Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1970

Predigt zu Allerheiligen
DIE ANONYMEN HEILIGEN

veröffentlicht in: Ambrosius Karl Ruf (Hrsg.),Predigten zu besonderen Anlässen, Feste des Kirchenjahres 1,
Regensburg 1970, S. 132 - 135

In Athen gab es nach Paulus einen Altar des unbekannten Gottes oder, wie man später herausgefunden haben will, einen Altar für die unbekannten Götter schlechthin. Die Stadt, in der unzählige Götter verehrt wurden, wollte es demnach mit keinem der möglichen Götter, weder mit den bekannten noch mit den unbekannten, verderben. Wohl aus ähnlichen Gründen hatte Rom im Pantheon einen Allgöttertempel. Hier fanden sämtliche Götter ihren Platz, die im römischen Reich, auch bei den unterworfenen Völkern, verehrt wurden. Als sich das Christentum durchsetzte, verblaßten die Sterne am Götterhimmel, und andere Sterne begannen zu leuchten: Die Blutzeugen der kaiserlichen Verfolgungen. Ihnen zu Ehren hat Papst Bonifaz IV. im Jahre 610 das Pantheon zur Gedenkstätte für die Märtyrer erklärt. Hier sollte der unübersehbaren Schar getöteter Christen gedacht werden, gerade auch derer, die dem Namen nach nicht mehr bekannt waren. Der Weihetag dieses Denkmals der unbekannten Heiligen entwickelte sich dann zum Fest Allerheiligen.

Zwar gab es im Laufe des Jahres die Gedenkfeiern für einzelne Heilige, aber man konnte sich nicht damit zufriedengeben, wenn man an die vielen namenlosen Heiligen der Verfolgungszeiten dachte, etwa an die »ungeheure Menge« der neronischen Verfolgung, an die Massenhinrichtungen unter Diokletian, an die größere Zahl nicht näher bekannter Blutzeugen im nordafrikanischen Utica, an den qualvollen Tod, den in Ägypten bis zu 100 Christen am Tag erleiden mußten und an Tausende andere.

Ihnen gesellte die Kirche sehr bald alle bei, die zwar nicht für Christus gestorben waren, aber in der totalen Christushingabe gelebt hatten. Auch unter ihnen gibt es nicht nur die unvergeßlichen Namen, sondern ebenso die Stillen und Kleinen, die als einzelne der Vergessenheit anheimgefallen sind und doch für das Leben der Kirche von großer Bedeutung waren. Irgendwie gehört die Anonymität sogar zum Heiligen hinzu: Es darf uns nicht wundern, daß die Zahl der unbekannten Heiligen sicher wesentlich höher liegt als die der bekannten. Der hl. Bruno, der den strengen Orden der Kartäuser gegründet hat, legte seine Gemeinschaft geradezu auf eine völlige Auslöschung des Namens fest. Beim Eintritt ins Kloster empfängt der Mönch einen neuen Namen; schreibt er Bücher, so wird der Autor nicht genannt; auf den Friedhöfen des Ordens tragen die Kreuze keinen Namen. Gerade aber unter den Kartäusern dürfte es viele Heilige gegeben haben.

Bei unseren bisherigen Überlegungen sind wir im Bereich der Kirche geblieben, näherhin sogar im Bereich der katholischen Kirche. Wir dürfen jedoch nicht die Heiligen der Ostkirche vergessen, denen bis heute große Verehrung entgegengebracht wird.

Aber nicht nur da gibt es Heilige, wo sie, wie in der katholischen Kirche und im christlichen Osten, in besonderer Weise geschätzt werden, sondern auch anderweitig.

