Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION

Frankfurt braucht Einwanderer

Der nichtdeutsche Beitrag für die Zukunft einer Großstadt

in Frankfurter Hefte, Heft 11, November 1979, S.37

I N H A L T

FRANKFURT SCHRUMPFT
EINWANDERUNG UND ALTERSSTRUKTUR
JUNGE MENSCHEN
DIE AUSWIRKUNGEN DES GEBURTENRÜCKGANGS
ZUWANDERUNG IN DER STADTGESCHICHTE
SYMBIOSE UND FRISCHZELLENTHERAPIE
INTEGRATION ODER ZWEI KLASSENGESELLSCHAFT
KOMMUNALPOLITIK OHNE AUSLÄNDER
IINTEGRATION STATT SEGREGATION
"SOZIALE ZEITBOMBE"?

Anmerkungen

Frankfurt, Handels-, Wirtschafts-, Banken- und Verkehrsmetropole im Zentrum der Bundesrepublik, ist seiner Bevölkerung nach ein einmaliges Gebilde, für das es selbst auf internationaler Ebene kaum einen Vergleich gibt. Am Jahresende 1978 wohnten dort nämlich 122 400 als Ausländer registrierte Personen. Damit ist fast jeder fünfte Einwohner (19,3 Prozent) der Stadt nichtdeutscher Herkunft. Unter den Großstädten im Bundesgebiet mit mehr als einer halben Million Einwohnern weist Frankfurt mit diesem Prozentsatz den höchsten Ausländeranteil auf.(1)

Neben den Vertretern der internationalen Geschäftswelt, den Studenten und Praktikanten aus aller Welt, dem Personal von mehr als fünfzig Fluggesellschaften sind drei Viertel dieser Bevölkerungsgruppe Arbeitnehmer mit ihren Angehörigen aus den sogenannten Anwerbeländern: aus Griechenland, Italien, Jugoslawien, Portugal, Spanien, aus der Türkei und dem Maghreb. Vornehmlich mH ihnen und ihrem als verjüngender Komponente wichtigen Beitrag für Frankfurt befasse ich mich.

FRANKFURT SCHRUMPFT

Frankfurts Bevölkerung hat in der letzten Dekade zahlenmäßig und von der Zusammensetzung her tiefgreifende Veränderungen erfahren. So ist die Gesamteinwohnerschaft zwischen 1966 und 1976 um mehr als 50.000 auf 631.000 gesunken.(2) Als noch drastischer erweist sich der Rückgang der Deutschen, er stellt den Umfang einer abgewanderten Großstadt von 110.000 Personen dar. Eine wandernde Bevölkerung, also eine Bevölkerung, die zu- oder wegzieht, hat einen von der Gesamtbevölkerung stark abweichenden Altersaufbau, der sich dadurch auszeichnet, daß die Zwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen, einschließlich der mit ihnen wandernden Kinder, das Gros der Wanderungsfälle ausmachen.(3) In Frankfurt, wie in anderen Großstädten, handelt es sich bei der abwandernden Bevölkerung zum Großteil um einen Personenkreis, dem die Lebensqualität, vor allem auch hinsichtlich der Größe einer Wohnungen in der Stadt, nicht mehr ausreicht, und der sich im Umland bessere Lebensbedingungen verspricht. Zurück bleiben die ältere und wenig flexible Bevölkerung und die Schichten, die sich einen höheren Lebensstandard im Umland nicht leisten können.

Das Schrumpfen Frankfurts ist erheblich dadurch gemildert worden, daß die nichtdeutsche Wohnbevölkerung im gleichen Zeitraum um mehr als 50.000 auf insgesamt 114.000 anstieg.

Die Arbeiter aus den genannten Anwerbeländern, einschließlich Italien, haben die Arbeitsplätze übernommen, die von Deutschen abgelehnt werden, beziehungsweise für die Deutsche in ausreichender Anzahl nicht mehr zur Verfügung standen. Dieser Kompensationseffekt war wirtschaftlich und politisch solange gewollt, wie dieser Teil der Arbeiterschaft besonders flexibel und konjunkturgerecht eingesetzt werden konnte. Mit Beginn der Rezession gedachten das Bundesarbeitsministerium und die Bundesanstalt für Arbeit, die einsetzende Arbeitslosigkeit durch den Rückgang der Ausländerbeschäftigung auffangen zu können. Dies ist in einem gewissen Umfang gelungen, weil seit September 1973 bis heute mehr als fünfundzwanzig Prozent der ausländischen Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verloren oder aufgegeben haben oder sogar von ihm verdrängt wurden. Trotz allem haben wir immer noch eine relativ hohe Ausländerbeschäftigung. Sie hängt unter anderem damit zusammen, daß der durch die Beschäftigung der nichtdeutschen Arbeitnehmer erfolgte Aufstieg der deutschen Arbeitnehmer nicht mehr rückgängig gemacht werden kann; das heißt, deutsche Arbeitslose sind nicht mehr bereit, und vielleicht auch nicht mehr dazu in der Lage, die typ1schen Gastarbeiter-Arbeitsplätze auszufüllen und den damit eintretenden sozialen Abstieg und Statusverlust hinzunehmen.

