deren Verbannung man beweinte, weil sie als Bürger nicht davon hätten betroffen werden sollen. Ambrosius versucht ähnliches in Mailand zu verhindern, indem er sich an die Öffentlichkeit wendet: "Man darf denen keineswegs beipflichten, die den Fremden den Aufenthalt in der Stadt verbieten wollen, sie in dem Augenblick, da sie ihnen helfen sollten, fortjagen, ihnen den Anteil an der gemeinsamen Mutter (gemeint ist die Erde) versagen, deren Erzeugnisse verweigern, die für alle hervorgebracht sind, die bereits eingegangene Lebensgemeinschaft mit ihnen abbrechen, in der Zeit der Not mit ihnen den Unterhalt nicht teilen wollen, nachdem sie im gemeinschaftlichen Rechtsverkehr mit ihnen gestanden" (17). Ambrosius verweist auf die wilden Tiere, die ähnliches nicht täten, und die Nahrung, welche die Erde darbietet als allen gemeinsam betrachteten. Seine aufrüttelnde Predigt findet ihren Höhepunkt in dem Satz: Es könne keine größere Schmach geben, als jemanden wie einen Landfremden fortzutreiben und damit gleichsam den eigenen Bruder hinauszustossen.

Kann man sich vorstellen, daß eine ähnliche Rede heute notwendig wäre, und ein Bischof hier so spräche ? Ich denke schon ! Ähnliches ist auch in der Bundesrepublik von Bischöfen gesagt worden, die damit in einer ebenso langen wie großen Tradition stehen.

Ein wesentliches Element dieser Tradition, das bereits von Bischof Ambrosius in aller Deutlichkeit herausgestellt wird, ist das Recht des Menschen an den Gütern dieser Erde, bzw. die Auffassung, wie sie gerade in jüngster Zeit kirchlicherseits bekräftigt wird, daß die Erde dafür da ist, um jedem die Mittel für seine Existenz und seine Entwicklung zu geben, und jedem Mensch das Recht zusteht, auf ihr das zu finden, was er nötig hat. Von daher leitet die Kirche auch das Recht auf Aus- und Einwanderung ab. Schließlich höre ein Mensch, der Bürger eines bestimmten Staates sei, keinesfalls auf, Mitglied der Menschheitsfamilie und Bürger dieser universalen Gesellschaft und der Gemeinschaft aller Menschen zu sein (18). Ich könnte auch sagen: Der Fremde wird zum Weltbürger deklariert. Wichtig dabei ist, daß die Kirche diese Auffassungen nicht nur als intern verpflichtendes Glaubensgut betrachtet, sondern ihnen einen menschenrechtlichen Belang beimißt, den in der Welt durchzusetzen Aufgabe der Kirche ist.

3.3.3. Heutige Migration und Kirche

Für diese Aufgabenstellung verfügt die katholische Kirche über diverse Grundsatzdokumente, von dem eines aus dem Jahre 1978 den höchst bedeutsamen Versuch darstellt, die heutige Weit unter der Kategorie der Mobilität zu verstehen, und sie mit der Vision von der Einheit der Menschen in Zusammenhang zu bringen. Da dieses päpstliche Schreiben mit dem Titel "Kirche und Mobilität des Menschen" (19) an alle Bischofskonferenzen auf der Welt gerichtet ist, kommt ihm in der internen Einstufung der Verbindlichkeit ein hoher Rang zu. Das gilt trotz der Tatsache, daß eine breitere Rezeption der in dem Dokument vorgelegten Gedanken noch aussteht.

Die heutige Mobilität wird gleichermaßen als Ursache und Auswirkung des technischen und wissenschaftlichen Zeitalters betrachtet und als Phänomen gewertet, das eine rapide und tiefe Veränderung in alle Kontinenten hervorruft. Als eine der wichtigsten Ursachen wird die Entwicklung der internationalen Beziehungen betrachtet, die eine Interdependenz und zwar vor allem eine wirtschaftliche, geschaffen hat. Die Ambivalenz dieser erhöhten Mobilität zeigt sich aber vor allem darin, daß sie das Ergebnis einer ungleichen Verteilung der Mittel im Weltmaßstab ist, weil die Emigrationsländer vorwiegend die ärmeren sind, während die Länder der Immigration Wohlstandsländer sind, mit starker Konzentration der industriellen Kräfte. So kann die Kirche auch nicht nur an eine freie und freiwillige Migration denken, sondern an eine erzwungene Emigration in dem Bedürfnis nach Arbeit als Alternative zur Arbeitslosigkeit oder der Unterbeschäftigung und in der Notwendigkeit, sich Regimen zu entziehen, die die Grundrechte des Menschen unterdrücken.

