Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION

Kündigungsschutz
für ausländische Arbeitnehmer
in einer Wirtschaftskrise
(1973)

INHALT

 

BISCHÖFLICHES ORDINARIAT LIMBURG
DEZERNAT KIRCHLICHE DIENSTE
Referent für kirchliche Ausländerarbeit

An den
Präsidenten des Landesarbeitsgerichtes Hessen
Herrn Dr. Joachim (persönlich)
6 F r a n k f u r t
Adickesallee 36

30.11.1973

Sehr geehrter Herr Präsident Dr. Joachim!

Als Ausländerreferent des Bistums Limburg beschäftige ich mich derzeit mit den Folgen, die sich bei einer eventuellen Wirtschaftskrise für die ausländischen Arbeitnehmer ergeben könnte.

In diesem Zusammenhang würde es mich sehr interessieren, wie die Rechtsprechung des Landesarbeitsgerichtes Hessen hinsichtlich des Kündigungsschutzes für ausländische Arbeitnehmer ist.

In den letzten Tagen wird nämlich in der Öffentlichkeit direkt oder indirekt die Forderung aufgestellt, dass bei drohenden Entlassungen die deutschen Arbeitnehmer ihren ausländischen Kollegen vorzuziehen seien.

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie veranlassen könnten, dass mir sachdienliche Informationen zugeleitet werden.

Vielleicht darf ich noch bemerken, dass die Anregung, mich an Sie zu wenden, von meinem Vater, Herrn Alois Leuninger, stammt, der sei herzlich grüßen lässt.

In besonderer Hochachtung
Ihr

(Herbert Leuninger)


Der Präsident
des
Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main

Dr. jur. Hans G. Joachim

6.12.1973

An das
Bischöfliche Ordinariat
zu Händen von Herrn
Pfarrer Herbert Leuninger
625 Limburg
Rossmarkt 4

Sehr geehrter Herr Leuninger!

Ich habe Ihr Schreiben vom 30.11.1973 zum Gegenstand der Diskussion in einer Besprechung der Kammervorsitzenden des Landesarbeitsgerichts gemacht. Wie nicht anders zu erwarten, ergibt sich, dass die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 3 Abs.3), der Hessischen Verfassung (Art. 1) und das in seiner Geltung auf die Angehörigen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft beschränkte Diskriminierungsverbot des Art. 8 des Anhanges zum Übereinkommen vom 17.4.50 (Bundesgesetzblatt 1960, II, S.440, 445) von der Rechtsprechung zutreffend als geltendes Recht und als für alle am Arbeitsleben beteiligten Personen verbindlich angesehen werden. Danach darf niemand im Arbeitsleben, auch nicht bei der Frage des Kündigungsschutzes, aus Gründen der Rasse, der Religion oder seiner weltanschaulichen und politischen Überzeugung benachteiligt werden. Für den Kündigungsschutz ist entscheidendes Kriterium stets, ob der durch die Kündigung unvermeidbar entstehende Einschnitt in die Lebensexistenz durch die dringenden betrieblichen Bedürfnisse oder durch Gründe in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers gerechtfertigt wird. Hierbei sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die gesamten sozialen Umstände des Einzelfalles erschöpfend zu würdigen, also z.B. die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die Familienverhältnisse und die Möglichkeit, anderweitig auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden. Diese gesamte Würdigung erfolgt ohne Rücksichtnahme auf die Eigenschaft als Gastarbeiter.

Mit freundlichen Grüßen

Joachim


DER PRÄSIDENT
DES BUNDESARBEITSGERICHTS
Prof. Dr. Gerhard Müller

Kassel, den 5. Dez.1973

An das
Bischöfliche Ordinariat Limburg
Referat für kirchliche Ausländerarbeit
6250 Limburg
Rossmarkt 4

Sehr geehrter, lieber Herr Leuninger!

Auf Ihr Schreiben vom 30. November ds. Jrs. (Anm.: ähnlich lautend wie Schreiben an das Landesarbeitsgericht Hessen) teile ich Ihnen mit, dass bisher bei dem Bundesarbeitsgericht arbeitsrechtliche Entscheidungen zu der von Ihnen angeschnittenen Frage nicht ergangen sind und – wie es nach Lage der Dinge ja auch offensichtlich ist – noch gar nicht ergehen konnte. Auch vergleichbare Fälle sind nach meinen Feststellungen noch nicht entschieden worden und derartige Verfahren liegen hier ebenfalls nicht vor. Überhaupt haben wir bisher relativ und absolut nur sehr wenig Fälle gehabt, in denen ausländische Arbeitnehmer als Partei aufgetreten sind.

