Herbert Leuninger   ARCHIV MIGRATION
1982

Diskussionsbeiträge auf dem Internationalen Wissenschaftlichen Symposion über Migration

Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter

veröffentlicht in: Klaus J. Bade (Hrsg.)
AUSWANDERER - WANDERARBEITER - GASTARBEITER
Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
Referate und Diskussionsbeiträge
des Internationalen Wissenschaftlichen Symposiums
"VOM AUSWANDERUNGSLAND ZUM EINWANDERUNGSLAND?"
an der Akademie für Politische Bildung Tutzing, 18. - 21. 10. 1982,
Ostfildern 1984, Bd. 2, S. 808-814; 818f



 

INHALT

'Einwanderung':
die Mehrdeutigkeit eines Begriffs im politischen Kalkül

(zu Sektion 5)

Zweimal taucht in der ersten Regierungserklärung nach Ablösung der Regierung Schmidt der Begriff "Einwanderung" auf. Einmal soll es darum gehen, vor allem "eine unbegrenzte und unkontrollierte Einwanderung zu verhindern". Dann gibt die Bundesregierung zu erkennen, sie wolle darauf hinarbeiten, daß durch das Assoziierungsabkommen (wohl mit der Türkei) "keine weitere Einwanderungswelle ausgelöst wird" (H. Kohl, Für eine Politik der Erneuerung, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 13. 10. 1982, Bonn 1982, S. 23-24). Beide Äußerungen lassen den Schluß zu, daß die Bundesregierung von einer faktischen Einwanderung ausgeht, insofern eine "weitere" einer früheren Einwanderungswelle folgt und eine "unkontrollierte und unbegrenzte Einwanderung" eigentlich eine Einwanderung schlechthin einschließt. Das aber darf wohl nicht präzise gesagt werden, denn in der Koalitionsvereinbarung zwischen der Christlich Demokratischen / Christlich Sozialen Union und der Freien Demokratischen Partei wird ausdrücklich an dem bisherigen ausländerpolitischen Grundsatz festgehalten: "Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland". Dennoch geht auch die Koalitionsvereinbarung indirekt davon aus, daß sie ein solches ist, denn die Kommission, die eingesetzt werden soll, um Empfehlungen und Vorschläge für die Ausländerpolitik auszuarbeiten, bekommt u. a. den Auftrag, "die Erfahrungen von 'klassischen' Einwanderungsländern bei der Regelung des Ausländerzuzugs aus(zu)werten" (Süddeutsche Zeitung, 30. 9.1982).

Regierungserklärung und Koalitionsvereinbarung sind nur ein Beispiel dafür, wie auch in der gesamten bisherigen politischen Diskussion der Begriff "Einwanderung" bzw. "Einwanderungsland" eingesetzt wird, damit die Sache, um die es geht, nicht beim Namen genannt werden muß. Verleugnung der Realität, Sprachregelungen, die die Sache in der Schwebe lassen, Verharren bei der Mehrdeutigkeit des Begriffs, ja eine Verwendung, die geradezu das Gegenteil des Inhalts zu vermitteln sucht, sind charakteristisch für die bisherige ausländerpolitische Diskussion in der Bundesrepublik.

