Herbert Leuninger ARCHIV MIGRATION
1982

Unsere neuen Gastfeinde

Wachsende Aggressionen gegen Ausländer



 

Der ursprünglich willkommene wird zum ungebetenen Gast, der zu verbaler, tätlicher und politischer Aggressionsabfuhr freigegeben ist. Er wird zum Sündenbock

 

Noch Mitte der siebziger Jahre zeigte sich ein ehemaliger hoher Beamter aus Ludwig Erhards Wirtschaftsministerium mit der Wortwahl recht zufrieden. Die Arbeiter, die die Bundesanstalt für Arbeit zu Hunderttausenden in anderen europäischen Ländern angeworben hatte, sie sollten »Gastarbeiter« heißen. Sie einfachhin »Fremdarbeiter« zu nennen, wie es die Schweiz bis auf den heutigen Tag tut, war mit einem geschichtlichen Tabu belegt. Schließlich hatte Hitler Millionen Menschen als solche zur Zwangsarbeit eingesetzt.
Während sich die Gewerkschaften auf »die ausländischen Arbeitnehmer« festlegten und die Kirchen gern von »den ausländischen Mitbürgern« sprachen, setzte sich der Ausdruck »Gastarbeiter« in den Medien und dem allgemeinen Sprachgebrauch als griffige Vokabel durch. Ist die Bezeichnung nicht knapp und ehrlich? Weckt sie nicht sympathische Assoziationen? Letzteres gerade sollte erreicht werden. Vielleicht. ist diesl aber nur die eine Seite des semantischen Umfelds.

Der etymologische Rückblick legt nämlich eine durchaus ambivalente Haltung zum »Gast« frei. Es könnte sogar sein, daß die heutige Fremdenfeindlichkeit aus dieser Ambivalenz gespeist wird. Wenn diese Deutung nicht völlig überzogen ist, wäre der Begriff vom Gastarbeiter nicht ohne euphemistischen Beiklang, würde demnach sprachlich verhüllen, Gefürchtetes durch Verschleierung umschreiben.
Der Gast ist der Fremde, der Fremdling. Die Einstellung zu ihm kann eine freundlich aufnehmende wie eine feindlich abweisende sein. Im frühen germanischen Sprachgebrauch konnte der Gast auch der Feind, der feindliche Krieger sein. Erst als im ausgehenden Mittelalter das Bürgertum Gastfreundschaft als Tugend zu üben begann, erhielt »Gast« seinen überwiegend wohlwollenden und ehrenden Sinn. Dennoch deutet vieles im heutigen Klima darauf hin, daß die aufgezeigte Ambivalenz noch bedeutsam ist.

Ihre treffende Umschreibung findet sich etwa in einem 1980 geschriebenen Kommentar von Friedrich Karl Fromme in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, in dem es um die Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer geht: »Die Ausländer sind Gäste, waren willkommen, haben Anspruch, nicht ohne weiteres ihrer Wege geschickt zu werden, wenn sie eines Tages weniger willkommen sind, müssen sich den Regeln des Gastgebers fügen, wie Gäste das überall zu tun haben.«

Dies ist ein geradezu klassischer Topos zum Thema »Gast«. Damit wird nichts außergewöhnlich Neues gesagt, sondern nur präzise zusammengefaßt, was überwiegende Einstellung in Politik und Gesellschaft gegenüber den »Gastarbeitern« ist. Es handelt sich um eine Formulierung, die den Bogen spannt zwischen der feierlichen Begrüßung des einmillionsten Gastarbeiters auf dem Kölner Hauptbahnhof durch den damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit bis hin zu der Versprechung der hessischen CDU im letzten Landtagswahlkampf, sie wolle erreichen, daß in etwa fünf Jahren die Zahl der Ausländer in Deutschland um etwa eine Million abnimmt. Die CDU will den weiteren Zuzug von Ausländern stoppen, Problemgruppen vermindern und den »Mißbrauch des Gastrechts« nicht dulden.

