Herbert Leuninger ARCHIV MIGRATION
1981

16. Juni 1981
Bischöfliches Ordinariat Limburg,
Referat Katholiken und Mitbürger anderer Muttersprache

DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
ALS MULTIKULTURELLES EINWANDERUNGSLAND

INHALT

  1. Zur Einwanderung
  2. Zur Integration
  3. Zur Kultur
  4. Zur Fremdenangst
  5. Zur Einstellung von Deutschen gegenüber Nichtdeutschen
  6. Zur demografischen Situation

1.

Zur Einwanderung

1.1

Die Beschäftigung nichtdeutscher Arbeitnehmer in der Größenordnung von Millionen war als Provisorium gedacht und ist Laufe von drei Jahrzehnten eine Strukturkonstante unserer Wirtschaft und Gesellschaft geworden.

Damit wurde ein voraussehbarer und unumkehrbarer Einwanderungsprozeß ausgelöst, in den hunderttausende Familien einbezogen sind.

Auf diese Realität verweisen die Kirchen seit vielen Jahren und fordern eine entsprechende Integrationspolitik. Diese wurde bisher durch eine gigantische Lernhemmung und Verdrängung von Wirklichkeit verhindert.

1.2

Die Europäische Gemeinschaft hat die Freizügigkeit des Arbeitnehmers als ein Grundrecht geschaffen, das auch für die Familien gilt und ein Recht auf Daueraufenthalt einräumt.

Damit ist der Standard eines Einwanderungslandes neuen Stils geschaffen, der tendenziell auch auf die Beschäftigten aus Drittländern angewendet werden soll.

Die EG-Regelungen stellen eine wesentliche Relativierung der nur nationalstaatlich konzipierten Ausländerpolitik dar.

2.

Zur Integration

2.1

Integration ist die Herstellung von Chancengleichheit im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe am wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und sozialen Leben. und damit die Schaffung von Zukunftschancen.

Integration ist eine grundlegende, gesellschaftspolitische Zielsetzung, die sich nicht nur auf die Bevölkerung nichtdeutscher Herkunft, sondern auch auf junge, ältere, kranke und behinderte Menschen und auf weitere sogenannte soziale Randgruppen bezieht.

2.2

Integration setzt nicht die Aufgabe der individuellen und Gruppenidentität voraus und ist daher nicht erst nach einer totalen Assimilierung erreicht.

2.3.

Die Integration der Bevölkerung nichtdeutscher, auch türkischer Herkunft dürfte kaum schwieriger sein, als die Integration weiter Teile der deutschen jungen Generation.

3.

Zur Kultur

3.1

Die Bundesrepublik ist eine multikulturelle Gesellschaft.

3.2

Eine Mehrheitskultur koexistiert in vielfältiger Form mit Minderheitskulturen, zu denen u.a. die der Bevölkerung anderer ethnischer Herkunft gehören.

Die Minderheitskulturen stehen zur Mehrheitskultur entweder

  • in gegenseitiger Kommunikation und Beeinflussung (offene Kulturen) oder

  • nahezu beziehungslos und abgeschlossen (Ghetto-Kulturen) oder
  • in bewußtem Gegensatz (alternative Kulturen).

3.3

Die Mehrheitskultur in der Bundesrepublik unterliegt selbst in einem dynamischen Prozess einer kontinuierlichen Veränderung. Maßgeblicher als alle Minderheitskulturen sind hierfür die politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, militärische unf kulturelle Verflechtung der Bundesrepublik mit der Europäischen Gemeinschaft, mit Europa, mit der NATO und vor allem auch den USA.

3.4

Die eigentliche Gefahr für unsere Kultur ist vielleicht eher die kulturelle Homogenisierung auf Weltebene, verbunden mit einem kulturellen Verfall auf regionaler Ebene (Club of Rome, 1979).

4.