Einen gewissen Höhepunkt semantischer Politik stellt die Bundestagsdebatte dar (Deutscher Bundestag, Steno Ber., 83. Sitzg., 4. 2.1982, S. 4888 ff.), die ein halbes Jahr vor dem Regierungswechsel erfolgte. Es ging um zwei Anträge der Regierungs- bzw. Oppositionsparteien zur Ausländerpolitik: Auf liberaler Seite ist von einem müßigen Streit um den Begriff des Einwanderungslandes und von einer Selbsttäuschung in diesem Zusammenhang die Rede. Der frühere Bundesminister des Innern meint, daß die Feststellung, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, bis vor kurzem laut und häufig, jetzt aber nur noch leise und gelegentlich geäußert werde. Im weiteren Verlauf seiner Rede sucht er sich von der Mehrdeutigkeit des Begriffs und dem damit gegebenen Spielcharakter jeder Auseinandersetzung zu befreien, indem er diese Mehrdeutigkeit benennt. Für ihn sind wir kein Einwanderungsland in dem Sinne, daß wir eine gezielte Werbung für eine Daueransiedlung betrieben haben oder daß wir die weitere Neuaufnahme von Arbeitswilligen anstreben. Faktisch zum Einwanderungsland geworden sind wir aber für einen Teil der in der Vergangenheit aufgenommenen, im Lande befindlichen Arbeitnehmer. Für ihn geht es dann politisch nur noch um die Frage, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Damit scheint der Minister seine Regierung selbst endgültig von der Grundposition 1 eines Bund-Länder-Konsenses von 1977 wegholen zu wollen, nach dem die Bundesrepublik kein Einwanderungsland ist und sich als Aufenthaltsland für Ausländer, die in der Regel nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt aus eigenem Entschluß in ihre Heimat zurückkehren, versteht (Evangelischer Pressedienst, Ausländische Arbeitnehmer weiterhin in Unsicherheit, Dokumentation Nr. 16/77, Frankfurt 1977, S. 5).

Überraschenderweise lehnt es die Opposition nicht oder nicht mehr ab zu sagen, daß Deutschland praktisch zum Einwanderungsland geworden sei. Dies wird mit Blick auf hohe Prozentsätze fehlenden Rückkehrwillens noch unterstrichen. Dennoch verharrt die Opposition auf dem ersten Grundsatz ihrer Konzeption, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland sein dürfe. Hier liegt sprachlich eine Variante vor, die die Faktizität nicht mehr zu bestreiten braucht, weil sie den politischen Willen hat, dies zu verändern, bzw. in der Öffentlichkeit als veränderungsmöglich hinzustellen. Nach der Opposition darf nicht aus jedem Aufenthalt zu Erwerbs- oder Bildungszwecken ein Anspruch auf Daueraufenthalt mit Familienzusammenführung erwachsen, so daß die Rückkehr des Ausländers in die Heimat die Regel ist. Auch diese Auffassung ist an sich nichts Neues, da auch die bisherige Bundesregierung genau dies als ihren Willen bekundete und endgültige Einwanderung eigentlich nur als Einzelfall betrachtete (Sozialpolitische Informationen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Weiterentwicklung der Ausländerpolitik, S 5/1980, Bonn 1980, S. 4). Der Vorwurf der Opposition gegenüber der Regierung geht auch nicht so sehr dahin, daß sie eine andere Ausländerpolitik als die Opposition wolle, nur daß diese Politik bislang auf dem Papier gestanden habe und politisch nicht umgesetzt worden sei.

Es zeichnet sich eine neue inhaltliche Facette des Begriffs vom Einwanderungsland ab, die, wie in der früheren Politik, eine Ablenkungs- und Abwehrfunktion hat, allerdings in einem noch restriktiveren und hypertrophen Sinne. Danach wird nicht mehr bestritten, daß ein Einwanderungsprozeß stattgefunden hat und zwar in einer unzulässigen Weise, so daß bereits zu viele Ausländer in der Bundesrepublik leben. Es wird die politische Absicht bekundet, diesen Einwanderungsprozeß, der auf ein Ansässigwerden bereits hier lebender Ausländer hinausläuft, in einem gewissen Umfang zu beenden und die Bundesrepublik wieder zu einer Art Auswanderungsland werden zu lassen. Gleichzeitig wird die Abwehrformel "Kein Einwanderungsland" auch dahingehend verwendet, daß sich die Bundesrepublik gegen einen übermäßigen Einwanderungsdruck zur Wehr setzen muß, der sich aus dem Wirtschaftsgefälle und dem "Nachzugspotential" von Kindern und Ehepartnern hier lebender nichtdeutscher Arbeitnehmer ergibt.

