Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1977

1. Juni 1977
Podiumsdiskussion
MITBÜRGER ODER NUR GASTARBEITER?
Gemeindezentrum der Katholischen Gemeinde, Eschborn

INHALT

VORSTELLUNG:

Die 3 Bundestagsabgeordneten des hiesigen Wahlkreises:

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU)
Karsten D. Voigt (SPD)
Wolfgang Mischnick (FDP)

Vertreter der ausländischen Gemeinden:

Stefano Di Caro;
für die Italienische Gemeinde Frankfurt-Höchst,
Vorsitzender des Gemeinderates,
Beruf: Lehrer

Ivica Sponar;
Vertreter der Kroatischen Gemeinde Frankfurt,

Carlos Calvo;
für die Spanische Gemeinde,
Mitglied des Gemeinderates und stellvertretender Vorsitzender des Ausländerrates im Bistum Limburg,

Moderation:

Herbert Leuninger;
Ausländerreferent des Bischöflichen Ordinariates Limburg.

EINFÜHRUNG

H. Leuninger:
Die Tatsache, daß sich drei Bundestagsabgeordnete von hohem politischem Rang auf diese Podiumsdiskussion mit dem Thema "Mitbürger oder nur Gastarbeiter ?" eingelassen haben, ist von großer Bedeutung.

Ausländer sind keine bzw. noch keine Wähler, das Ausländerthema ist für einen Parlamentarier nicht - noch nicht - wählerwirksam.

Dennoch hat dieses Thema zusehends an politischem Gewicht gewonnen. Der Umgang mit diesem politisch unmündigen Bevölkerungsteil hat für die Bundesrepublik mit ihrem sozialstaatlichen und demokratischen Anspruchsniveau exemplarischen Charakter.

Etwa in dem Sinne, wie es Egon Bahr im Blick auf Südafrika formuliert hat: "Sage mir wie Du mit Deinen Minderheiten umgehst, und ich sage Dir, was Du für ein Staat bist."

Die Ausländerpolitik in der Bundesrepublik ist bis auf den heutigen Tag eine Ausländerbeschäftigungspolitik. Sie beinhaltet im Rahmen des Arbeitsmarktes die Steuerung und Steuerbarkeit eines Teils - und zwar des schwächsten - der Arbeitnehmerschaft. Sie wird als Restgröße kalkuliert und manipuliert. Dies hatte u.a. zur Folge, daß in einem Verdrängungsprozess ohnegleichen mehr als 600.000 ausländische Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Dennoch hat es sich nach mehr als zwei Jahrzehnten Ausländerbeschäftigung ergeben, daß ein beachtlicher Teil dieser Arbeitnehmer mit ihren Angehörigen in der Bundesrepublik sesshaft geworden ist.

Ca. 1 Million ausländische Kinder sind hier geboren worden, bzw. aufgewachsen. 1,3 Millionen sind 6 bis über 15 Jahre hier. 50% der Ausländer, die 1964 in der Bundesrepublik waren, sind 1974 noch hier. Ohne die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien wäre unsere Wirtschaft, wären unsere Großstädte funktionsunfähig (Beispiel Frankfurt).

Die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Angehörigen sind in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Nebenbevölkerung geworden, d.h. zu einer Bevölkerung minderen rechtlichen Ranges, minderer sozialer und politischer Einschätzung, minderer Chancen. Vergleiche mit Bevölkerungsteilen in Indien, Südafrika und in den USA drängen sich unwillkürlich auf.

BEFRAGUNG:

Die 1. Frage:
(an die drei Bundestagsabgeordneten:

Kann sich die Bundesrepublik auf Dauer eine Nebenbevölkerung leisten?

H.Leuninger:
In der Bundesrepublik werden augenblicklich zwei Konzepte einer Ausländerpolitik gehandelt. Das eine ist das der Konferenz der Sozial- und Arbeitsminister, verabschiedet am 25.4. d. J., das andere ist die Kritik an diesem Konzept, die vom Deutschen Städtetag stammt. Hinter das letzte Konzept haben sich die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände gestellt. Das erste Konzept ist das arbeitsmarktpolitisch geprägte, während das zweite ausländerpolitisch im weiteren Sinne des Wortes ist und stärker auf die vorhandenen Realitäten im Sinne der Integration eingeht. Dabei gehen die ausländerpolitischen Fronten quer durch die Parteien.

