Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION

Initiativausschuss Ausländische Mitbürger in Hessen
Flugblattaktion zu Weihnachten
„Alle sprechen vom Heimfahren, wir nicht!"

INHALT

Frankfurter Allgemeine vom 8. Dezember 1973

„Ausländer, fahrt nicht nach Hause !"

Flugblattaktion warnt vor den Folgen der wirtschaftlichen Rezession

gis. Mit Hilfe von Flugblättern, in denen ausländische Arbeitnehmer gewarnt werden, an Weihnachten nach Hause zu fahren, will sich der Initiativausschuß „Ausländische Mitbürger in Hessen" dafür einsetzen, daß die rund 300.000 Ausländer in Hessen im Falle einer wirtschaftlichen Rezession nicht die ersten und alleinigen Leidtragenden sind. In deutscher, griechischer, italienischer, serbokroatischer, portugiesischer, türkischer, spanischer und arabischer Sprache werden die Gastarbeiter aufgefordert, nur dann in die Heimat zu fahren, wenn sie über eine lange genug gültige Aufenthalts- und Arbeitsbescheinigung verfügen. Auch sollte möglichst nicht der Arbeitgeber gewechselt werden. Weiter wird in dem Flugblatt darauf hingewiesen, daß bei Kündigungen die Gewerkschaft oder Beratungsstellen aufzusuchen sind. Bei Entlassungen sollten die ausländischen Arbeitnehmer sofort beim zuständigen Arbeitsamt ihr Recht auf Arbeitslosengeld oder eine neue Beschäftigung anmelden.

Der Initiativausschuß, dem Arbeiterwohlfahrt, Caritasverbände, die katholischen ausländischen Missionen und die- diakonischen Werke der evangelischen Kirche in Hessen angehören, rät den ausländischen Arbeitnehmern zudem, im Falle der Arbeitslosigkeit solange im Arbeiterwohnheim zu bleiben, wie Arbeitslosengeld gezahlt wird. Diese Zahlung ist an den Nachweis eines festen Wohnsitzes gebunden.

Ausschußsprecher Detlev Lüderwaldt wies darauf hin, viele Ausländer seien bereits so sehr in die deutsche Gesellschaft integriert - zum Beispiel durch die Schulpflicht ihrer Kinder -, daß sie nur mehr als „Ausländer" in die eigene Heimat zurückkehren könnten. Damit sei der Tatbestand des „modernen Sklavenhandels" erfüllt. Wenn ausländische Arbeitnehmer früher als ihre deutschen Kollegen die Folgen einer Wirtschaftskrise zu spüren bekämen, widerspreche dies eindeutig dem Prinzip der Gleichberechtigung am Arbeitsplatz. Die Nationalität eines Arbeiters dürfe nicht zum Auswahlkriterium für seine Entlassung werden.

Eine besondere Schwierigkeit ergebe sich zudem für die Ausländer, mit deren Heimatländern kein Abkommen über Leistungen der ausländischen Arbeitslosenversicherung besteht. In der Türkei zum Beispiel gebe es überhaupt keine Arbeitslosenversicherung. Wenn nun ein Türke nach Hause fährt und dort seine Kündigung per Post erhält, kann er keinen Anspruch auf diese Sozialleistung erheben, obwohl er in Deutschland ordnungsgemäß Steuern gezahlt hat.

„Mit Empörung" stellt der Arbeitskreis ausländischer Arbeiter in der Frankfurter SPD fest, daß die Neuerteilung und Erneuerung der Arbeitserlaubnis durch die Arbeitsämter von der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes abhängig gemacht wird. Dies bedeute eine unverantwortliche Diskriminierung der Ausländer. Schon die Möglichkeit, durch Nichtverteilen oder Nichtverlängerung der Arbeitserlaubnis den Arbeitsplatz eines ungekündigten Ausländers zugunsten eines arbeitslosen deutschen Arbeiters zu vermitteln, würde den Ausländerhaß neu entfachen und die Parole „Ausländer raus aus den Betrieben" aufkommen lassen. Weiter heißt es, das „Krisengerede" diene nur dem Ziel, die Arbeitnehmer und ihre gewerkschaft- lichen Organisationen kurz vor Beginn neuer Tarifverhandlungen einzuschüchtern. Mit der Maßnahme des Bundesarbeitsministeriums, der Bundesanstalt für Arbeit Anweisung zum „Ausländerstopp" zu geben, könne auch das Prinzip, der Rotation auf kaltem Wege durch die Hintertüren verwirklicht werden.