Walter Nigg, der protestantische Theologe aus der Schweiz, gesteht zu, daß sich die katholische Kirche bis jetzt als der fruchtbarste Nährboden für Heilige erwiesen habe. Sie sind für ihn das schönste Ruhmesblatt des Katholizismus. Aber er wehrt sich andererseits dagegen, die Heiligen konfessionell vereinnahmen zu wollen. Für Katholiken und Nichtkatholiken gleichermaßen ungewohnt, befaßt er sich in seinem Buch über die Heiligen mit Gerhard Tersteegen unter der Überschrift »Der Heilige im Protestantismus«. Nach Nigg war es für Tersteegen gerade das Problem, wie die Verkörperung des Heiligen im Protestantismus möglich sei. Dabei wünschte er von ganzem Herzen, daß sein Name, Gerhard Tersteegen, von allen Menschen vergessen werde. Tief angezogen von den Heiligen der christlichen Geschichte hat Tersteegen die Heiligkeit, in der er selbst lebte, auf Gott zurückgeführt; er sagt: »Du hast Dich mit ihnen vereinigt, Du hast in ihnen und durch sie gelebt, darum, ja darum haben sie heilig gelebt.« Treffender kann Heiligkeit kaum umschrieben werden.

Diese Heiligkeit macht nicht an den Grenzen der Konfession halt, auch nicht an den Grenzen des Christentums. Wir erinnern uns an die Heiligen des alttestamentlichen Gottesvolkes, an ihrer Spitze Moses, David und die Propheten, und schließen aus dem Alten Testament auch die heiligen Heiden, wie man sie schon genannt hat, mit ein: den Priesterkönig Melchisedech, Henoch und die Königin von Saba. Wenn wir hier noch Namen nennen können, so stehen diese Namen im Grunde für die unzähligen namenlosen Heiligen, die die anderen Religionen hervorgebracht haben.

Widerstreitet dieser Auffassung von den Heiligen in anderen Religionen nicht das sperrige Wort Cyprians: »Kein Heil außerhalb der Kirche?« Es hat sich doch bereits als sperrig genug erwiesen im Verhältnis der Konfessionen zueinander, wieviel mehr wird es das tun im Verhältnis der Kirche zur nichtchristlichen Welt.

Über Jahrhunderte war mit diesem Satz die Meinung verknüpft, es bedürfe der ausdrücklichen Zugehörigkeit zur Kirche, um das Heil zu erlangen. Dieser Satz wird aber heute dahingehend verstanden, daß niemand zum Heil und damit zur Heiligkeit gelangt ohne die universale Erlösungstat Christi, die in der Kirche weiterlebt. Irgendwie sind alle Menschen mitgemeint und in ihrem Heil mitgetragen durch den in der Kirche weiterwirkenden Christus. So kann man sagen, daß die Bezogenheit auf die Kirche unabdingbar für Heil und Heiligkeit ist.

Aufgrund dieser neuen Sicht hat die Kirche in den letzten Jahren ein positiveres Verhältnis zu den Religionen gewonnen. Den Religionen wird im Rahmen der Geschichte Gottes mit der gesamten Menschheit eine bedeutende Rolle zuerkannt, nicht zuletzt in dem Sinne, daß sie für unzählige Menschen der ihnen zugewiesene Weg zum Heil sind. Jetzt werden wir auch neue, ungeahnte Dimensionen der Heiligkeit entdecken, die für die Welt und für die Kirche einen besonderen Reichtum darstellen. Eine Fülle geistiger Erfahrungen mit Gott steht uns zur Verfügung, wenn wir auf die Heiligen des Islam, auf die Erleuchteten des Buddhismus oder auf die Weisen des Hinduismus blicken. Gerade hier sind es für uns die anonymen Heiligen, denen wir Dank schulden.

Ihre Anonymität macht es uns schwer, die Heiligen als solche zu erkennen. Aber es ist wichtig für unser Leben, daß wir nicht achtlos an ihnen vorbeisehen, weder an denen, die gelebt haben, noch an denen, die jetzt unter uns leben. Dazu sagt C. S. Lewis, dessen Worte den Abschluß der Betrachtung bilden sollen: »Schon sind die neuen Menschen über die ganze Erde verstreut. Einige sind, wie ich zugebe, schwer zu erkennen: aber andern sieht man es an. Ab und zu trifft man sie. Ihre Stimmen und ihre Gesichter sind anders als die unsern, stärker, ruhiger, glücklicher, strahlender. Sie fangen da an, wo die meisten von uns aufhören ... Und ich vermute stark - doch wie sollte ich es wissen?, - daß sie einander auf der Stelle und untrüglich erkennen, über alle Schranken von Farbe, Geschlecht, Stand, Alter und sogar Glauben hinweg. Derart ist heilig zu werden etwa gleich dem Beitritt zu einer Geheimgesellschaft.«