Diese Art noch restriktiverer Politik kulminiert in dem Satz des Bundesinnenministers (CSU): "Deutschland war nie ein Einwanderungsland und kann auch keins werden." (Pressedienst des Bundesministeriums des Innern, 25. 11. 1982 ) Damit hat die Diskussion um das Einwanderungsland Bundesrepublik eine Dimension gewonnen, die in ihrer Realitätsverkennung und -verdrängung rational nur noch verstehbar ist, wenn sie in den Zusammenhang einer Krisenbewältigung gestellt wird, die sowohl das "Nationale" als auch das "Fremde" übersteigert. Dennoch geht auch eine solche Politik indirekt davon aus, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist, denn: "Ausländer, die lange bei uns leben, Arbeit haben, unsere Sprache sprechen, unsere Gesetze, unsere Sitten und Gebräuche respektieren, sollen auch künftig bei uns leben können. (Ebenda.)

Die angereicherte Formel von der Bundesrepublik als Nicht-Einwanderungsland hat demnach auch die wichtige Funktion einer Selektion der für die Bundesrepublik interessanten Ausländer. Das wiederum ist die typische Rolle einer klassischen Einwanderungspolitik, nur mit dem Unterschied, daß es eine nachträgliche Aussonderung unter denen ist, die bereits früher schon einmal von der Bundesanstalt für Arbeit für den Arbeitsmarkt ausgesucht worden waren oder die als deren Nachkommen zur eingewanderten Population gehören.

 

Wissenschaftliche Zahlen in der politischen Verwertung

(zu Beitrag 5. 6)

Innerhalb von vier Tagen publiziert die gleiche Zeitung demographische Voraussagen mit folgenden Überschriften: "7 bis 8 Millionen Ausländer im Jahr 2000" und "Prognose: Im Jahre 2000 etwa 5,5 Millionen Ausländer" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27., 30.1. 1982). Im ersten Fall geht es um die Aussage des für das Ausländerrecht im Bundesministerium des Innern zuständigen Ministerialdirektors, der einen Anstieg der Ausländerzahlen auf 6 - 7 Mio. (Nicht 7 - 8 Mio.) im Jahre 2000 erwartet. Im zweiten Fall bezieht sich der Artikel auf Prognosen des Statistischen Bundesamtes, nach denen die Zahl der Ausländer auf etwa 5,5 Mio. im Jahre 2000 steigt, während es dann nur noch 50 - 54 Mio. deutsche Staatsbürger geben wird. Der Artikel läßt nicht unerwähnt, daß in anderen Prognosen ein Anwachsen der Ausländerzahl auf 7 - 8 Mio., bis zum Jahre 2030 gar auf 13 Mio. unterstellt wird.

Diese Zahlen gelten als wissenschaftlich erhoben und werden auch als solche publiziert. Dabei spielt es für die Öffentlichkeit wohl keine große Rolle, ob es Zahlen sind, die irgendein wissenschaftlich durchaus renommiertes Institut veröffentlicht oder das Statistische Bundesamt und die Bundesanstalt für Arbeit bzw. deren Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Vgl. W. Klauder, Tendenzen und Probleme der Ausländerbeschäftigung, Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 4/1982). Von dort in die Öffentlichkeit gegebene Zahlen haben dann nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen offiziellen, zumindest offiziösen Charakter. Solche Zahlen stehen mehr oder weniger ausdrücklich in einem politischen Kontext, auf jeden Fall sind sie gedacht und auch geeignet als Hilfe für den politischen Entscheidungsprozeß. Mit ihrer Veröffentlichung beginnt eine Wirkungsgeschichte, die politisch von größter Bedeutung sein kann, ohne daß sie wissenschaftlich noch gesteuert werden könnte.

