Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1976

Entwurf (1)
10.9.1976

GRUNDSATZÜBERLEGUNGEN UND VORSCHLÄGE DES DEUTSCHEN CARITASVERBANDES
(DER WOHLFAHRTSVERBÄNDE)
ZU EINEM UMFASSENDEN KONZEPT DER AUSLÄNDERBESCHÄFTIGUNG.

INHALT
Der Einwanderungsprozeß verlangt langfristige Konzepte der Integration, die auf die Gleichstellung der ausländischen Bevölkerung in allen Bereichen abgestellt sind.

Grundsatzüberlegungen

  • Die Bundesrepublik Deutschland ist nach mehr als zwei Jahrzehnten Ausländerbeschäftigung faktisch zu einem Einwanderungsland geworden Diese Aussage bezieht sich auf die bereits hier ansässigen Arbeitnehmer und ihre Angehörigen.
  • Ca. 1 Million ausländische Kinder und Jugendliche sind entweder geboren worden oder aufgewachsen. Die Heimat ihrer Eltern ist in gewissem Sinne für sie Ausland.
  • Der Umfang der ausländischen Wohnbevölkerung mit etwa 4 Millionen wird sich aller Voraussicht nach in den kommenden Jahren nur unwesentlich verändern. Dabei wird sich die Beschäftigtenquote dem allgemeinen Durchschnittswert angleichen.
  • Die Immigration hat einen Reifegrad erreicht, der irreversibel ist. Daher gibt es keine Alternative zum Angebot einer vollen gesellschaftlichen (nicht nur arbeits- und sozialrechtlichen) Eingliederung und Gleichstellung.
  • Maßnahmen, die die Rückkehrbereitschaft der ausländischen Wohnbevölkerung aufrecht erhalten sollen, können den Integrationsprozess verzögern, aber nicht verhindern. Sie sind daher überflüssig und schädlich.
  • Die gesellschaftliche Eingliederung, die nicht mit einer Einbürgerung identisch zu sein braucht, stellt einen Prozeß dar, der erst bei der dritten Generation gelingt.
  • Ein politisch vertretbares, europäisch orientiertes Konzept der Ausländerbeschäftigung geht davon aus, daß die ausländische Wohnbevölkerung ein gleichberechtigter Teil der gesamten Bevölkerung ist, und daß die ausländischen Arbeitnehmer ein gleichberechtigter Teil der Arbeiterschaft sind.
  • Das Angebot einer vollen Eingliederung dient nicht nur der Zukunftssicherung der ausländischen Wohnbevölkerung, sondern gleichzeitig auch der Zukunftssicherung der Bundesrepublik Deutschland. Durch die Anwesenheit von 4 Millionen Ausländern werden Arbeitsplätze für Deutsche in der Größenordnung des Arbeitskräftebedarfs von vier Millionen-Städten erhalten. Außerdem mildert die ausländische Wohnbevölkerung mit ihrer Reproduktionsrate die negativen Auswirkungen des deutschen Geburtendefizits und die Folgen einer fortschreitenden Überalterung und eines drohenden Bevölkerungsschwunds.
  • Daher genügt es nicht, nur den Blick auf die nächsten 10 Jahre zu richten. Erforderlich ist eine Perspektive bis wenigstens zum Jahre 2000.
Vorschläge

Bedarfsrechnung

Vorausberechnungen zum Bedarf an ausländischen Arbeitskräften haben bei den unvorhersehbaren strukturellen und konjunkturellen Veränderungen einen nur geringen Aussagewert. Sie sind überdies sozialpolitisch bedenklich, weil sie einen Teil der Arbeiterschaft. als Restgröße- bzw. Konjunkturpuffer kalkulieren.

Unerläßlich dagegen sind Prognosen über die Entwicklung der Gesamtbevölkerung inklusive des Ausländeranteils und die Auswirkung dieser Entwicklung auf die Finanzierung der sozialen Sicherungen. Diese Prognosen müssen über den Zeitraum von 10 Jahren hinausgehen.

Rechtsstatus

Das Ausländergesetz ist so zu fassen, daß es dem ausländischen Arbeitnehmer die Möglichkeit einräumt,, eigenverantwortlich und völlig frei über die Dauer seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik zu entscheiden.

Nach fünfjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet soll Ausländern das Recht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bzw. eine Aufenthaltsberechtigung gewährt werden.

Nach zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet sollen Ausländer einen ausweisungsfesten Status erhalten. Die politische Mitwirkung der Ausländer nach fünfjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik ist im ersten Ansatz durch ein Kommunalwahlrecht nach schwedischem Beispiel zu ermöglichen.

Arbeitsförderung, Arbeitserlaubnisverfahren

Es sind die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, daß nach fünfjährigem Aufenthalt ein ausländischer Arbeitnehmer und nach erfolgter Familienzusammenführung auch seine Familienangehörigen (diese unabhängig von der 5-Jahresfrist) unter den gleichen Bedingungen in Arbeit vermittelt werden wie Deutsche, Für sie wird auch der Bezug von Sozialhilfe zeitlich nicht begrenzt.

Familiennachzug

Der Schutz der Familie, den das Grundgesetz garantiert, verbietet eine Begrenzung des Familiennachzugs, auch in sogenannte überlastete Siedlungsgebiete.

Zuzugsstopp

Für Ausländer geltende Zuzugsbeschränkungen in sogenannte überlastete Siedlungsgebiete wird im Rahmen eines allgemeinen Konzepts zur Verhinderung der Abwanderung aus den Großstädten aufgehoben.

Rückwanderung

Maßnahmen in den Entsendeländern, die der Schaffung von Arbeitsplätzen für die dortigen Arbeitslosen dienen, machen spezielle Programme zur Förderung der Rückwanderung ausländischer Arbeitnehmer überflüssig.

Soziale Integration

Die soziale Integration ist im Sinne des Angebots einer völligen Eingliederung auf allen Gebieten nachhaltig zu fördern. Es bedeutet vornehmlich, daß die ausländischen n Arbeitnehmer und die ausländischen Jugendlichen in die allgemeinen Programme zur Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und zur Arbeitsplatzsicherung einbezogen werden.

Der Erfolg der Integrationsmaßnahmen vor allem im schulischen Bereich und auf dem Wohnungssektor ist unmittelbar abhängig von der Absicherung des Rechtsstatus der ausländischen Wohnbevölkerung.

(1) Wie dieses Konzept, das von H.Leuninger für die Abteilung Migration beim Deutschen Caritasverband erstellt wurde, aufgenommen und umgesetzt wurde, ist dem Verfasser unbekannt.