INITIATIVAUSSCHUSS AUSLÄNDISCHE MITBÜRGER IN HESSEN

Pressekonferenz - Frankfurt 7.12.73-

1. Soziale Gesichtspunkte bei einer Kündigung

Nach dem Kündigungsschutzgesetz, das auch für einen ausländischen Arbeitnehmer volle Geltung hat, ist eine betriebsbedingte Kündigung ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt hat.

Als soziale Kriterien werden üblicherweise aufgeführt:
Das Lebensalter, die Dauer der Betriebszugehörigkeit, der Familienstand, die wirtschaftliche Lage u.ä..

Beim ausländischen Arbeitnehmer, der in einer besonderen sozialen Lage ist, werden überdies weitere Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen:

a) Wenn ein ausländischer Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz in der Bundesrepublik einmal verloren hat und in die Heimat zurückgekehrt ist, ist es für ihn - im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen-unvergleichlich schwerer wieder neue Arbeit zu finden.

b) Eine Rückkehr in die Heimat bedeutet für die Kinder eines ausländischen Arbeitnehmers den Abbruch einer kontinuierlichen Schul- und Berufsausbildung.

c) Auf etwaige politische Konsequenzen einer Rückkehr wird gleich noch hingewiesen.


So wie der Kündigungsschutz gesetzlich gefasst ist, halten wir es für ungesetzlich, wenn bei einer Entlassung die Staatszugehörigkeit von vorneherein eine Rolle spielt.

2. Arbeitslosengeld und Aufenthaltsdauer

Ist die Entlassung eines ausländischen Arbeitnehmers unvermeidlich geworden, so fordern wir, dass ihm die Möglichkeit verbleibt, sich mindestens so lange in der Bundesrepublik aufzuhalten wie ein Arbeitslosengeld gezahlt wird. Einerseits hat der ausländische Arbeitnehmer dann die Möglichkeit, sich um einen neuen Arbeitsplatz zu bemühen, andererseits erhält er den in der BDR geltenden Betrag des Arbeitslosengeldes. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass nicht mit allen in Frage kommenden Staaten ein Abkommen über Leistungen der ausländischen Arbeitslosenversicherungen besteht. Auch dürften die ausländischen Arbeitslosenversicherungen nicht die gleichen Leistungen erbringen, wie die deutsche Versicherung.

HerbertLeuninger
Ausländerreferent
Bischöfliches Ordinariat


18.12.1973

CARITASVERBAND FÜR DIE DIÖZESE LIMBURG e.V.

An den
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung
Herrn Walter Arendt
5300 Bonn – Duisdorf
Postfach

Betr.: Arbeitserlaubnis für ausländische Arbeitnehmer

Sehr geehrter Herr Bundesminister Arendt!

Nach unseren Informationen haben Sie im Zusammenhang mit der Energiekrise und einer eventuellen wirtschaftlichen Rezession die Bundesanstalt für Arbeit u.a. angewiesen, die weitere Verlängerung und Erteilung von Arbeitserlaubnissen für ausländische Arbeitnehmer einer strengen Prüfung zu unterziehen und sie nur noch differenziert zu erteilen. Das soll den Personenkreis nach § 1 der Arbeitserlaubnis-Durchführungsverordnung betreffen. Je nach Lage kann demnach ein Arbeitsamt auch ein bestehendes Arbeitsverhältnis beenden. Bei der Vermittlung arbeitsloser Ausländer werden diese überdies nachrangig zu deutschen Arbeitnehmern bzw. zu Arbeitnehmern aus EG-Staaten behandelt.