Die genannten Zahlen - und sie sollen hier nur exemplarisch aufgeführt werden - sind durchaus in der Lage, bei Politikern und in der Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten mit den entsprechenden, politisch in einem gewissen Sinne steuerbaren Konsequenzen. So überschreibt eine andere Zeitung einen Bericht, wonach das Bundesarbeitsministerium auf das Wachstum der Ausländerzahl von heute 4,6 auf 5,7 Mio. im Jahre 1990 und 7 Mio. im Jahre 2000 hinweist, mit der Schlagzeile: "Ausländerzahl schreckt Bonn!" (Frankfurter Rundschau, 28. 10. 1981). Im Staatsanzeiger für Baden-Württemberg kann ein Wissenschaftler darüber berichten, daß die Abnahme der (deutschen) Bevölkerung viel Angst und Schrecken ausgelöst habe und er in den letzten Jahren mehrfach gefragt worden sei, ob und wann denn nun die deutsche Bevölkerung aussterben würde (K. Szameitat, Vor einem Kollaps bei der Finanzierung von Sozialleistungen, in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg, 27. 2. 1982). Bei einem Wissenschaftler, der maßgeblicher Mitautor des "Heidelberger Manifests" ist, hieß es bereits früher: "Noch vor dem Jahre 2050 könnten ebenso viele Ausländer unser Land bevölkern wie Deutsche." (Th. Schmidt-Kaler, Mit wieviel Fremden die Bundesrepublik leben kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 9. 1980) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern greift die Ängste folgendermaßen auf: "Wir müssen die berechtigte Sorge der deutschen Bevölkerung ernst nehmen. Dies gilt vor allem für die Menschen, die sich um ihre eigene Identität sorgen, weil sie fürchten, im eigenen Land zur Minderheit zu werden." (C. –D. Spranger, Redemanuskript, Bonn 18.11.1982)

Natürlich ist die wissenschaftliche Zahl gerade als Prognose bzw. Modellrechnung unter differenzierten Annahmen, mit entsprechenden Vorbehalten, Differenzierungen und Relativierungen erhoben und in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt worden. Bei der Vermittlung in die Öffentlichkeit und dem damit verbundenen Prozeß der Vergröberung und Simplifizierung werden solche Zahlen fast unweigerlich zu "Horrorzahlen" mit allen bedenklichen Implikationen.

Auf dieser Ebene öffentlicher Perzeption wird längst nicht mehr unterschieden, was etwa Prognose und was Modellrechnung ist; daß also Voraussagen der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung, die für Planungs- und Entscheidungszwecke Verwendung finden könnten, sich allenfalls für einen Zeitraum von 10 15 Jahren treffen lassen; daß für einen wesentlich längeren Zeitraum nur Modellrechnungen möglich sind, die zeigen, wie die Bevölkerungsentwicklung unter bestimmten Annahmen verlaufen würde. Gerade sie erheben, im Gegensatz zu Bevölkerungsvorausschätzungen, keinen Anspruch darauf, den tatsächlichen Verlauf der Bevölkerungsentwicklung vorherzusagen (Vgl. Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, 1. Teil, BMJ - Entwurf (MS) v. 21. 4.1980, S. 9). Natürlich entfällt auch die Einsicht, daß solche Berechnungen auf bestimmten, von den gesamten Einflußfaktoren her gesehen reduzierten Annahmen beruhen.

Wie soll ein 'demographischer Laie' z. B. die Tatsache nachvollziehen, daß die Verwendung des Begriffs "Ausländer", nur unter dem ausländerrechtlichen Gesichtspunkt auf die Vergangenheit hin betrachtet, bereits eine hohe Abstraktion der differenzierten Wirklichkeit darstellt, eine Feststellung, die erst recht für den "Ausländer" des Jahres 2000 bzw. 2030 gilt? Unberücksichtigt bleibt bei den entsprechenden Schätzungen etwa die Dauer der Anwesenheit, die Tatsache, daß der größte Teil der hier lebenden Kinder und Jugendlichen nichtdeutscher Eltern, die nach wie vor als Ausländer geführt werden, bereits in der Bundesrepublik geboren bzw. hier aufgewachsen ist.

