Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1977

BISCHÖFLICHES ORDINARIAT LIMBURG
Dezernat Kirchliche Dienste
Referent für kirchliche Ausländerarbeit

INTEGRATION IM VORSCHULALTER
Die Bedeutung des Kindergartens für die gemeinsame Zukunft deutsch- und anderssprachiger Kinder

Vortrag auf der Mitgliederversammlung des BÜROS FÜR STAATSBÜRGERLICHE FRAUENARBEIT E.V.
am 13.September 1977 im Hessischen Landtag

INHALT
Der Versorgungsgrad nichtdeutscher Kinder mit Kindergartenplätzen liegt weit unter dem Anteil deutscher Kinder. Dabei ist gerade die Integration im Vorschulalter von entscheidender Bedeutung für die Kinder einer eingewanderten Arbeiterbevölkerung.


Die die "Ausländer"-Szene am prägnantesten beleuchtende Nachricht der letzten Wochen ist eine Mitteilung des Hessischen Kultusministers Krollmann, nach der nur 48% der berufsschulpflichtigen "Gastarbeiterkinder" die Berufsschule besuchen und 75% von ihnen keinen Hauptschulabschluß besitzen. Der entsprechenden Zeitungsnotiz zu ergänzen wäre noch das Faktum, daß 75% auch ohne Ausbildungsplatz sind. Dazu paßt eine dpa-Meldung vom 1. September. Die Arbeitslosigkeit in USA unter schwarzen Jugendlichen sei in diesem Sommer mit 34,8% auf einen Höchststand geklettert. Bei weißen Jugendlichen betrage sie nur 12,6%. Die allgemeine Arbeitslosigkeit in den USA belaufe sich derzeit auf 6,9%.

Was ist zu tun?

Niemand weiß eine Antwort, vor allem nicht in einer "Wirtschaftskrise", die die gesellschaftlich Schwachen am härtesten trifft. Ich gehe davon aus, daß die berufliche Desintegration "ausländischer" Jugendlicher nicht mehr aufgearbeitet werden kann. Eine verschwindende Minderheit kann und soll noch nachträglich qualifiziert werden. Die nachteiligen Folgen und absehbaren Dauerschäden für die meisten jungen Menschen und für unsere Gesellschaft können mit einem immensen personellen und finanziellen Aufwand im außerschulischen, sozial- und individualtherapeutischen Bereich höchstens noch gemildert werden. Trotz des Hinweises auf die alarmierende Nachricht aus den Vereinigten Staaten wehre ich mich entschieden dagegen, in diesem Zusammenhang "amerikanische Verhältnisse" zu beschwören. Dies deswegen, weil dabei die kriminologische Komponente ungebührlich herausgestellt und das Verursacherprinzip auf den Kopf gestellt wird. Wenn wir nach zwei Jahrzehnten Ausländerbeschäftigung ein gravierendes "Ausländer"problem haben, dann haben wir uns das nicht nur selbst eingehandelt, sondern es auch durch eine unzulängliche - ich drücke es gelinde aus - Ausländerpolitik unnötig verschärft.

Was hat dies nun mit dem von mir gewählten Thema zu tun? Ich möchte dartun, wie auf Dauer - also nicht kurzfristig - eine optimale Integration der "Ausländer" betrieben werden kann. Sie muß vorrangig auf zwei Aktionsebenen ansetzen und zwar auf der politischen und der sozialpolitischen Ebene. Auf der politischen Ebene geht es um eine andere und bessere "Ausländer"politik, auf der sozialpolitischen oder besser der erziehungspolitischen Ebene sollten die Möglichkeiten der Kindergartenarbeit ausgeschöpft werden. Damit klammere ich die Schule nicht aus, sondern sehe sie als zweite Stufe eines erfolgreichen Integrationsansatzes an.

An dieser Stelle muß ich zwei Begriffserläuterungen vornehmen. Sie beziehen sich auf die Worte "Integration" und "Ausländer". "Integration" ist für mich ein Prozeß, bei dem einer gesellschaftlichen Gruppe die Chancen geboten werden, in effektiver Form und auf allen Sektoren gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Bei dieser Definition wird die Hauptaufgabe der Integration der Gesellschaft selbst und nicht der auf irgendeine Weise benachteiligten Bevölkerungsschicht zugewiesen. Außerdem gilt dieser Integrationsbegriff nicht nur für "Ausländer", sondern läßt deren Eingliederung nur als eine der vielen Integrationsaufgaben erscheinen. "Ausländer"integration ist demnach nur ein exemplarischer Fall von Integration überhaupt.