Sollten unsere Informationen aufs Ganze hin zutreffend sein, möchten wir Sie dringend bitten, die Anweisung rückgängig zu machen. Selbst wenn sich die wirtschaftliche Situation nicht entscheidend verschlechtern sollte, müssten die Folgen dieser Anweisung uns unserer Sicht sich bedenklich auswirken. Allen Versuchen, die Integration der Ausländer im Sinne der Bundesregierung zu fördern, wäre damit ein schwerer Schlag versetzt.

Wir sind der Auffassung, dass die Lasten einer etwaigen Wirtschaftskrise gleichmäßig verteilt werden müssen. Es läuft unserem gesellschaftlichen und sozialen Bewusstsein zuwider, wenn in einem solchen Fall die Gruppe der Arbeitnehmer, die als die schwächste betrachtet werden muss, die härtesten Konsequenzen zu tragen hätte.

Betrachten Sie dieses Schreiben bitte als den Ausdruck unserer Verantwortung, die wir als Caritasverband für die unzähligen ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien im Raum Frankfurt, Wiesbaden, Wetzlar und Limburg übernommen haben.

In der Hoffnung, dass Sie unserer Bitte entsprechen, verbleiben

hochachtungsvoll

Prälat Seidenather
Vorsitzender

Frank
Diözesan-Caritasdirektor


18.12.1973

INITIATIVAUSSCHUSS „AUSLÄNDISCHE MITBÜRGER IN HESSEN"

Geschäftsstelle
Ederstr. 12
Frankfurt/M.

Flugblatt

„Alle sprechen vom Heimfahren, wir nicht!"

In den letzten Jahren sind sie vielleicht zu Weihnachten nach Hause gefahren. Sie waren mit ihren Angehörigen zusammen.

Auch dieses Jahr haben Sie sich sicher auf die Heimfahrt gefreut.

Aber dieses Jahr ist die Situation anders.

Wegen der Energiekrise zeichnet sich eine Rezession ab.

Ihre Arbeitsplätze sind gefährdet.

Aber Sie haben auch Rechte, die Sie in Anspruch nehmen können.

Aus diesem Grund empfehlen wir Ihnen:

  • Fahren Sie nur dann nach Hause, wenn Ihre Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis noch für ausreichende Zeit gültig sind.
  • Zusätzlich besorgen Sie sich eine Arbeitgeberbescheinigung, in der bestätigt wird, dass Sie in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehen.
  • Wechseln Sie jetzt möglichst nicht den Arbeitgeber.
  • Bei Kündigungen und weiteren Schwierigkeiten suchen Sie sofort
  • Ihre Gewerkschaft oder die zuständige Beratungs- und Kontaktstelle auf.
  • Bei Entlassungen melden Sie sich sofort beim zuständigen Arbeitsamt und machen Sie ihr Recht auf Arbeitslosengeld oder auf Vermittlung in eine neue Arbeit geltend.

Wir haben aus der Rezession 1966/67 gelernt und wehren uns entschieden dagegen, dass eine eventuelle Krise wieder hauptamtlich auf dem Rücken der ausländischen Arbeitnehmer ausgetragen wird.

Sie sind nicht allein! Die unten genannten Organisationen treten für Ihre Interessen ein.

Verantwortlich für das Flugblatt:

Initiativausschuss "Ausländische Mitbürger in Hessen"

Mitgliedsorganisationen:

  • Arbeiterwohlfahrt Bezirke Hessen-Süd und Hessen Nord
  • Caritasverbände für die Diözesen Fulda, Limburg und Mainz
  • Diakonische Werke in Hessen Nassau und Kurhessen-Waldeck
  • Katholische ausländische Missionen der Diözesen Fulda, Limburg und Mainz
  • Türkisches Volkshaus