Der Bogen umspannt nicht nur diese Eckdaten, sondern eine ganze »Gastarbeiter«-Politik, die bis auf den heutigen Tag zwiegesichtig geblieben ist. Eine Denkschrift des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung des Landes Baden- Württemberg beschreibt die ausländischen Arbeitnehmer 1975 als die, die empfindliche Arbeitskraftlücken schlossen, öffentliche Einrichtungen in verhältnismäßig geringem Umfange beanspruchten, Steuern und Sozialabgaben zahlten. ohne öffentliche Leistungen in entsprechendem Umfang in Anspruch zu nehmen. ,Außerdem handelte es sich meist um junge aktive und anpassungsfähige Menschen, die in aller Regel nur an einer vorübergehenden Beschäftigung im Lande interessiert waren.

Für die Denkschrift markiert das Ende der sechziger Jahre aber die Wende: »Mit zunehmendem Nachzug von Familienangehörigen, sowie mit wachsender Aufenthaltsdauer treten jedoch mehr und mehr nachteilige Auswirkungen in den Vordergrund, vor allem schlagen die Investitionskosten für die soziale Infrastruktur außerordentlich stark zu Buche.«

Als weiterer negativer Faktor wird die steigende Inanspruchnahme der Sozialversicherung und vor allem die wachsende Rentenlast bewertet. Die Denkschrift empfiehlt, die ausländische Bevölkerung zahlenmäßig zu reduzieren: Die Rückwanderung nach einer gewissen Aufenthaltsdauer wird zum Prinzip erhoben und durch Maßnahmen verstärkt. Bei einer künftigen Anwerbepolitik soll die Aufenthaltsdauer auf fünf Jahre begrenzt werden.

Die Politik von Bund und Ländern ist diesen Vorstellungen, die vom Grundsatz her noch nie in Frage standen, ausdrücklich und weitgehend gefolgt. Eine 1977 formulierte Konzeption der künftigen Ausländerbeschäftigungspolitik von Bund und Ländern besagt: »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland«; sie versteht sich vielmehr als ein Aufenthaltsland für Ausländer, die in der Regel nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt aus eigenem Entschluß in ihre Heimat zurückkehren. Die Bundesrepublik benötigt zwar auf lange Zeit ausländische Arbeitnehmer, von der Arbeitsmarktlage her wird aber eine Konsolidierung - gemeint ist eine Reduzierung - der Ausländerbeschäftigung angestrebt. Der Gastarbeiter ist wie schon früher also Konjunkturpuffer.

Da aber offensichtlich ein umfassender, offiziell nicht eingestandener Einwanderungsprozeß im Gange ist, soll zwar die soziale Integration der im Bundesgebiet lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien, vor allem was die zweite Generation angeht, verstärkt werden, andererseits aber auch die Rückkehrbereitschaft und die Rückkehrfähigkeit des gleichen Bevölkerungsteils gefördert werden. Auch hier geht es um eine Flexibilität, die vom Gastarbeiter auf die Gastarbeiterfamilien übertragen wird. Die neueste Koalitionsvereinbarung beläßt es bei den gleichen Tendenzen.

In der Parallele zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwicklung artikuliert die Politik immer stärker eine Abwehrhaltung, nicht nur gegenüber den nichtdeutschen Arbeitnehmern, sondern vor allem auch gegenüber ihren Familien. Ausgehend von der nicht hinterfragten Formel, die »Grenzen der Belastbarkeit« seien erreicht oder gar überschritten, werden immer restriktivere Maßnahmen geplant und beschlossen, die auf ein »Abschmelzen« der nichtdeutschen Arbeiterbevölkerung abzielen.

Hierbei handelt es sich weniger um die einzelnen Maßnahmen wie die Förderung der Rückkehr durch zweifelhafte finanzielle Anreize oder um die Verhinderung der Familienzusammenführung als vielmehr um einen psychologischen Druck auf die betreffende Bevölkerung, sich ihren Gaststatus deutlicher bewußt zu machen und daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Diese Politik hat ihre Entsprechung in den Vorstellungen, Ängsten, Erwartungen und Wünschen weiter Teile der deutschen Bevölkerung. Sozialforscher werten die in der Bundesrepublik eingetretene Stimmungsveränderung gegenüber den Ausländern als äußerst gravierend. So hat sich der Anteil der Befragten, die die Rückkehr der Gastarbeiter in ihre Heimat wünschen, vom November 1978 von 39 Prozent auf 68 Prozent im März 1982 erhöht. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage verstärken sich Bedrohungsängste, die immer deutlicher mit der Anwesenheit der Ausländer in Verbindung gebracht werden. Mittlerweile wird die Hälfte der deutschen Bevölkerung als ausländerfeindlich eingestuft.