Den Begriff "Ausländer" setze ich fast ständig in Anführungszeichen, weil ich damit ausdrücken möchte, daß ich ihn für die Bevölkerungsgruppe, die er bezeichnen soll, weitgehend nicht mehr für zutreffend halte. Mit "Ausländer" verbinde ich die Vorstellung eines Menschen, der aus einem anderen Land kommt, sich nur vorübergehend in meinem Land aufhält und eigentlich wieder in das andere Land gehört. Diese Vorstellung ist kaum noch anwendbar auf Männer und Frauen, die in der Bundesrepublik ansässig geworden sind. Bestimmt läßt er sich aber nicht mehr anwenden auf die 2. und 3.Generation der Immigranten, für die die Heimat ihrer Eltern bzw. Großeltern "Ausland" ist.

Damit komme ich zur Aktionsebene der Ausländerpolitik.

Die Ausländerpolitik, auf die sich Bund und Länder mühsam geeinigt haben - ein Konsens, der bereits wieder fraglich geworden ist -, ist in erster Linie eine Ausländerbeschäftigungspolitik, die in der Federführung des Bundesarbeitsministers liegt. Sicher war die Ausländerpolitik am Anfang eine Arbeitsmarktpolitik. Sie kann es aber vor der Tatsache, dass es mittlerweile zu einer faktischen Einwanderung gekommen ist, nicht mehr sein.

Daher vertritt der Deutsche Städtetag, und in diesem vornehmlich die besonders betroffenen Großstädte, eine konsequente Integrationspolitik, die davon ausgeht, daß ein sehr großer Teil der nichtdeutschen Bevölkerung in der Bundesrepublik ansässig geworden ist.

Diese Auffassung vertritt inzwischen auch das Land Baden-Württemberg, in dem es 40% der Ausländer als ansässig bezeichnet. Ein großer Teil davon hat die Wohnung in der Heimat aufgegeben und alle engeren Familienangehörigen nach Deutschland geholt. Eine Ausländer-Studie der Stadt Köln geht sogar von 60-70% ausländischer Arbeiterbevölkerung aus, die auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben wird, trotzdem sie dies eigentlich nicht vorhat.

Obwohl in Hessen von 1973 bis 1976 ein Rückgang der Ausländerbeschäftigung von 20,6% zu verzeichnen ist, beläuft sich der Abwanderungssaldo für die nichtdeutsche Wohnbevölkerung im gleichen Zeitraum auf 0,2%. 51,8% der anderssprachigen Einwohner Hessens halten sich mit Stichtag 30.9.1976 sechs und mehr Jahre im Bundesgebiet auf. Im Bundesgebiet selbst ist von September 1975 bis September 1976 die Zahl der Menschen nichtdeutscher Nationalität um 141.000 oder 3,5% angestiegen, während ihre Beschäftigungszahl um 2,4% abgenommen hat.

Angesichts dieser Fakten allein ist ein Abgehen von der halbherzigen Integrationspolitik dringend erforderlich. Bei dem wachsenden Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung im Vorschul-, Schul- und Jugendalter bedeutet nämlich eine unzulängliche gesellschaftliche Eingliederung nicht nur ein Lebensdefizit der betroffenen Menschen, sondern auch ein Retardieren bzw. einen Rückschritt der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, vor allem eine Desintegration der großstädtischen Räume.

Die sozialpolitische Aktionsebene:

Ministerpräsident Holger Börner hat im vergangenen Dezember den Kindergarten einer katholischen Gemeinde in Frankfurt besucht, die über einen Anteil von 62% nichtdeutscher Kinder verfügt. Dabei hat der Ministerpräsident zum Ausdruck gebracht, daß die Zukunft eines ausländischen Kindes entscheidend davon abhänge, einen guten Kindergarten besuchen zu können. Die Start- und Chancengleichheit aller Kinder sei bereits im Zugang zum Schulwesen zu gewährleisten. Bei den ausländischen Kindern gehe es darum, sie aus ihrer sozialen und sprachlichen Randstellung durch eine gezielte pädagogische Arbeit herauszuholen. In diesem Zusammenhang sprach Börner von einer "sozialpolitischen Aufgabe erster Ordnung" und zwar in quantitativer und qualitativer Hinsicht.

Die Politiker sehen die Bedeutung dieses Bereichs immer deutlicher. Im Konzept von Bund und Ländern zur Ausländerbeschäftigungs-politik heißt es: "Wie für deutsche soll gleichermaßen für ausländische Kinder der sozialpädagogische und familienpädagogische Erziehungs- und Bildungsauftrag des Kindergartens verwirklicht werden." Das Anfang August vorgestellte "Konzept der CDU zur Ausländerpolitik" formuliert das gleiche Ziel, damit "bereits beim Schuleintritt eine soziale Integration angebahnt ist".

Unter dem Leitthema "Ausländerkinder - ihre Zukunft in unseren Städten" hat sich der Deutsche Städtetag im Mai u.a. mit dem Kindergartenbereich befaßt und auf die besondere Bedeutung des Kindergartens für die ausländischen Kinder hingewiesen. Der Städtetag sieht sogar die Chance, den meisten ausländischen Kindern in absehbarer Zeit einen Kindergartenplatz zur Verfügung zu stellen. Er begründet dies mit dem sehr starken Ausbau der Kindergärten in allen Bundesländern und den sinkenden Geburtenzahlen bei der deutschen Bevölkerung.