Dennoch verfolgt die Kirche offensichtlich die Gesamtentwicklung einer erhöhten Mobilität mit großer Sympathie und betrachtet sie trotz der kritischen Einschätzung der unmenschlichen Folgen erzwungener Migration letztlich als eine neue positive Phase der Menschheitsentwicklung: "Die Welt ist klein geworden, die Grenzen fallen, der Weltraum ist geschrumpft, Entfernungen verschwinden, das moderne Leben wirkt sich bis in die entlegensten Winkel aus" (20). Die Mobilität wird Schicksal der Allgemeinheit, die Welt befindet sich im Umbruch, sie ist in eine neue geschichtliche Phase eingetreten.

Die Kirche verbindet mit diesem Prozess die Erwartung, daß sich die Tendenzen einer rechtlichen und politischen Einheit der Menschheit, oder kirchlich gesprochen: der menschlichen Familie immer mehr durchsetzen. Dieser Einheit der Menschheit fühlt sich die Kirche vom Wesen her verpflichtet, bereits insofern, als sie selbst als weltweite universale Organisation strukturell und weltanschaulich die Einheit der Menschheit vorwegnehmen will und dieser Einheit als Sache des Friedens zu dienen bereit ist. Deshalb kann es der Kirche nicht darum gehen, Migration und Mobilität abzuschaffen, so sehr es auch verwundern mag, daß eine Institution mit einer deutlich geistigen und strukturellen Seßhaftigkeit und Immobilität auf Mobilität setzt. In einer globalen Sicht betrachtet es die Kirche als ihre Aufgabe, daß Migration, von ihren negativen Aspekten gelöst, menschenwürdiger wird und immer mehr - sowohl für die Menschheit, wie für die Kirche - zur Einheit beiträgt.

Der Einsatz der Kirche, ihre besondere Nähe zur Migration und Mobilität wird aus einer spezifischen Solidarität abgeleitet, in die die Kirche noch starker hineinwachsen will und muß. Diese Solidarität ergibt sich in einem allgemeinen Sinn als engste Verbundenheit mit der Menschheit und damit als Partizipation an deren Sorge und Hoffnung.

Spezifischer wird diese Solidarität verstanden als Gemeinsamkeit, die sich aus der Migration selbst ergibt, weil sich die Kirche auf den Spuren des Volkes Israel wandern sieht, eines Volkes, das im Exodus die Befreiung aus der Sklaverei erlangte und in der Migration auf das Gelobte Land hin am Plane Gottes mitarbeitete. Die Kirche will dem Beispiel des Moses folgen, der auf den Ruf seines Volkes hörte. Ebenso will auch die Kirche auf die Sorge der Welt in der Mobilität hören und sie zu ihrer eigenen Sorg machen. Unterwegssein und pilgern wird dabei als Sinn des Lebens definiert, wobei das Ziel der Migration auf dieser Erde die Rückkehr, die Reintegration zu Gott, ich würde sagen die Reintegration im Paradies bedeutet. Christliches Leben ist Passage, ein Transitus, eine sublime Migration zu einer vollkommenen Einheit und Gemeinschaft, wo alles und alle in Christus einen neuen Anfang nehmen. Die kirchliche Gemeinschaft bezeichnet sich selbst als "Pilgerin auf dieser Erde" (21).

Nicht trotz, sondern wegen dieses durchaus nur für den Christen nachvollziehbaren Kontextes bleiben die auf die Migration bezogenen Aufgaben durchaus konkret, und zwar bis zur Anstößigkeit. Denn, so wie sich die Mobilität heute vollzieht, führt sie in der Realitätssicht der Kirche in der Gesellschaft oft zu Bereichen der Diskriminierung und des Ausgestoßenseins. Gebranntmarkt werden vor allem engstirniger Nationalismus und Rassismus. Selbstkritisch werden Teile der Kirche nicht davon ausgenommen, die gegen nationalistische Einflüsse, vor allem da nicht gefeit sind, wo die Mobilität besonders stark ist. Die Kirche will aber selbst Anwalt der Humanität sein und verpflichtet sich feierlich, die grundlegenden Rechte der Menschen zu verkünden und ihre Stimme dann anklagend zu erheben, wenn diese Rechte mit Füßen getreten werden. "Kernpunkt der kirchlichen Darlegungen ist die Würde der menschlichen Person mit Ausschluß jedmöglicher Diskriminierung. Hier leiten sich die universalen, wesentlichen und unaufgebbaren Rechte ab, die zusammenfassend so formuliert werden können: Das. Recht, frei im eigenen Land zu leben, ein Heimatland zu haben, sich innerhalb des eigenen Landes frei bewegen zu können, ins Ausland auswandern zu können und sich dort aus legitimen Gründen niederzulassen und überall mit seiner Familie zusammenleben und über das Lebensnotwendige verfügen zu können; das Recht, das dem Menschen das ihm eigene ethnische, kulturelle und sprachliche Gut bewahrt und weiterentwickeln hilft, das Recht, öffentlich seine Religion auszuüben und in jeder Situation gemäß seiner menschlichen Würde behandelt zu werden" (22).