Eine politisch nicht gewollte Folge aus der langjährigen Ausländerbeschäftigung sind der Nachzug von Ehepartnern mit Kindern und die Gründung von Familien. In Frankfurt lebten 1973 116.000 Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Ende 1978 waren es 6.400 mehr. Betrug ihr Bevölkerungsanteil vor sechs Jahren noch 17,2 Prozent, so ist er mittlerweile um zwei Prozentpunkte angestiegen.

Zwar ist in dieser Bevölkerungsgruppe eine sehr hohe Fluktuation festzustellen, sie ändert aber nichts an der Tatsache, daß wir es mit einer faktischen Einwanderung zu tun haben. Fast zwei Drittel der Ausländer in Hessen leben länger als sechs Jahre in der Bundesrepublik. (4) Nimmt man ihre Kinder unter sechs Jahren und die in den letzten Jahren nachgereisten Kinder und Jugendlichen hinzu, dann kann man davon ausgehen, daß nahezu drei Viertel der nichtdeutschen Arbeiterbevölkerung als potentiell Ansässige zu gelten haben. Damit hat der Einwanderungsprozeß einen Reifegrad erreicht, der nicht mehr rückgängig zu machen ist.

EINWANDERUNG UND ALTERSSTRUKTUR

Was bedeutet nun diese Einwanderung für die Altersstruktur Frankfurts? Betrachten wir hierzu die Alterspyramide der Stadt: Im Grunde handelt es sich nicht mehr um eine Pyramide mit breiter Basis, die sich zur Spitze verjüngt, sondern um einen seltsam nach rechts oben auskragenden »Weihnachtsbaum«. Dies ergibt sich aus dem besonders hohen Anteil älterer deutscher Frauen. Die untersten »Äste« des »Weihnachtsbaumes« sind wegen des starken Geburtenrückgangs erheblich gestutzt.

Die eigentliche Besonderheit des frankfurter Altersprofils liegt in dem Anteil, den die nichtdeutschen Einwohner an den entsprechenden Altersgruppen haben. So stellen sie bei den Ein- bis Vierzigjährigen einen erheblichen Prozentsatz. Ab vierzig spielen sie nur noch eine untergeordnete Rolle. Völlig unterrepräsentiert sind die Ausländer naturgemäß bei den älteren Jahrgängen ab fünfzig. Dafür ist die deutsche Bevölkerung in dieser Altersgruppe sehr stark vertreten. So hat die Volkszählung von 1971 mit dreizehn Prozent bereits einen vergleichsweise hohen Anteil von Menschen, die das fünfundsechzigste Lebensjahr überschritten haben, ergeben. 1939 betrug ihr Anteil nur acht und 1925 etwas über vier Prozent. 1977 lebten 110.000 ältere Menschen - unter ihnen nur knapp 2.000 Ausländer - in Frankfurt. Das sind 17,3 Prozent der gesamten Einwohnerschaft. (5)

JUNGE MENSCHEN

Der Altersaufbau der nichtdeutschen Wohnbevölkerung Frankfurts ist in sich gesehen atypisch für eine eingesessene Bevölkerung mit nur städtischen, sondern auch ländlichen Zuschnitts. Es dominieren nämlich nicht nur die Altersstufen im mittleren Erwerbsalter, sondern, was für die besondere Form der europäischen Binnenwanderung kennzeichnend ist, die Männer. Immerhin zahlt die Bundesanstalt für Arbeit für etwa eine Million im Ausland lebender Kinder hier beschäftigter ausländischer Arbeitnehmer Kindergeld. Das sind fast eben soviele Kinder wie die, die hier bei ihren Eltern oder Elternteilen leben. Hinter solchen Zahlen verbirgt sich nicht nur das familienbelastende und familienzerstörende Moment der Emigration, sondern auch ein jugendliches Nachzugspotential, das derzeit noch in der Bundesrepublik als unerwünscht gilt, aber in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft das Reservoir geförderter und forcierter Kompensationswanderung sein könnte.