Zur Fremdenangst

 

Die wohl in allen Gesellschaften latent vorhandene und aus der menschlichen Entwicklungsgeschichte herrührende Angst vor allem Fremden äußert sich verstärkt in direkter und indirekter Fremdenfeindlichkeit

4.1

Als Ursachen hierfür sind zu nennen:

  • Die verschlechterte ökonomische Situation mit sich ausdehnender Arbeitslosigkeit;

  • der sich verschärfende Ost/West- und Nord/Süd-Konflikt mit entsprechender politischer Instabilität;

  • das politische und religiöse Erstarken des Islam;

  • die signifikante Anwesenheit nichtdeutscher Kinder und Jugendlicher in den Bildungseinrichtungen und Wohngebieten;
  • die in den Jahren 1977 bis 1980 stark angewachsene Zahl von Asylbewerbern.

4.2

Sie äußert sich:

  • in aggressiven Stellungnahmen des Alltags;

  • in Abwehrformeln der Politiker;

  • in publizistischen Beiträgen;

  • im abweisenden Verhalten von Behördenvertretern;

  • in terroristischen Aktivitäten des Rechtsextremismus.

4.3

Sie legitimiert sich:

  • Durch Betonung der nationalen und kulturellen Identität;

    - durch das Herausstellen von Kultur
  • und Religionsunterschieden;

  • durch Verweise auf den Vorrang des Einheimischen vor dem Zugewanderten;

  • durch die Nährung von Illusionen über eine effiziente Regionalpolitik und mögliche Maßnahmen der Re-Integration;

  • durch das Festhalten überholter politischer Positionen vom Nicht- Einwanderungsland;

  • durch scheinhumanitäre Appelle, die Ausländer nicht von ihrer Heimat zu entfremden etc.

4.4

Sie ist zu überwinden:
Die Überwindung der Fremdenfeindlichkeit und die kulturelle Überformung der Fremdenangst (Xenophobie) sind möglich, wenn

  • das Faktum der Einwanderung und das Phänomen der Multikulturalität als irreversible Realität erkannt und vermittelt werden,

  • die Menschen anderer ethnischer Herkunft in ihren legitimen, durch Menschen- und Grundrechte garantierten Ansprüche anerkannt werden,

  • neue Formen des individuellen und kollektiven Zusammenlebens vom Kindergarten an erlernt werden.

5.

Zur Einstellung von Deutschen gegenüber Nichtdeutschen

5.1

Eine vom. Berliner Senat in Auftrag gegebene Repräsentativ-Umfrage (1980) kommt zu dem Ergebnis, daß bei etwa der Hälfte der Deutsche eine im Prinzip positive Grundhaltung zu den in ihrer Stadt lebenden Mitbürgern anderer nationaler Herkunft vorliegt, ein Drittel ist eher negativ zu ihnen eingestellt, der Rest gilt als gleichgültig oder schwankend in seiner Einstellung.

5.2

Die in die politische Diskussion gekommene Sinus-Studie,, die das Bundeskanzleramt in Auftrag gegeben hatte, stellt fest, daß 13 % der wahlberechtigten Bundesbürger "ein ideologisch geschlossenes rechtsextremes Weltbild" haben. Als typische rechtsextreme Einstellungen ermittelten die Sozialforscher: Haß gegenüber Menschen die "anders" sind, wozu Jugendliche Ausländer, sexuelle Minderheiten und "Asoziale" zählen; Angst vor einer Überfremdung der Deutschen durch Ausländer, was als Bedrohung der deutschen Rasse empfunden wird.

37 % der Befragten weisen nach dieser Studie in ihren Aussagen eine dem rechtsextremen Denken verwandte "autoritäre Einstellungsskala" auf.

6.

Zur demographischen Situation

6.1

Die Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik hat von 62,1 Mio in 1973 auf 61,3 Mio in 1979 abgenommen. Damit ist die Bevölkerungsdichte von 249,8 Einwohnern pro km2 auf 246,6 km2 zurückgegangen.

6.2

Nach neuesten Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird die Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2000 auf 60,5 Mio abnehmen. Damit würde sich die Bevölkerungsdichte auf 243 (EW/km2) verringern.