Gerade im Hinblick auf die Diskussion in der Bundesrepublik zwischen Deutscher Bischofskonferenz und dem Zentralkommitée der Deutschen Katholiken , ob das Gemeinwohl die Einschränkung von Menschenrechten erlaubt, gilt dann auch der Satz in dem von mir angezogenen Dokument, daß die praktische Anwendung dieser Rechte sich in den Begriff des Gemeinwohls einfügt, die ganze Völkerfamilie umfaßt und über jeglichem Klassen- oder Nationalegoismus stünde. Diese Rechte, die normalerweise nur für die Einzelperson gelten, werden von der Kirche aber auch auf Gemeinschaften, Gruppen und Minderheiten ausgedehnt, wobei es hier vor allem um Fragen der Gruppenidentität geht, die nicht einfachhin faktischen oder politisch gewollten Assimilierungsvorgängen geopfert werden darf.

4. Die Notwendigkeit einer kosmopolitischen Sicht

Als ich in der Vorbereitung dieses Referates an die jetzige Stelle gekommen war, hatte ich nicht nur den Eindruck, daß jetzt der Schlußteil fällig wäre, sondern auch das Gefühl, von Gedankengängen vorangetrieben worden zu sein, die Ihnen vielleicht weitgehend unbekannt waren und fremd bleiben könnten. Die Verantwortung dafür tragen, wenn meine Einschätzung stimmt, weitgehend die Veranstalter, die mir Religionsphilosophisches abverlangten. Und nun habe ich versucht, in einem Prozess, von dem ich selbst nicht wußte, wohin er führt, Existentiale eines Menschenbildes herauszustellen, das jüdisch-christlich bestimmt ist, wobei die charakteristischen Elemente, wenn überhaupt, dann nur mehr latent wirksam sind.

Unter Umständen könnte es hilfreich sein, wenn ich noch versuche darzulegen, in welchem konzeptionellen oder auch strategischen Kontext die angestellten Überlegungen stehen.

Dazu muß ich auf eine sozialpolitische Katastrophe verweisen, die ich auf den 2. Dezember 1981 datiere. Dies ist für mich das Datum einer integrationspolitischen Wende, die ihren Ausdruck in den Empfehlungen der damaligen Bundesregierung an die Länder fand, den Familiennachzug der Arbeitsmigranten aus den Nicht-EG-Staaten zu verhindern (23). Obwohl es sich dabei nicht um eine neu eingeführte ausländerpolitische Idee handelte, wurde diese auf Betreiben gerade der CDU/CSU-geführten Länder an alle Bundesländer gegebene Empfehlung von den Betroffenen und den mit ihnen Solidarischen als Ende einer Politik empfunden, die eine zumindest gewisse integrative Ausrichtung hatte. Spätestens von diesem Zeitpunkt an ging es nicht mehr darum, in einem mühsamen, schrittweisen Prozess die Rechte der zugewanderten Menschen dem Rechtsstatus der Einheimischen anzugleichen, sondern mit allen Mitteln eine Rechtsverschlechterung, ja sogar Eingriffe in die menschenrechtliche Substanz zu verhindern. Selbst dies aber mußte aussichtslos erscheinen angesichts des Meinungsumschwungs, der in der Öffentlichkeit eingetreten war, und der als Reflex eines Meinungsbildes in der Bevölkerung betrachtet werden mußte, der in krasser Weise fremdenfeindlich war.