Ist das Bevölkerungsprofil der nichtdeutschen Einwohner Frankfurts im erwerbsfähigen Alter ab fünfundsechzig atypisch, so haben wir es bei den unter Fünfundzwanzigjährigen mit einer in sich und für die frankfurter Struktur neuartigen Schicht zu tun. Es handelt sich nicht mehr um Angeworbene, da seit dem September 1973 ein allgemeiner Anwerbestopp besteht. Unabhängig von den Italienern, denen Freizügigkeit zusteht, sind es die Kinder und Jugendlichen, die mit ihren erwerbsuchenden Eltern in die Bundesrepublik gekommen oder im Laufe der letzten Jahre nachgezogen sind. Hinzuzuzählen sind die Kinder, die hier geboren wurden und aufgewachsen sind. Man nennt sie die zweite Generation der Einwanderer. Mittlerweile hat diese selbst schon wieder Kinder, die als dritte Einwanderergeneration zu bezeichnen wären.&xnbsp;

Diese zweite und dritte Generation spielt von ihrer Größenordnung und von ihrem Verhältnis zur deutschen Gesellschaft her eine entscheidende Rolle für die Verjüngung Frankfurts. Die Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen mit anderer Muttersprache sind im Vergleich zum ausländischen Bevölkerungsanteil überdurchschnittlich vertreten, während die Zehn- bis Zwanzigjährigen etwas unter dem ihnen zukommenden Anteil liegen. Dies ändert sich aber mit den bis zu zehnjährigen Kindern ganz erheblich, und zwar in einer erstaunlichen Synchronizität mit dem rapiden Geburtenrückgang in der deutschen Bevölkerung. So stellen die Kinder nichtdeutscher Eltern, die zwischen fünf und zehn Jahren alt sind, bereits ein Viertel ihrer Altersgruppe in Frankfurt. Bei den bis zu Fünf jährigen sind es sogar dreiundvierzig Prozent, also nahezu die Hälfte. Es zeichnet sich hier eine Europäisierung der frankfurter Bevölkerung ab.

DIE AUSWIRKUNGEN DES GEBURTENRÜCKGANGS

Wenn in einem Gemeinwesen mehr Menschen sterben als geboren werden, ist dies das deutlichste Signal für eine alternde Population. Dieser Zeitpunkt setzt in Frankfurt mit dem Jahre 1968 ein. Damals wurden 329 weniger Geburten als Todesfälle registriert. Dieses Defizit vergrößerte sich immer mehr und lag 1977 bei dem Siebenfachen, nämlich bei 2:372, und zwar trotz dem hohen Geburtenanteil der Bevölkerung anderer ethnischer Herkunft.

Die Geburtenzahlen bei den Deutschen fielen indem gleichen Zeitraum von fast 7.000 jährlich auf weniger als die Hälfte, und zwar auf 3.300. Dafür stiegen die Geburten der Ausländer von 1.200 auf über 2.000 an, das heißt, sie machen 1977 38 Prozent der Geburten ortsansässiger Mütter aus. Hierbei werden die Kinder, deren Väter Deutsche sind, und seit 1975 auch die, deren Mütter Deutsche sind, als deutsche Staatsangehörige gerechnet.

Immerhin sind aber 12 bis 15 Prozent der in Frankfurt geschlossenen Ehen seit dem Jahre 1973 Ehen gemischter Nationalität. Es handelt sich jährlich um etwa 500 bis 600 Ehepaare, deren Kinder als Deutsche gelten.

Addiert man, was statistisch sicher nicht korrekt ist, das jährliche Geburtendefizit bei der deutschen Bevölkerung, so ergibt sich, daß für sie von 1968 bis 1977 37.000 Geburten zur Bestandserhaltung fehlen, während die nichtdeutsche Bevölkerung ein Plus von 17.500 verzeichnet. Zu beachten ist hierbei natürlich die unterschiedliche Sterblichkeitsrate. So entfielen auf 1.000 Deutsche 1977 14,4 Todesfälle, bei den Ausländern nur 1,6. Dabei ist aber auch das Durchschnittsalter der Verstorbenen von 69,6 Jahren in 1970 auf 71,4 in 1977 angestiegen. Dies bedeutet für die Bevölkerung eine. größere Lebenserwartung, die ihrerseits aber auch ein weiterer Grund für die Überalterung ist.

Derzeit stellen die europäischen Einwanderer auf die gesamte Stadt hin betrachtet nahezu vierzig Prozent des Nachwuchses. In den Stadtteilen mit höherer Ausländerkonzentration sind es aber bereits fünfzig, sechzig oder siebzig Prozent. Gerade in diesen Stadtteilen beginnt das, was man ein Auswechseln der Bevölkerungselemente nennen könnte.