Falls auf dem Weg über die Instanzgerichte Fälle der von Ihnen angesprochenen Art zu uns kommen und entschieden werden, können Abdrucke dem Bischöflichen Ordinariat Limburg gegen Erstattung der entsprechenden Kosten zugesandt werden. Sollten Sie hieran interessiert sein, empfiehlt es sich, schon jetzt ein formelles Schreiben an mich zu richten.

Die von Ihnen angeschnittene Frage ist – und jetzt sage ich meine persönliche Meinung als Rechtswissenschaftler – allgemein wohl nur im Zusammenhang mit § 1 Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz (soziale Auswahl bei betriebsbedingter Kündigung) der zeitlichen Befristung zur Zulassung ausländischer Arbeitnehmer zur Arbeitsaufnahme innerhalb des Gebietes der Bundesrepublik überhaupt, der Allgemeinvermittlungskompetenz der Bundesanstalt für Arbeit und dem allgemein bei uns geltenden Ausländerrecht zu sehen. Vom Tatsächlichen her mit seiner Wirkung auf die rechtliche Beurteilung dürfte auch die Frage der sog. Illegalen Arbeitsaufnahme von Arbeitnehmern in der Bundesrepublik eine Rolle spielen. Zu alldem tritt noch das supranationale Recht der Europäischen Gemeinschaft, das die Arbeitnehmer jeden Mitgliedstaates bei Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat den dortigen einheimischen Arbeitnehmern zumindest im Allgemeinen gleichstellt. Im Übrigen könnten auch noch weitere Aspekte auftreten, die ich gegenwärtig allerdings nicht zu sehen vermag.

Wenn man, abgesehen von Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, die Situation der sonstigen ausländischen Arbeitnehmer im Verhältnis zu den deutschen Arbeitnehmern bei durch eine Wirtschaftskrise ausgelösten betriebsbedingten Kündigungen rechtlich wertet, muss sich wohl die Frage stellen, wieweit der Gemeinwohlbegriff zu fassen ist, also ob er im gegebenen Fall zu einer Bevorzugung der inländischen Arbeitnehmer führt oder nicht. Das hängt wiederum mit der Frage zusammen, ob ein allgemeiner, über den Bereich des einzelnen Staates hinausgehender Gemeinwohlbegriff in unserer heutigen Welt Geltung beansprucht und in welcher Weise er, bejaht man seine Geltung, auf das Gemeinwohl des einzelnen Staates durchschlägt. Möglicherweise kann man auch dazu kommen, einen die Staatenwelt verbindenden Gemeinwohlbegriff nur für Teilbereiche von Staaten in einer betonteren Weise zu bejahen. Hier könnte die geschichtliche Entwicklung in den einzelnen Staaten, die je verschiedene gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation an Bedeutung gewinnen.

Der gesamte Fragenkomplex zeigt, wie schwierig es ist, zu einer sachgerechten Lösung zu kommen. Schlagwortartige Plakatierungen und emotionale Haltungen sind verfehlt. Verfehlt wäre es auch zu sagen, die deutsche Wirtschaft, ja insbesondere die deutschen Unternehmen hätten durch die ausländischen Arbeitnehmer verdient. Einmal hat unsere gesamte deutsche Bevölkerung einen beachtlichen Nutzen aus der Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern gehabt und diese selbst haben nicht zuletzt wegen der Situation in ihren Heimatländern jedenfalls im allgemeinen ebenfalls erheblichen Nutzen aus ihrer Beschäftigung bei uns gezogen.

Sie werden jetzt sicher sagen, dass ich Ihnen mit diesen Ausführungen nichts an die Hand gegeben habe; dem muss ich zustimmen. Die erforderliche Globalbetrachtung, die ich im vorliegenden Falle auch als Präsident im Bundesarbeitsgerichts anstellen darf – ich zeige nur Aspekte auf und weise auf ihre möglichen Folgen hin – zeigt jedoch, dass sofort greifbare und griffige Lösungen, wenn überhaupt, dann nur äußerst schwer zu ermitteln sind.

Für den Christen und Katholiken bleibt allerdings eins, was im gegebenen Falle einsetzen müsste und was wegen des Wortes von der Mitmenschlichkeit in den letzten Jahren leider in den Hintergrund getreten ist. Ich meine, die karitative Nächstenliebe, die es im übrigen auch verhindert, Almosen gleichsam von oben herab zu geben, wie sie auch dem Empfänger der karitativen Gabe gebietet, diese nicht als Beschämung seiner selbst anzusehen.

Ich bitte, Ihren Herrn Vater und Ihre Frau Mutter sehr herzlich von mir zu grüßen; dieser Wunsch kommt mir aus ganzem Herzen.

Mit allen guten Wünschen für Sie bin ich stets
Ihr

Müller