Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1979

Bischöfliches Ordinariat Limburg
Herbert Leuninger

Gesprächskreis Kirche - Wirtschaft Südhessen
29. März 1979 - Schönberg/Taunus

Die Lage der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland - insbesondere das Problem der ausländischen Kinder

INHALT
Die zweite Generation kann nicht in dem Sinne ein ökonomischer Faktor sein, wie man sich das gemeinhin vorstellt. Danach wäre die zweite und auch die dritte Generation als ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft zu werten, dem nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Chancen eingeräumt werden müssen. In dieser Generation stecken enorme Begabungsreserven.

Die Ausbildung der Zweiten Generation

Eine zweite Generation von Einwanderern unterscheidet sich in ihren Erwartungen an das Aufnahmeland wesentlich von der ersten Generation und deren Vorstellungen. Die Kinder der Einwanderer orientieren sich ihre Chancen an ihren einheimischen Alterskollegen und an deren Erwartungen und Standards.

Daher sind sie nicht bereit, das als provisorisch gedachte Helotendasein ihrer Väter für sich zu akzeptieren, vor allem sind sie im Rahmen ihrer Selbstachtung nicht mehr gewillt und wohl auch außerstande, die den Angeworbenen reservierten, unattraktiven Arbeitsplätze einzunehmen und auf eine berufliche Qualifikation zu verzichten.

Allerdings sind ihre derzeitigen Möglichkeiten auf angemessene Ausbildung in Schule und Beruf so ungünstig, dass gerade ihre berufliche Eingliederung nur durch gesellschaftspolitische Anstrengungen größten Umfangs verbessert werden kann.

Einer angemessenen Berufsausbildung und Eingliederung stehen entgegen:

  • Die unzulängliche Schulbildung verbunden mit der Sprachbarriere (1976 in Hessen: 50% der berufsschulpflichtigen Ausländer besuchen keine Berufsschule, 75% von ihnen haben keinen Hauptschulabschluss und der gleiche Prozentsatz ist ohne Lehrvertrag).

  • Die starke Konkurrenz im Ausbildungsbereich (der Abiturient wird dem Realschüler, der Realschüler dem Hauptschüler, der Hauptschüler dem Sonderschüler und der Deutsche dem Ausländer vorgezogen). Hieraus ergeben sich nicht nur eine geringe Ausbildungsquote, sondern auch eine hohe Arbeitslosigkeit (Frankfurt 1977: die Arbeitslosigkeit jugendlicher Ausländer liegt bei 36%; sie entspricht damit der Arbeitslosigkeit schwarzer Jugendlicher in den USA.

  • Der gesetzliche Vorrang deutscher und ihnen gleichgestellter ausländischer Arbeitnehmer.

  • Die Restgrößenbetrachtung der ausländischen Arbeitnehmerschaft.

  • Der Versuch, das Arbeitskräftepotential der Zweiten Generation zur Bewältigung der Friktionen auf dem Arbeitsmarkt einzusetzen. Dies zeigt sich etwa bei der kürzlich erfolgten Aufhebung der Stichtagsregelung für nachgereiste Familienangehörige. Diese Aufhebung erfolgte nicht zuletzt, um den Arbeitskräftebedarf im Hotel- und Gaststättengewerbe besser decken zu helfen. Dazu die FAZ in einem Kommentar fragend: Ob dies nicht auf einen neuen Seitenpfad der Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmer führe, in dem deren Frauen und Kinder faktisch die Tätigkeitsfelder geöffnet werden, die nun schon den altgedienten Gastarbeitern als nicht sonderlich verlockend erscheinen.

  • Dann die Substitutionsidee, nach der die ausländischen Arbeitnehmer die von ihnen eingenommenen Arbeitsplätze Deutschen zur Verfügung stellen sollen. Egon Overbeck, Vorstandsvorsitzender der Mannesmann AG. und Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie im Handelsblatt: Er meint, die Bundesrepublik könne mit der Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen nur fertig werden, wenn die Gastarbeiter wieder in ihr Heimatländer zurückkehrten und die deutschen Jugendlichen ihre Arbeitsplätze als Hilfsarbeiter oder angelernte Angestellte übernähmen.