ZUWANDERUNG IN DER STADTGESCHICHTE

Daß Frankfurt in der dargelegten Form und in diesem Umfang auf die generative Potenz von Einwanderern angewiesen ist, stellt in der Stadtgeschichte wohl ein Novum dar. Die Zuwanderung als solche ist aber ein Dauerphänomen seit dem: frühen Mittelalter. Die Stadt hat fast immer eine hohe Anziehungskraft für die nähere und weitere Umgebung besessen, sie hat sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus wie ein Magnet gewirkt. Hierbei ist die Stadt aber keineswegs immer nur die Gebende, sondern viel eher die Nehmende gewesen. Wachstum, Dynamik und Wirtschaftskraft verdankt sie in hohem Maße dem ständigen Zuzug junger, aufstrebender, innovationsbereiter und talentierter Zuwanderer. Unter diesem Aspekt ist auch die Ausländerbeschäftigung der vergangenen beiden Jahrzehnte einzuordnen und zu verstehen.

Bereits um 1350, als Frankfurt nur 10.000 Einwohner zählte, stammte die Mehrzahl von ihnen aus Gebieten nördlich des Mains, vornehmlich aus der Wetterau.(6)

Zweihundert Jahre später ist Frankfurt neben Antwerpen und Nürnberg eine Stadt, die wegen ihrer Bedeutung als Handelszentrum in besonderer Weise junge Leute aus anderen deutschen Städten anzieht. (7)

In der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts nahm Frankfurt einen. großen Aufschwung. Es verdankte ihn, wie die Historiker feststellen, nicht so sehr der Initiative der eingesessenen Bürger, als vielmehr einer klugen Einwanderungspolitik. Die Stadt öffnete sich - ebenso wie Leipzig, Hamburg und Danzig - den aus religiösen Gründen vertriebenen Belgiern, Holländern, Franzosen und Engländern. (8) Diese bildeten eine sehr gemischte Gesellschaft von Einwanderern, die aus Reichen und Unbemittelten, aus Kaufleuten, Handwerkern und Arbeitern bestand. Soweit sie in Frankfurt verblieben oder verbleiben durften, haben sie mit ihrem Unternehmungsgeist, ihren fortschrittlichen Arbeitsmethoden und einer überlegenen Kultur das Wirtschaftsleben der Stadt sehr befruchtet und neue Industrien, wie die Seidenindustrie und die Großfärbereien, außerdem die Juwelierkunst eingeführt. (9)

Natürlich spielten auch die Juden eine entscheidende Rolle für das wirtschaftliche Leben der Stadt. Anderwärts verfolgt und vertrieben, fanden sie in Frankfurt Zuflucht. 1797 schrieb ein Anonymus: »Und ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich behaupte, daß unsere Stadt ohne die Juden nicht so blühend und wichtig sein würde, wie sie itzt wirklich ist« (10).

Für 1590 wird die gesamte christliche Einwohnerschaft auf 18.000 geschätzt. Friedrich Bothe, der eine »Geschichte der Stadt Frankfurt am Main« geschrieben hat, meint zusammenfassend: »So war eine starke fremdsprachliche Bevölkerung in der Mainstadt heimisch geworden: der 5. oder 6. Teil aller Bürger- und Beisassenfamilien war nichtdeutscher Herkunft« (11). Das ist übrigens der gleiche Prozentsatz, wie wir ihn heute nach fast vierhundert Jahren wieder haben.

So liberal und aufnahmebereit - vor allem auch für Glaubensunterschiede - war Frankfurt schließlich doch nicht, daß nicht Angst vor religiöser, wirtschaftlicher und politischer Überfremdung aufkam. So entschloß sich der Rat der Stadt zu Abwehrmaßnahmen bis hin zur Errichtung eines Inquisitionsamtes. (12) Dies führte zu einer Massenauswanderung steuerkräftiger Einwohner, unter anderem nach Hanau, und ließ Frankfurt wirtschaftlich ins Stocken geraten. Solche und ähnliche Abwehrmaßnahmen in der Geschichte Frankfurts, die nicht nur gegen die Juden gerichtet waren, müssen als unangemessene Versuche angesehen werden, die positiven Folgen fremdsprachiger Zuwanderung von den als negativ empfundenen Irritationen des bestehenden Gefüges zu trennen. Die mit starker Zu- und Einwanderung notwendige Ausbalancierung eines städtischen Gemeinwesens könnte auch als stets neue Aufgabe der Integration umschrieben werden. Trotz aller Abwehrmaßnahmen wuchs aber die Zahl der Beisassen, also der Einwohner ohne volle bürgerliche Rechte, weiter. Zu den Franzosen, Belgiern und Holländern kamen schließlich auch noch Italiener und Schweizer.