Dabei spielen Kontakte und Erfahrungen mit Ausländern eine völlig untergeordnete Rolle. Gerade unter denen, die nie Kontakt mit Ausländern hatten, ist die Auffassung am stärksten vertreten, daß etwa die hohe Kriminalität in der Bundesrepublik darauf zurückzuführen sei, daß so viele Ausländer hier leben. Die Analyse der Umfrageergebnisse deutet darauf hin, daß die vorhandenen und begründbaren Wirtschafts- und Sicherheitsängste in großen Teilen der Bevölkerung zu einer irrationalen Ablehnung der Ausländer führen. Der ursprünglich willkommene wird zum ungebetenen Gast, der zu verbaler, tätlicher und politischer Aggressionsabfuhr freigegeben ist.

Daß es sich bei dem beschriebenen Sachverhalt um den von der Bibel her nicht korrekt übernommenen Sündenbockmechanismus handelt, wird in der Öffentlichkeit kaum noch bestritten. Noch aber steht die Diskussion darüber aus, welchen Anteil die bisherige und derzeitige Ausländerpolitik an der grassierenden Fremdenfeindlichkeit hat. Diese Diskussion konnte wohl noch nicht geführt werden, weil zum einen ein breiter politischer Konsens über die Funktion und Rolle der »Gastarbeiter« besteht und zum anderen theoriegemäß ein Sündenbock in wirtschaftlichen Krisenzeiten den hierfür Verantwortlichen gelegen kommt. Auf diese Aggression kann so im politischen Vorfeld bereits abgeleitet werden.

Dabei sind, wie die Geschichte lehrt, die Ersatzobjekte für eine Aggressionsverschiebung austauschbar. Man kann ohne große Schwierigkeiten nicht nur den »Gast«-Topos als politische Definition zur Legitimierung der Fremdenfeindlichkeit heranziehen, sondern auch auf noch präzisere Bemühungen verweisen, wie der »Türke« zum »feindlichen Fremden« hochstilisiert wird.

Er ist auf einmal der, dessen Kinder und Ehepartner zu Hunderttausenden in der Heimat auf dem Sprunge sind, dessen Kollegen zu mehreren Millionen auf den Tag warten, wo sie im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Gemeinschaft die Bundesrepublik überfluten können; er ist die Vorhut eines auf die Vernichtung unserer christlichen Kultur ausgerichteten Islam.

Er überlastet mit seiner übermäßigen Kinderzahl unsere gesamte Infrastruktur; er stellt es darauf ab, unser soziales Netz zu strapazieren; er ist drauf und dran unsere Kultur zu überfremden und uns in unserer deutschen Identität zu bedrohen, er ist in seiner Kulturdistanz nicht integrierbar und assimilationsfähig; er will das Ghetto; er ist ein Fremdkörper in unserer Gesellschaft. Der »Türke« wird »gebaut«.

»Feindbild« und Interessenlage in einem härter werdenden Verteilungskampf werden den »Gast« so schnell nicht mehr zum »Freund« werden lassen. Der Versuch, den Anteil der Politik an der Entwicklung der Fremdenfeindlichkeit herauszustellen und die Notwendigkeit der öffentlichen Diskussion über diesen Zusammenhang zu betonen, sollte nicht als vereinfachende Schuldzuweisung verstanden werden.

Nur wird - vielleicht erst nach Jahren - die Fremdenfeindlichkeit als kollektives Verhalten überwunden werden können, wenn es zu einer politischen Veränderung des bisherigen »Gast«-Status der eingewanderten Minderheiten kommt. Nur so kann auch eine Verbesserung in der Einstellung der einheimischen Bevölkerung erreicht werden, die dann wahrscheinlich eher davon abkommt, bestimmte ethnische Minderheiten als prinzipiell deklassierbar zu werten.


Artikel veröffentlicht in:
Evangelische Kommentare, Monatszeitschrift zum Zeitgeschehen in Kirche und Gesellschaft, 15. Jahrgang, Dezember 1982, Nr. 12, S, 664-666