Nach jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden. ist das Angebot an Kindergartenplätzen zwischen den Jahren 1963 und 1975 von 890.000 auf fast 1,5 Mio. angestiegen, während im gleichen Zeitraum die Anzahl der 3- bis 5jährigen Kinder um 17% abgenommen hat (Wirtschaft und Statistik 8/77). Derzeit stehen für je 1.000 Kinder dieses Alters 655 Kindergartenplätze zur Verfügung.

Der Landesjugendwohlfahrtsausschuß Hessen hat im Mai 1976 erklären können: "Der zu beobachtende Geburtenrückgang hat in zahlreichen Städten und Gemeinden zu der erfreulichen Begleiterscheinung geführt, daß die Bevölkerung ausreichend mit Kindergartenplätzen versorgt ist." In einigen Fällen zeichne sich bereits ein Überangebot an Plätzen ab. Das dürfe aber nicht zu einem unreflektierten Abbau von räumlichen und personellen Kapazitäten führen. Mittlerweile geht aber in vielen einschlägigen Einrichtungen die Sorge um, Gruppen aufgeben und Personal entlassen zu müssen, weil die finanzielle Belastung nicht mehr getragen werden kann.

Nach stichprobenartigen Erhebungen des Deutschen Caritasverbandes liegt der Versorgungsgrad deutscher Kinder mit Kindergartenplätzen bei 65%, der der ausländischen Kinder aber nur bei 30%. Das bedeutet eine erhebliche Unterversorgung letzterer. Diese Zahlen werden für Bayern von dessen Statistischem Landesamt bestätigt. Danach besitzen von 100 drei- bis fünfjährigen Deutschen 67 einen Kindergartenplatz, von 100 gleichaltrigen Ausländern dagegen nur 29. Eine Statistik der Konferenz der Caritasverbände in Hessen weist für die Kindergärten des Caritasverbandes in den großen hessischen Städten einen Anteil von 18,1% aus, während der Anteil der Nichtdeutschen an den Geburtsjahrgängen 1972-1974 31,4% beträgt. Das Platzangebot für nichtdeutsche Kinder müßte doppelt so hoch sein wie bisher, um den gleichen Versorgungsstand wie bei den Deutschen zu erreichen. Das ist die Aufgabe quantitativ gesehen.

Der Qualität nach geht es aber auch um ein angemessenes pädagogisches Programm. Um hier noch einmal der Hessischen Ministerpräsidenten zu zitieren: "Die Einführung in die Gesellschaft und der Übergang in die Schule sind aber gerade für das ausländische Kind mit größten Schwierigkeiten verbunden." Es spreche eine andere Sprache, wachse in einer von Deutschen sehr verschiedenen Mentalität auf und gehöre als Kind von ausländischen Arbeitnehmern einer durchweg in der Gesellschaft unterprivilegierten Gruppe an.

Am 16.5.1977 hat die Konferenz der Caritasverbände in Hessen ein Programm zur Integration ausländischer Kinder im Kindergarten beschlossen. Es sieht vor allem organisatorische und pädagogische Verbesserungen in den Kindertagesstätten mit einem hohen Anteil von Ausländerkindern vor: Herabsetzung der Gruppenstärke, vermehrtes Angebot an Tagesplätzen, einen angemessenen Personalschlüssel bei verlängerten Öffnungszeiten und Fortbildungsangebote für die pädagogischen Mitarbeiter. Außerdem sollen in ausgewählten Kindertagesstätten Versuche gemacht werden, um die Zweisprachigkeit der Kinder zu fördern, weil dies an sich für die Identität der Kinder unerläßlich sei.

Entscheidend ist aber, daß die nichtdeutschen Kinder mit den deutschen zusammen aufwachsen und kein pädagogisches Ghetto gefördert wird. Abkapselungsversuche der einen oder anderen Nationalität sind angesichts massiver Verdrängungsbemühungen durchaus verständlich, aber keinesfalls förderungswürdig. Es geht nämlich um eine gemeinsame Zukunft der nachwachsenden Generation, die ethnisch plural, sprachlich aber deutsch sein wird. Wer diese deutsche Sprache nicht oder nur unzulänglich beherrscht, bleibt von der vollen Partizipation an dieser Gesellschaft in der Bundesrepublik zwangsläufig ausgeschlossen. Ich schließe mit einem Wort von Staatssekretär Reimut Jochimsen aus dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft: Alle Maßnahmen (in Kindergarten, Schule, Berufsschule und Betrieb) sollten sich von dem Ziel leiten lassen, "deutsche wie ausländische Schüler zu Trägern und Teilhabern derselben Gesellschaft zu erziehen."