Frage an Herrn Dr. Riesenhuber:
(Ministerpräsident) Filbinger (CDU) auf der einen Seite, der in Sachen Ausländerpolitik als Scharfmacher gilt und in der Bund-Länder-Kommission die härteren Positionen einnehmen ließ; auf der anderen Seite der ehemalige Innenminister von Rheinland-Pfalz, Schwarz (CDU), der sich für eine sehr liberale und integrative Ausländerpolitik einsetzt. Nehmen wir hinzu die Tatsache, daß die Stellungnahme der Diözesanversammlung des Bistums Limburg zur künftigen Ausländerpolitik - eine sehr ausländerfreundliche Stellungnahme -verfasst ist von dem ehemaligen Staatssekretär von Bundeswirtschaftsminister Erhard, Herrn Dr. Langer.

Frage:
Wohin entwickelt sich die Ausländerpolitik der CDU? Welche Ausländerpolitik wird die CDU in Frankfurt verfolgen?

Frage an Herrn Voigt:
Die bedeutsamste und engagierteste politische Stellungnahme für die Integration der ausländischen Wohnbevölkerung stammt von dem bisherigen Präsidenten des Deutschen Städtetages, Herrn Bürgermeister Koschnick - gleichzeitig stellvertretender Parteivorsitzender der SPD - . Er ist bei seinem kürzlichen Vortrag in Hamburg noch weiter gegangen als der Deutsche Städtetag und hat u.a. gesagt: "Die These vom Nicht-Einwanderungsland ist Fiktion". Er steht damit im Gegensatz zum Bundesarbeitsministerium und vielleicht auch zur Bundesregierung.

Frage:
Welche Kräfte werden sich in der SPD in diesem Bereich durchsetzen?

Frage an Herrn Dr. Mischnick:
Die FDP hat lange hinter dem Berg gehalten mit ausländerpolitischen Vorstellungen, hat sich dann aber im vergangenen Jahr sehr engagiert gegen Behinderungen in der Familienzusammenführung eingesetzt. Der Hessische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Herbert Karry (FDP) hat in einem Schreiben vom 9.5. an die Diözesanversammlung des Bistums Limburg u.a. geschrieben, die Bundesrepublik Deutschland könne kein Einwanderungsland sein, und er hielte es für unerläßlich alles zu tun, eine Rückwanderung der Ausländer zu fördern und ein weiteres Hereinströmen zu verhindern.

Frage 1:
Wie sieht das Kräfteverhältnis in Sachen Ausländerpolitik bei der FDP aus?

Frage 2:
Was wird aus der Enquete Kommission, die die FDP wohl dem Bundeskanzler für seine Regierungserklärung abgerungen hat, gegen die aber die Arbeitsministerkonferenz und auch der DGB sind?


3. Mai 1977
FRANKFURTER RUNDSCHAU
(Lokal-Rundschau)
"Es wird nur in Kosten gesprochen"
"Mitbürger oder nur .Gastarbeiter?"
Voigt mit weitgehenden Forderungen

ESCHBORN. "Wir geben uns Mühe, das tun Sie leider nicht." Die ehrliche und mit leisem Ingrimm vorgetragene Schelte eines ausländischen Mitbürgers galt den drei Bundestagsabgeordneten des hiesigen Wahlkreises gleichermaßen, „Sie sollten mit uns sprechen und nicht allein…" Dieses Resümee eines Teilnehmers aus dem Saal nach rund zweistündiger Diskussion „Mitbürger oder nur Gastarbeiter?" der katholischen Christkönigsgemeinde drückt wohl am ehesten aus, warum sich die Politiker mit den Problemen der Ausländer in der Bundesrepublik so schwer tun und warum gut gemeinte Vorschläge zur Integration Thesen auf dem Papier bleiben. Genauso, wie der ausländische Mitbürger oft in der Anonymität der ‚Wohngettos rnit seinen Problemen allein bleibt, spricht man auch in der Politik allenthalben über ihn - wer bezieht seine Ansichten schon in den Dialog mit ein?