Solche Berechnungen berücksichtigen nicht, daß, unbeschadet einer bestehenden und von unserer Gesellschaft noch nicht bewältigten Integrationsproblematik, ein Integrationsprozeß erfolgt, bei dem eine erhebliche Anpassung der nichtdeutschen Bevölkerung vollzogen wird. Man braucht nur an die Rolle zu denken, die der Besuch des Kindergartens und der Schule trotz aller Defizite spielt. Von der statistischen Annahme aus wird der "Ausländer" bis in die Zweite, Dritte und Vierte Generation als "Ausländer" geführt. Unter dem Gesichtspunkt der Gefahr, daß prognostische Zahlen als Fakten genommen werden, eine äußerst bedenkliche Verzerrung der vorhandenen, erst recht der künftigen Wirklichkeit!

Kurzum: Die eingeschränkte und relative Funktion von Vorausschätzungen trägt in der Öffentlichkeit nicht unbedingt zu mehr Erkenntnis von Wirklichkeit, sondern eher sogar zum Gegenteil bei. Eine weitere Gefahr manipulativen Umgangs mit Zahlen ist die Selektion. Prognosen sind Bestandteile der Politik und unterliegen im Rahmen ihres Gebrauchs auch dem potentiellen Mißbrauch, vor allem dann, wenn aus den gegebenen Varianten einer Vorhersage die ausgewählt wird, die der jeweiligen politischen Interessenlage am ehesten entspricht, ohne daß die anderen Zahlenvarianten als in ihrem Wert gleichrangig genannt werden.

Naturgemäß sind Varianten noch keine Alternativen. Wo aber bleibt in der Vermittlung etwa eine wissenschaftliche Aussage, die im Gegensatz zu den gängigen Prognosen steht, und die davon ausgeht, daß der Schrumpfungsprozeß der (deutschen) Bevölkerung weit mehr an Zeit beansprucht, ja ein Vielfaches an Zeit, gegenüber den bislang erwähnten Vorausschätzungen? Bekämen solche Zahlen ein ähnliches Gewicht oder sogar ein Übergewicht in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion, würde auch den genannten Ängsten wie sie sich in den verschiedensten Meinungsumfragen niederschlagen - die ans Mythische grenzende, pseudowissenschaftliche Absicherung, die keine Vorherschätzung bieten kann, genommen (Vgl. den Beitrag von G. Hohorst in Sektion 1).

Schlußwort:
'Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland?'

Das Symposion hat sich im Sinne einer Arbeitshypothese dem Thema gewidmet, ob und gegebenenfalls wie sich Deutschland vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland entwickelt hat. So war das Thema auch in Frageform gekleidet. Nicht nur wissenschaftliches, sondern auch politisches Interesse im weitesten Sinne des Wortes dürfte das Ergebnis angehen, also die Antwort, die das Symposion auf diese Fragestellung gefunden hat. Konnte und wollte das Symposion das Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzen, die Hypothese als These verifizieren? Die Fülle und Dichte der Beiträge haben eine ausdrückliche Diskussion hierüber nicht mehr möglich gemacht. Dennoch ist das Symposion seine Antwort nicht schuldig geblieben, es hat sie m. E. sogar in ebenso differenzierter wie überzeugender Weise gegeben.

Wer die einzelnen Beiträge des Symposions und der Publikation unter diesem Aspekt durchgeht, wird trotz der unterschiedlichsten fachspezifischen Ansätze vieles entdecken, was auf die konvergente Aussage hinausläuft, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist; sicher nicht im Sinne klassischer Einwanderungsländer, deren Gesellschaften erst im Verlaufe eines Einwanderungsprozesses entstanden sind, aber doch in dem Sinne, daß sich ein großer Teil der nichtdeutschen Arbeitnehmerbevölkerung in der Bundesrepublik längst in einer echten Einwanderungssituation befindet.