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zählte Frankfurt 41.000 Einwohner, von denen ungefähr 22.000 das Bürgerrecht besaßen. Jüdische Einwohner gab es nahezu 3.200. Sie und die bei den Einwohnern mitgezählten Dorfbewohner, die auch kein Bürgerrecht besaßen, abgerechnet, dürften mehr als ein Drittel der Einwohner Frankfurts Zuwanderer deutscher und nichtdeutscher Herkunft gewesen sein. Die gegenseitige Integration schien aber gelungen zu sein, denn »die Bürgerschaft lebte friedlich und behaglich« (13). Von 1815 bis 1866 verdoppelte sich die Einwohnerzahl. Die Stadt wurde vor allem durch die Landflucht aus den umliegenden Mittelgebirgen - Hintertaunus, Westerwald, Vogelsberg, Rhön, Spessart, Odenwald und Hunsrück - vergrößert. Viele junge Menschen vom Land fanden als Hilfskräfte und Dienstboten Arbeit und Unterkunft in Frankfurt. Seit 1815 gab es in Frankfurt einen permanenten Diplomatenkongreß, der einen starken Zuzug von Dienstboten und Militär mit sich brachte. Auch hier war das Anwachsen Frankfurts mit einer Internationalisierung der Bevölkerung verbunden.(14)

Ab 1870 strömten Arbeiter und Angehörige der Mittelschicht nicht nur aus den obengenannten ärmeren Gebieten, sondern auch aus fruchtbaren Gegenden wie der Wetterau, Franken, Rheinhessen, der Pfalz, des Mittelrheins - wo es an Arbeit fehlte - in die Stadt. Bis 1914 verfünffachte sich die Bevölkerung.(15)

Die Entwicklung Frankfurts nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Stadt von fast 700.000 Einwohnern ist wiederum ein Ergebnis starker Zuwanderung. 1965 machen die Zugewanderten - wie vor hundert Jahren - über die Hälfte der Einwohnerschaft aus. Kaum vierzig Prozent können als »echte« gebürtige Frankfurter gelten. Mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung setzen sich aus Zugezogenen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Dazu zählen 170.000 Heimatvertriebene, über 200.000 Menschen aus allen Teilen des Bundesgebietes, vor allem aus Bayern, aus dem Rheinland und Westfalen. Die Zahl der Ausländer beläuft sich damals bereits auf 50.000. Neben den Gastarbeitern sind es Geschäftsleute, Gewerbetreibende, Studenten, Praktikanten. Im Statistischen Bericht aus dem Jahre 1966 heißt es, allerdings vor Erwähnung der Ausländerzahlen, daß die landsmannschaftlichen Unterschiede zwischen Einheimischen und Zugewanderten vielfach verwischt und der Assimilierungsprozeß weit fortgeschritten sei. (16) Gleichzeitig- wird der hohe Lebensstandard und Wohlstand der frankfurter Bevölkerung vor allem auf die hohe Erwerbsquote von zweiundfünfzig Prozent zurückgeführt.

SYMBIOSE UND „FRISCHZELLENTHERAPIE

Der geschichtliche Überblick verdeutlicht, daß die Entwicklung Frankfurts stets in einer Art großräumigen Symbiose vor sich geht, in die das nähere und weitere Umland und sogar der mitteleuropäische Raum einbezogen waren. Frankfurt hat bei der erforderlichen »Frischzellentherapie«. vor allem von der Landflucht profitiert, nur daß mittlerweile die bisherigen ländlichen Gebiete Phänomenen der Verstädterung unterliegen, weite Teile des bisherigen Landes praktisch großstädtisches Umland geworden sind und durch den Rückgang der Geburten auch in diesen Bereichen kein Abwanderungsdruckmehr besteht. Die Landflucht hat mittlerweile längst die bisherigen Einzugsgebiete der Großstädte überschritten und kontinentale Dimensionen angenommen. Sie bezieht sich auch nicht mehr auf die Großstädte allein, nicht einmal mehr nur auf die einzelnen Ballungsgebiete, sondern konzentriert sich auf den hochindustrialisierten Raum Zentral- und Nordeuropas. Diese Regionen benötigen im Rahmen ihres wirtschaftlichen Aus- und Aufbaus zusätzliche Arbeitskräfte in der Größenordnung von Millionen.

Ohne die nichtdeutschen Arbeitnehmer hätte Frankfurt seine Position als Wirtschaftsmetropole nicht ausbauen können. Ohne sie wäre die Prosperität dieser Stadt in dem Tempo und Ausmaß nicht möglich gewesen. Frankfurts eingesessene Arbeiterbevölkerung und die relativ große Zahl der Einpendler waren für sich allein außerstande, die erforderliche Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.