    In dem eben erwähnen FAZ-Kommentar ist es vorsichtiger formuliert; Wie viel wären wir eventuell eines Tages bereit, wieder selbst zu machen – zumal von dem, was trotz allen Fortschritts eben nur Menschen machen können? Gegen solche Vorstellungen meint allerdings die Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar 1977: In den Kerngebieten wirtschaftlicher Verdichtung sei es überhaupt nicht möglich, geeignete deutsche Arbeitskräfte zu bekommen. So bringe uns die Rückkehr von Ausländern keinen Schritt weiter. Auch die Vereinigung Hessischer Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände e.V. hat sich in einer Stellungnahme an den Hessischen Sozialminister im Februar 1977 dahingehend geäußert, dass eine bewusst in Kauf genommene und forcierte tendenzielle Abnahme der Ausländerbeschäftigung in einzelnen Wirtschaftsbereichen deren Interessen zuwider laufe. Vergegenwärtigen wir uns nur in aller Kürze das ökonomische Gewicht, das die ausländischen Arbeitnehmer allein in Frankfurt darstellen, und zwar nach einer kommunalen Arbeitsstättenzählung von 1977. Danach sind im Baugewerbe ein Viertel Ausländer, im Hoch-Tief- und Straßenbau fast 30%, im Hotel- und Gaststättengewerbe machen sie ein Drittel aus, im Leder-, Textil- und Bekleidungsgewerbe sind es 40% der Arbeitskräfte und im Reinigungsgewerbe sind es fast die Hälfte der Beschäftigten nichtdeutscher Nationalität.

    Es ist sicher absurd, in diesen Bereichen im stärkeren Umfange Ausländer durch Deutsche substituieren zu wollen. Es werden ja nicht nur in bestimmten Bereichen keine deutschen Arbeitnehmer dafür gefunden, sondern mittlerweile auch keine ausländischen mehr. Das Reservoir der hier lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen reicht nicht mehr aus und die zweite Generation ist hierfür auch kaum mehr aktivierbar.


    Das Drängen der Wirtschaft auf branchenspezifische Lockerungen des Anwerbestopps und die Tatsache der Beschäftigung von Illegalen sind Anzeichen eines auch in anderen Ländern mit noch höherer Arbeitslosigkeit bekannten Vorgangs, dass immer wieder neue Arbeitskräfte benötigt werden, die das niedrige Anspruchsniveau von Einwanderern aus armen Regionen haben. Die illegale Beschäftigung soll nach üblichen Schätzungen 10% der legalen Ausländerbeschäftigung ausmachen. Nach Angaben der Ausländerbehörde Frankfurt sollen in dieser Stadt 30.000 Menschen illegal leben. Unterstellen wir bei ihnen eine Beschäftigungsquote von 50% so sind das in Frankfurt etwa 15.000 illegale Arbeitnehmer ohne Rechts- und Versicherungsschutz.

Die zweite Generation kann nicht in dem Sinne ein ökonomischer Faktor sein, wie man sich das gemeinhin vorstellt. Ihre legitimen und von der Kirche unterstützten Ansprüche an unsere Gesellschaft verlangen ein Umdenken, zu dem auch die Arbeitgeber einen entscheidenden Beitrag leisten können. Danach wäre die zweite und auch die dritte Generation als ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft zu werten, dem nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Chancen eingeräumt werden müssen. In dieser Generation stecken enorme Begabungsreserven, auf die nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die gesamte Gesellschaft der Bundesrepublik nicht zuletzt angesichts des bundesdeutschen Bevölkerungsrückgangs und der damit verbundenen Überalterung dringend angewiesen ist.

Mit Sorge sollte allerdings beachtet werden, dass unsere Gesellschaft gegenüber der Zweiten und Dritten Einwanderergeneration eine immer größere Abwehrstellung einnimmt. Statt nämlich die jungen Nichtdeutschen als wichtigste Erneuerungsressource zu begrüßen, werden sie als Problemgruppe, als Konfliktpotential abgewertet. Es gibt derzeit keine politische und journalistische Stellungnahme, ohne dass auf diese Gesellschaft Ausdrücke wie „Sozialer Sprengstoff mit Zeitzünder", Sozialer Sprengstoff für unser Land", „Soziale Zeitbombe" oder „Explosionsstoff der Zukunft" angewendet werden.

Hiermit wird mehr unbewusst als bewusst der Eindruck hervorgerufen, als könnten diese jungen Menschen unserer Gesellschaft gefährlich werden. Dabei wird die Ursache mit der Wirkung verwechselt, als wären diese Kinder und nicht unsere Gesellschaft für die zweifellos unbestreitbaren Schädigungen einer Desintegration verantwortlich.

Auch hier muss ein Umdenken einsetzen, da eine derart angstbesetzte Einstellung zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe eher für Abwehr- als für Verbesserungsmaßnahmen eintritt.