Daß die Podiumsdiskussion nicht als Tribüne politischer Selbstdarstellungen und zum Forum für wohlgeformte: Sonntagsreden wurde, verdankt das Gespräch in erster Linie der Moderation von Herbert Leuninger, dem Ausländerreferenten im Bistum Limburg, der den Parteienvertretern unerbittlich auf den Zahn fühlte und sie herausforderte, die Gretchenfrage deutlich zu beantworten, wie sie es denn mit den ausländischen Mitbürgern halten, denn gerade bei einem solchen Themenkomplex, wo karitative Gefühlsregungen mobilisiert werden, ist der Wortlaut schöner Äußerungen (wer ist eigentlich nicht. für Integration ausländischer Mitbürger) von den aktiven Taten dann sehr weit entfernt..

Ein Zuhörer aus dem Saal hatte die Tendenzen der politischen Zielrichtung richtig zusammengefaßt: Karsten D. Voigt (SPD), so urteilte er, habe die deutlichste Sprache gesprochen, dem CDU-Mann Dr. Heinz Riesenhuber unterstellte er, mehr das "Rotationsprinzip" als das der Integration in den Vordergrund gestellt zu haben, und FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick habe sich wohl deswegen Zurückhaltung auferlegt, weil er von allen drei die größte politische Verantwortung habe.

Tatsächlich waren die Forderungen von Karsten Voigt am weitgehendsten: Ausweitung des Wahlrechts auf Kommunal- und Landtagswahlen für ausländische Mitbürger, Möglichkeit der Mitgliedschaft in einer Partei, Bildungsurlaub, der von den "Anwerbern" bezahlt wird, zum Erlernen der deutschen Sprache. Dr. Riesenhuber hielt sich mehr an Gemeinplätzen: Endlich vernünftige Voraussetzungen für gesellschaftliche Integration schaffen, forderte er, freilich ohne konkrete Punkte zu nennen und versprach, wenn Alfred Dregger erst Ministerpräsident sei, werde der sich persönlich um Ausländer kümmern. Riesenhuber hält viel von Beratung, und wenig davon, die Betriebe für die sprachliche Schulung der Ausländer zur Kasse zu bitten: "Dann werden die Chancen des Arbeitsplatzes nur geringer." Restriktive Einwanderungspolitik, darauf setzt Wolfgang Mischnick. Er meint damit, keine zusätzliche Einreise zu ermöglichen, die Rückreise im Auge behalten und diejenigen, die sich hier einbürgern wollen, zu integrieren.

Über die Abwägungen der Politiker zeigten sich viele Teilnehmer im Saal erbost: In Wirklichkeit habe die ganze Zeit in Deutschland dle vierte Partei, die Ökonomie regiert, hieß es in Wortbeiträgen, Ausländer. seien seinerzeit mit Versprechungen in die Bundesrepublik gelockt worden und hätten ihre Arbeitskraft verkauft: "Es wird immer nur in  Kosten gesprochen." Das veranlaßte auch die Podiumsredner zu einigen aufschlußreichen Bemerkungen.

Dr. Riesenhuber erwähnte eine demoskopische Umfrage, der zufolge 50 Prozent aller Bundesdeutschen der Auffassung sind, Arbeitslosigkeit käme durch die Beschäftigung von Ausländern zustande und engagierte sich dahingehend, daß ein Politiker keine Wahl gewinnen könne, wenn er sich bei seiner Politik nur an demoskopischen Erkundungen orientiere.

Auch Karsten D. Voigt ist in Sachen Ausländerpolitik zunehmend pessimistisch geworden, seit sich die Arbeitslosenfrage verschärft hat und die Konkurrenz eine wachsende Ausländerfeindlichkeit bedingte, „Wir erleben, daß wenn man keine Wertorientierung mit hineinbringt in die Politik, jeder nur an sich selber denkt." Auch was das Ausländerwahlrecht anbetrifft, machte Voigt eine denkwürdige Bemerkung. Wenn es die Allgemeinheit als Beschneidung ihrer eigenen Rechte ansieht, Wahlrecht für Ausländer einzuführen, „dann ist im Punkt auf die demokratische Gesinnung hierzulande etwas nicht in Ordnung.

GÜNTER HOLLENSTEIN