Unter diesen Umständen drohte den Menschen anderer Muttersprache und den ihnen nahestehenden Interventionsinstanzen lähmende Resignation. Der Kirche fiel die Rolle zu, das moralische Rückgrat des Widerstandes gegen diese ausländerpolitische Wende zu sein. Den Höhepunkt bei der Wahrnehmung dieser Funktion stellt die Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Höffner vom 23.6.1982 dar. Unter dem Thema "Kirche und Fremdenangst" gab er sie einen Tag nach einem für ihn unbefriedigend verlaufenden Gespräch des Bundeskanzlers mit den Spitzenvertretern der bundesdeutschen Gesellschaft ab (24). Die Erklärung beginnt mit dem Hinweis, daß es in der Kirche kein Ausland und keine Grenzen gibt, weil alle Getauften dasselbe Bürgerrecht besäßen. Diese Aussage ist insofern von besonderer Bedeutung, weil zwei Millionen Ausländer in der Bundesrepublik sich zum katholischen Glauben bekennen und Höffner in der innerkirchlichen Gemeinschaft und Solidarität mit diesen Gläubigen eine wesentliche Voraussetzung dafür sieht, daß die Kirche ihren Verkündigungsauftrag in der Gesellschaft wahrnehmen kann. Kirche ist also unmittelbar Betroffene einer restriktiven Ausländerpolitik und Fremdenangst, gleichzeitig aber auch Anwalt und Verteidiger der Rechte von Randgruppen und Unterdrückten, insofern die Diakonie der Kirche alle Fremden und Bedrängten ohne Ausnahme und Unterschied von Herkunft und Religion - die türkische Bevölkerung wird ausdrücklich eingeschlossen - umfaßt.

Daß sich die Kirche in Deutschland nicht nur und nicht in erster Linie als nationale Größe versteht, kommt schließlich in der geradezu feierlichen Formulierung zum Ausdruck, daß die deutschen Bischöfe das Recht der Familie der ausländischen Arbeitnehmer auf Zusammenleben in der Einheit mit dem Papst, der gesamten Kirche und den europäischen Bischofskonferenzen einfordern. Die Bedeutung dieser Erklärung ergibt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten: Einmal hat sie dazu beigetragen, daß menschenrechtliche Standards nicht völlig dem politischen Krisenmanagement geopfert werden und sich mehr außerhalb als innerhalb der Kirche politische und gesellschaftliche Kräfte an diesem Standard -wieder zu orientieren begannen; des weiteren wird diese Erklärung gegen die maßgeblichen politischen Kräfte aus den eigenen Reihen der Kirche, letztlich sogar gegen die Mehrheit der Mitglieder abgegeben; schließlich aber belegt diese Stellungnahme paradigmatisch die kirchliche Rollenzuweisung des Fremden in einer universalistischen Konzeption und Tradition.

Die Integrationspolitik ist gescheitert, die bisherigen Integrationsthesen - u.U. auch die, die dem Konzept "Wohnungspolitik für ausländische Arbeitnehmer" zugrunde liegen - haben in der öffentlichen Meinung ihre Plausibilität verloren; dies nicht zuletzt deswegen, weil die geistig-politisch-ethische Auseinandersetzung um das Einwanderungsland Bundesrepublik über Jahrzehnte unter der begrenzten, nur national legitimierten Arbeitsmarktpolitik ohne wirktiche weitergehende Perspektive geführt wurde. Ohne die Vermittlung einer Einsicht in größere Zusammenhänge aber, ohne universale, transnationale Menschenrechtsstandards wird es auf Dauer nicht möglich sein, plausibel über Integration oder Einwanderung zu sprechen. Für diese neue Orientierung muss der Verstehenshorizont nationaler bis nationalistischer Prägung überschritten werden.

Die Aufgabe, in größeren Zusammenhängen zu denken und zu handeln, führt zu der Frage, welche geistigen und politischen Strömungen die notwendigen Vorstellungen vermitteln können. Ich habe versucht, Ihnen in diesem Zusammenhang das Weit- und Menschenbild einer internationalen Großorganisation darzulegen. Sie sollten dies als exemplarisch verstehen für das Bemühen, der Migration als globalem Phänomen angemessener als bisher zu entsprechen. Es geht um so etwas wie eine „präjuristische Form" einer Weltgesellschaft, die den intensiven Dialog mit den Weltreligionen, den Philosophien und den internationalen Organisationen notwendig macht, und bei dem Migration verstanden werden kann als integraler Bestandteil der internationalen Friedensbewegung, die trotz akuter Rückschläge auf dem Wege ist, transideologische, transkulturelle und transnationale Codes zu finden und zu realisieren.