Dabei muß man wissen; daß das Anwerbesystem der Bundesanstalt für Arbeit mit ihren Anwerbekommissionen in den entsprechenden Ländern seinerzeit nur junge, gesunde und kräftige Menschen ausgewählt hat, die von ihrer Konstitution und Einstellung her das in unserer Wirtschaft erforderliche Kräftepotential ergänzt und auch regeneriert haben.

Derzeit nehmen die nichtdeutschen Arbeitnehmer ein Viertel der Arbeitsplätze im frankfurter Baugewerbe ein. Im Leder-, Textil- und Bekleidungsgewerbe sind sie zu vierzig Prozent, im Hotel- und Gaststättengewerbe zu einem Drittel und im Reinigungsgewerbe sogar fast zur Hälfte vertreten. (17) Sie tragen entscheidend dazu bei, daß bestimmte Betriebe und Fabriken überhaupt weitergeführt werden können.

Daß den nichtdeutschen Arbeitern in besonders hohem Maße die schweren und ungünstigen Arbeitsplätze zufallen, ist sicher eine Form der Diskriminierung, charakterisiert andererseits aber auch die Bedeutung gegenüber einer deutschen Arbeiterschaft, die, gleich aus welchen Gründen, die für alle Arbeitsfunktionen unseres Wirtschaftslebens. erforderlichen jungen Arbeitskräfte für schwere körperliche Arbeit nicht mehr stellen kann. Aufgrund der Herkunft, der mangelnden Ausbildung, der Sprachschwierigkeiten, der nicht gegebenen Integration, der gesellschaftlichen Minderbewertung und des arbeitsbedingten Verschleißes bleiben für die StadtgeseIlschaft konstruktive Energien und Potentiale dieser Menschen brachliegen. Frankfurt leistet sich in einer Verschwendung ohnegleichen eine Klasse von Kulis. Dies kann nur derjenige einigermaßen ermessen, der unmittelbaren Kontakt mit dieser Bevölkerungsgruppe hat, bei der eine überdurchschnittliche Aufsteigermentalität durch gesellschaftliche Barrieren gebremst wird.&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;

Auch für die zweite Generation zeichnen sich bereits Dauerdefizite ab, die dieser den ihr zustehenden sozialen Aufstieg versagen: 1978 gab es in allen Schulformen und Schulstufen Frankfurts, allerdings ohne die Berufsschulen, 13,4 Prozent Schüler, deren Eltern aus den klassischen Anwerbeländern stammen. In den Realschulen und Gymnasien der Stadt stellt diese Schülergruppe allerdings nur vier Prozent.(18)

INTEGRATION ODER ZWEI KLASSENGESELLSCHAFT

Frankfurt steht an einem Scheideweg. Wird es gelingen; die nichtdeutsche Arbeits- und Wohnbevölkerung zum Wohle der Stadt zu integrieren? Oder entwickelt sich eine Zwei Klassen-Gesellschaft der Bürger und Beisassen, wie es für Jahrhunderte aus der Stadtgeschichte bekannt ist?

&xnbsp;Im ersten Falle käme es zu einer neuartigen, interethnischen und auf vielseitige Interaktionen angelegten Stadtgesellschaft, die besonders von der Veränderungsbereitschaft junger Einwanderergenerationen profitierte; im anderen Fall entwickelte sich eine Zwei Klassen-Gesellschaft, in der Deutsche und Nichtdeutsche getrennt voneinander lebten, nur die Deutschen eine kommunalpolitisch und gesellschaftlich maßgebliche Rolle spielten und eine nichtdeutsche, sozial deklassierte und nicht gleichberechtigte Nebenbevölkerung wohnte, deren Humanpotential - wenn dieser Ausdruck gestattet ist - partiell ausgebeutet und verschwendet wird.

KOMMUNALPOLITIK OHNE AUSLÄNDER

Eine wahlstatistische und wahlsoziologische Analyse der letzten Kommunalwahl in Frankfurt läßt gewisse Überlegungen zu, was es für Frankfurt bedeutet, wenn die Ausländer auch weiterhin kein kommunales Wahlrecht bekommen. (19)

Bekanntermaßen steigt die Wahlbeteiligung mit dem Alter. Die geringste Wähleraktivität entfalten die einundzwanzig- bis fünfundzwanzigjährigen Wahlberechtigten mit kaum mehr als fünfzig Prozent. Die Wahlbeteiligung steigt kontinuierlich an und erreicht bei den Siebzigjährigen einen Wert, der bei fünfundachtzig Prozent liegt.

