Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1976


Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 2. April 1976

Faktisch Einwanderungsland

Zum Leitartikel von Jürgen Eick „Gastarbeiter - mehr, weniger, gar keine?" (F.A.Z. vom 23. März): Zur Beurteilung des Umfangs der Ausländerbeschäftigung gehört die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland faktisch zum Einwanderungsland geworden ist. Die Immigration hat einen Reifegrad erreicht, der nur auf Kosten der sozial- und rechtsstaatlichen Prinzipien, die das Fundament der Bundesrepublik ausmachen, mißachtet werden kann.

Es sind zwar etwa 500.000 ausländische Arbeitnehmer von der Rezession und Arbeitslosigkeit, betroffen, entweder in ihre Heimat- zurückgekehrt oder derzeit hier ohne Beschäftigung. Die ausländische Wohnbevölkerung hingegen hat von September 1974 bis September 1975 um nur 0,9% auf rund 4.089.000 Personen abgenommen. Mehr als die Hälfte von ihnen ist bereits über fünf Jahre in der Bundesrepublik, 15 Prozent sogar mehr als 10 Jahre. Zu diesem Personenkreis gehören vor allem auch schätzungsweise eine Million Kinder und Jugendliche, die hier geboren wurden oder aufgewachsen sind. Für sie ist Deutschland die Heimat und eine Rückkehr in das Ursprungsland ihrer Eltern wäre eine Art Auswanderung. Würde sie erzwungen, könnte man sie sogar als eine Vertreibung bezeichnen.

Damit ist die Bundesrepublik, ohne daß dies in der Absicht der Politiker lag, in eine neue und entscheidende Phase der Ausländerbeschäftigung getreten. Für diese Phase hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft im Mai 1974 die Hypothese aufgestellt, daß die Beiträge der ausländischen Arbeitskräfte zu den öffentlichen Einnahmen die von ihnen verursachten Ausgaben nicht mehr übersteigen, sondern eher dahinter zurückbleiben.

Auf diesem Hintergrund geht es gar nicht so sehr um das Freimachen von Arbeitsplätzen, die von Ausländern eingenommen werden, sondern um die Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt künftig die Ausländerbeschäftigung akzeptiert wird.. Baden-Württemberg schlägt ein Konzept vor, durch das die hohen Infrastrukturkosten für ausländische Familien gespart, soziale Spannungen vermieden und die volkswirtschaftliche Rentabilität der Ausländerbeschäftigung erreicht werden können. Dieses Konzept sieht eine gezielte Rückwanderungspolitik für die bereits in der Bundesrepublik tätigen ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien vor, lehnt bis auf. Ausnahmen einen Daueraufenthalt von ausländischen Arbeitnehmern ab und sieht für einen künftigen Arbeitskräftebedarf aus dem Ausland die Rotation vor. Eine für den europäischen Standard vertretbare Politik müßte aber .sicher anders aussehen. Sie schlösse das Angebot umfassender Integration . ebenso .ein wie den Versuch, Arbeitslosigkeit . solidarisch zu bewältigen.

Herbert Leuninger
Bischöfliches Ordinariat, Limburg


Staatsministerium
Baden-Württemberg

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7 Stuttgart 1, den 2. April 1976
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Herrn
Pfarrer
Herbert Leuninger
Teutonenstraße 13 a

6238 Hofheim/Taunus

Betr.: Probleme der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer

Sehr geehrter Herr Pfarrer Leuninger,

in einem Leserbrief der Frankfurter Allgemeinen (2. April 1976) kommen Sie hinsichtlich der Vorschläge der baden-württembergischen Landesregierung betr. ausländische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörige zu einem Schluß, den wir nicht teilen können. Um Ihnen - auch im Anschluß an das Schreiben des Staatsministeriums vom 4. März 1976 - eine möglichst breite Informationsbasis zu bieten, erlauben wir uns, Ihnen die Pressemitteilung Nr. 133 vom 25, Februar 1976 diesem Schreiben beizufügen. Darin wird die Stellungnahme des baden-württembergischen Ministerpräsidenten zum entwicklungspolitischen Aspekt und zur Eingliederung jener Ausländer, die mehr als 10 Jahre hier leben, deutlich.

Mit freundlichen Grüßen

(Schurig)
Regierungsrat