Dies ist sicher keine neue Erkenntnis, und es wäre der bisherigen umfangreichen Forschung, die sich vor allem auf Integrationsfragen konzentriert hat, Unrecht getan, wollte man ihr nachsagen, sie wäre nicht zur These vom Einwanderungsland vorgedrungen. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, das politisch äußerst stabile Tabu, wonach die Bundesrepublik kein Einwanderungsland ist, zu brechen. Hier hat die politische Rahmensetzung wie ein 'Schwarzes Loch' (black hole) gewirkt, in das Massen nicht nur von Daten, sondern auch von wissenschaftlichen Ergebnissen und qualifizierten Interpretationen hineingezogen wurden, um, politisch gesehen, fast wirkungslos zu verschwinden. Die Politik hat sich mit der Vorstellung von der Bundesrepublik als einem auf Dauer gedachten provisorischen Aufenthaltsland für Ausländer gegenüber der Wissenschaft durchsetzen können. Dies hatte zur Konsequenz, daß auf seiten des Aufnahmelandes auch keine entsprechende Einwanderungspolitik gemacht wurde.

Vielleicht gab erst der umfassende, vor allem auch historische Ansatz des Tutzinger Symposions die Möglichkeit einer nachhaltigen Irritation der politischen Leitvorstellung vom Nichteinwanderungsland. Das Symposion bot ein Forum, auf dem die geistige und politische Auseinandersetzung um das, was durch die Beschäftigung von Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft in der Bundesrepublik entwicklungsmäßig eingetreten ist, in einen größeren historischen, geistigen und länderübergreifenden Horizont gestellt wurde. Damit stand ein Koordinatensystem zur Verfügung, das es nicht nur erlaubt, Detailfragen besser einzuordnen, sondern auch ein Erklärungsmuster anzubieten, das kürzelhaft als 'Einwanderungsland' umschrieben wird.

Wenn man interdisziplinäres Vorgehen nicht nur als fachwissenschaftliche, sondern auch als weltanschauliche, geschichtliche, gesellschaftspolitische und geographische Grenzüberschreitung beschreiben kann, so ist diese Form wissenschaftlicher und dabei handlungsorientierter Auseinandersetzung für die politische Entscheidungsfindung unumgänglich. Die Einzelbeiträge könne-n in einen größeren, vielschichtigeren Zusammenhang eingeordnet werden und lassen sich als Elemente eines umfassenden Erklärungs- und Handlungsmusters verstehen, das auf einen komplexen gesellschaftlichen Sachverhalt wie den einer internationalen Migration mit einem davon bestimmten komplexen Wirkungsgefüge zu antworten versucht. Dies hat die Wissenschaft aus der Sicht der gesellschaftspolitischen Praxis bisher offensichtlich nicht leisten können, so daß sich sogar die Frage stellt, inwieweit Wissenschaft überhaupt politische Wirkung haben kann, und ob vielleicht nur das wirkmächtig gedacht, geforscht und publiziert werden kann, was jeweils politisch abgerufen wird.

Ob die auf Konvergenz hin auslegbaren Ergebnisse des Symposions nun ihrerseits nicht von dem 'Schwarzen Loch' eines unzulänglichen politischen Handlungsrahmens aufgesogen werden, hängt nicht von der Stringenz der Einzelerkenntnisse, sondern von der Dynamik und Kontinuität eines hier weiter voranschreitenden Forschungsprozesses ab, der seine interdisziplinäre Vernetzung als konstitutiv betrachtet, weitere Dimensionen wie etwa die kultursoziologische oder ethnologische einbezieht und vor allem der Vermittlung relevanter und handlungsbezogener Ergebnisse in die Gesellschaft und auf die Ebenen der politischen Entscheidungsfindung die gebührende Beachtung widmet. Nach wie vor entscheidend bleibt allerdings die Bereitschaft der politischen Handlungsträger, in rationaler Weise solche Analysen und Ortsbestimmungen in der anstehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsaufgabe zu berücksichtigen, die durch den langfristigen wandel 'vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland' aufgeworfen worden ist.

veröffentlicht in:
Klaus J. Bade (Hrsg.)
AUSWANDERER - WANDERARBEITER - GASTARBEITER
Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
Referate und Diskussionsbeiträge
des Internationalen Wissenschaftlichen Symposiums
"VOM AUSWANDERUNGSLAND ZUM EINWANDERUNGSLAND?"
an der Akademie für Politische Bildung Tutzing, 18. - 21. 10. 1982,
Ostfildern 1984, Bd. 2, S. 808-814; 818f