Nicht nur die geringere Wahlbeteiligung, sondern auch der niedrige Prozentsatz an jüngeren Wählern überhaupt &xnbsp;verstärken den politischen Einfluß der Älteren. Die Achtzehn- bis Fünfunddreißigjährigen stellen nur ein knappes Fünftel der frankfurter Wählerschaft. Dafür machen die über Sechzigjährigen siebenunddreißig Prozent der Wähler aus, mit der Schicht der Fünfundvierzig- bis Sechzigjährigen zusammengenommen sogar fast zwei Drittel. Eine ziemlich erdrückende Mehrheit!

Die Parteien - gleich welcher Couleur - können sich, wenn sie in Frankfurt Mehrheiten gewinnen wollen, nicht auf die Jugend verlassen. Die großen Parteien werden, ob sie es wollen oder nicht, in ihrem Programm und in ihrer Werbung künftig noch stärker als bisher auf die Altersstruktur dieser Stadt Rücksicht nehmen müssen und sich damit der Überalterung anpassen. Dies kann allerdings weder den Parteien noch der Stadt nützen. Gesamtpolitisch wichtiger wäre es, ein bislang nicht erschlossenes Wählerreservoir einzubeziehen, nämlich die in der Stadt ansässigen Nichtdeutschen. Dies entspräche nicht nur einem demokratischen Selbstverständnis, nach dem eine ansässige Minderheit von zwanzig Prozent nicht von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen bleiben darf, sondern auch der Notwendigkeit, den politischen Veränderungsdruck, der eine wesensgemäße Aufgabe der jungen Generation ist, zu erhöhen.

INTEGRATION STATT SEGREGATION

Die Stadtflucht der mobilen deutschen Bevölkerung - nicht zuletzt aus den umweltbelasteten und ungünstigeren Wohnquartieren - geht einher mit Konzentrationstendenzen der Ausländer in bestimmten Stadtteilen. Diese Tendenzen hängen auch damit zusammen, daß Ausländer Wohnungen nur dort erhalten, wo deutsche Mieter in ihren Wohnal1lsprüchen nicht mehr befriedigt werden können. Die sieben Stadtteile mit dem höchsten Ausländeranteil haben eine Gesamtbevölkerung von circa 100.000 Einwohnern. Darunter sind 33.000, das heißt 33 Prozent Nichtdeutsche. Von 1975 bis 1977 hat die deutsche Bevölkerung dort um neun Prozent abgenommen, während sich im gleichen Zeitraum der Ausländeranteil um zwei Prozent erhöht hat.

Unter diesen Stadtteilen gibt es wiederum solche mit einem Ausländeranteil von über vierzig beziehungsweise über sechzig Prozent. Der fortschreitende Wegzug jüngerer deutscher Familien, die dadurch bedingte mangelnde Reproduktionsrate, der ausländische Geburtenanteil von circa sechzig Prozent und der Familiennachzug bringen die Deutschen in eine immer stärkere Minderheitensituation, was ihre Abwanderung noch weiter verstärkt. Wenn diese Entwicklung nicht aufgehalten oder sogar rückgängig gemacht wird, kommt es zu Wohngebieten, in denen die Ausländer - vor allem in Kindergärten und Schulen - völlig unter sich sind. Die unzureichende Qualität der Wohnungen wird sich nicht nachhaltig verbessern und die Gefahr diskriminierender Abschließung heraufbeschwören. Das Zusammenleben von Menschen verschiedener ethnischer Herkunft in Frankfurt wäre damit erheblich gestört. Vorhandene Vorurteile würden eher verstärkt als abgebaut, neue notwendige Formen des Zusammenlebens könnten nicht gefunden werden.

Das gemeinsame Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist die beste Voraussetzung für eine gemeinsame, chancengleiche Zukunft aller, für ein weitgehend vorurteils- und konfliktfreies Zusammenleben und für den gemeinsamen Beitrag der jungen Generation zur Veränderung und Entwicklung der Stadt. Es müßte unbedingt gelingen, die schmale, vielleicht bereits zu schmale Basis einer multi-ethnisch zusammengesetzten jungen Generation zu einer maßgeblichen Schicht der Innovation werden zu lassen. Was würde wohl eintreten, wenn diese Stadt sich noch stärker als bisher von der Einflußnahme der Jugend abkapselt? Eine solche Gesellschaft ist schwerlich dynamisch und aufgeschlossen genug, die notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen durchzuführen. Nur ein Nachwuchs, der gut geschult ist und auch von der Zahl her ausreicht, hat die Befähigung, modernes Wissen, moderne Techniken und Verhaltensweisen zu erlernen, durchzusetzen und anzuwenden. (20)

"SOZIALE ZEITBOMBE"?

Die Einstellung unserer Gesellschaft zur zweiten und dritten Einwanderergeneration ist allerdings eher die einer »alternden« Bevölkerung. Sie ist derzeit noch außerstande, die einmalige Bedeutung dieser jungen Menschen für ihre eigene Entwicklung und ihren Fortbestand zu sehen und bezieht eine sie selbst und andere bedrohende Abwehrstellung. Statt also die jungen Nichtdeutschen als wichtigste Erneuerungsressource zu begrüßen, werden sie als Problemgruppe, als Konfliktpotential abgewertet. Kennzeichnend ist hierfür die allenthalben verwendete Vokabel von dem »sozialen Sprengstoff«, den die nichtintegrierten Jugendlichen ausländischer Arbeitnehmerfamilien darstellen sollen. Kaum ein Beitrag in den Medien über die Rolle dieser Generation glaubt auf diesen Ausdruck verzichten zu können. Die Frage lautet sinngemäß so: »Werden die ausländischen Arbeitskräfte und ihre Kinder zu einer gesellschaftsbedrohenden Randgruppe? Beginnt hier die Zeitbombe zu ticken ?«

Beunruhigt fragt man sich, woher dieses schaudererregende Unisono in unserer Gesellschaft kommt. Meines Wissens gibt es einen Vater dieser Sprachregelung, und zwar einen seinerzeit im Bundesarbeitsministerium für ausländerbeschäftigungspolitische Fragen zuständigen Beamten, Dr. Wolfgang Bodenbender, der in einem von den Medien stark beachteten Vortrag im November 1976 eine Zwischenbilanz der Ausländerpolitik gezogen und dabei ein regelrechtes Bedrohungssyndrom herausgearbeitet hat. Bodenbender zählt zu den Fehlentwicklungen der Ausländerbeschäftigung unter anderem neben dem Familiennachzug die Geburtenentwicklung bei den Ausländern. Einer der bezeichnenden Sätze aus dem Referat: »Wenn heute bereits in vielen Siedlungsgebieten der Geburtenanteil der Ausländer auf die 40%-Quote zusteuert, in etlichen Städten diese Quote weit überschritten ist und auf 50% zugeht, beinhaltet das sehr ernstzunehmende Gefahren«. So werde der ausländische Bevölkerungsanteil erheblich steigen und die deutsche Bevölkerung zurückdrängen. Eine Ausländerpolitik ohne Abwehr des jährlich hunderttausendfachen Zustroms aus dem Ausland angesichts der vier Millionen Ausländer und im Hinblick auf die dynamische Geburtenentwicklung bedeute eine chaotische Entwicklung. (21) Bodenbender selbst Sozialarbeiter, hat dann in seinem weitgestreuten Referat den verhängnisvollen Satz geprägt: »Jeder, der in Kategorien sozialer Prozesse denken kann, der weiß, daß das, was sich hier anbahnt, sozialer Zündstoff mit Zeitzünder ist«.

Mit einer solchen Ausdrucksweise wird das Verursacherprinzip auf den Kopf gestellt, das heißt die Ursache wird mit der Wirkung verwechselt, als wären diese Kinder und nicht unsere Gesellschaft für die zweifellos unbestreitbaren schwerwiegenden Schädigungen einer Desintegration verantwortlich. Mit einer solchen Sprachregelung wird außerdem latente und offene Ausländerfeindlichkeit in gewissem Sinne legitimiert, und in der Gesellschaft vorhandene Aggressionen und Frustrationen werden auf eine sozial schwache Gruppe abgelenkt. Eine dermaßen angstbesetzte Einstellung blockiert notwendige gesellschaftliche Kräfte zur Verbesserung. Sie wirkt demobilisierend; geweckt werden stattdessen eher Kräfte, die für massive Abwehrmaßnahmen eintreten.

Hoffnungsvoll stimmt, daß im Laufe des vergangenen Jahres eine Klimaverbesserung zugunsten der zweiten und dritten Einwanderergeneration in unseren Großstädten und in der Bundesrepublik festzustellen ist. Kennzeichnend hierfür ist die auf eine Sympathiewerbung abgestellte Kampagne der Aktion Gemeinsinn e. V. »Ausländische Kinder - unsere Freunde«. In einem Appell zur Eröffnung dieser Aktion wies Altbundespräsident Walter Scheel darauf hin, daß die deutsche Bevölkerung erkennen sollte, daß die Zukunft der ausländischen Kinder von ihrer eigenen Zukunft nicht zu trennen sei. (22)