Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1986

Menschenrechte und Asyl

Aus der Arbeit eines „Asylantenpfarrers“

Referat auf der Grundsatztagung "Menschenrechte und Friedenserziehung" des UNESCO-Modellschulprogramms im Hessischen Institut für Lehrerfortbildung, Reinhardswaldschule (Fuldatal-1) am 12. Dezember 1986

Mein Ansatz

In Schwalbach a.Ts. befindet sich die Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge des Landes Hessen. Sie hat mit die Funktion einer zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber. Ausländische Flüchtlinge, die über den Flughafen Frankfurt/Main einreisen oder sich erstmals bei den Ausländerpolizei-Behörden melden, werden von dort nach Schwalbach weitergeleitet. Nach einer Vorprüfung ihres Asylantrags und einem Aufenthalt von mehreren Monaten werden sie nach einem entsprechenden Gesetz auf die Kreise und Kommunen des Landes verteilt_

Für dieses Lager besteht seit Jahren bei der Kath. Pfarrei Eschborn ein aktiver Arbeitskreis aus Einzelmitgliedern und Vertretern verschiedener Organisationen. Ich stehe seit seinem Bestehen mit diesem in Verbindung und bin jetzt im Rahmen der Pax-Christi-Gruppe Hofheim Mitglied._

Nach dem Aufenthalt im Lager Schwalbach bzw. in einer seiner Dependencen kommen Flüchtlinge während ihres Asylverfahrens in sogenannte Gemeinschaftsunterkünfte, die es in den verschiedenen Kommunen gibt. In Hofheim sind es drei. Zwei davon sind ehemalige Wohnheime für ausländische Arbeitnehmer, die in Gartenbaubetrieben tätig waren. Die Häuser liegen außerhalb und haben einen einfachen bis schlechten Wohnstandard. Dort leben etwa 80 Flüchtlinge vorwiegend aus Eritrea (Äthiopien) und dem Iran.

Die Anwesenheit der Flüchtlinge in den Gemeinden, ihre Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, die erzwungene Untätigkeit, ihre Isolierung und die öffentliche Ablehnung stellen für sensible Menschen und Gruppen eine Herausforderung dar, die wegen der unmittelbaren Nähe und Kontaktmöglichkeit in vielen Fällen zu einer Solidarisierung führt. Es kommt durch persönliche Beziehungen und die Konfrontierung mit einzelnen Fluchtschicksalen zu einer tiefen Betroffenheit, die menschlich und christlich verarbeitet werden will.

Ich wollte mich mit dem Einverständnis meines Bischofs diesem Bereich so widmen, daß er für mich als ordinierter Christ der Schwerpunkt meines Lebens würde. Meine bisherige Tätigkeit als Referent in der Bischöflichen Verwaltung übe ich seit August 1985 nur noch zu 50% aus.

Meine Aufgabe sah ich am Anfang vor allem darin, mit einer christlichen Friedensgruppe unmittelbar zusammenzuarbeiten, bestehende Gruppen im Rhein-Main-Gebiet theologisch und konzeptionell zu unterstützen, die Bildung neuer (christlicher, ökumenischer, offener) Gruppen zu fördern, ihre Zusammenarbeit

zu verstärken und ihren Einfluß auf eine allmähliche Bewußtseinsveränderung in Kirche und Gesellschaft zu erhöhen. Auch kam es mir darauf an, das Anliegen der Flüchtlinge in den Zusammenhang der Friedensarbeit zu stellen.

Der Solidaritätskreis Asyl

Der „Solidaritätskreis Asyl“ von Hofheim ist eine Basisgruppe der Internationalen Katholischen Friedensbewegung PAX CHRISTI und besteht mit dem Schwerpunkt Asyl seit Anfang 1984. Er zählt im Augenblick ca. 10 Mitglieder unterschiedlichen Alters. Hinzu kommen die mittlerweile der Gruppe eng verbundenen Flüchtlinge.

Der Kreis hat Rahmenvorstellungen von seiner Tätigkeit, die ich meinen Ausführungen zugrunde lege.

Partner und Nachbarn sein

Der Solidaritätskreis sieht seine Aufgabe darin, Partnerschaft und Nachbarschaft mit den in Hofheim lebenden Asylbewerbern und Asylberechtigten zu pflegen.

Es geht um eine neue Art des Zusammenlebens. Der Kreis möchte ein Ort sein, wo ohne Grenzen und Barrikaden Menschenfreundlichkeit erfahren wird.

B e i s p i e l: Das freundliche Gesicht

Ein wenig ratlos dürfte ich schon ausgesehen haben. Eine Iranerin, aus ihrer Heimat geflüchtet, spricht mich im Lager Schwalbach an. Ihre große Bitte: Wir möchten dafür sorgen, daß die Flüchtlinge freundlicher behandelt würden. Offensichtlich leidet die Frau sehr unter der Abweisung und Kälte, die ihr überall entgegengebracht werden.

Wie soll ich diese Bitte erfüllen? Ich könnte einen Appell an die Öffentlichkeit richten, dem Sozialminister schreiben, er solle seine Leute anweisen, eine andere Miene aufzusetzen.

Ich weiß, daß dies nichts nützt. Das versuche ich der Dame zu erklären. Die Abweisung hätte einen politischen Grund. Zwar seien die Beamten nicht gerade angewiesen, eine übellaunige Miene aufzusetzen. Die ganze Politik gegenüber den Flüchtlingen sei aber darauf gerichtet, abzuschrecken. Dadurch solle verhindert werden, daß so viele Menschen wie bisher in die Bundesrepublik fliehen. Eine solche Politik spiegele sich dann zwangsläufig auf den Gesichtern derer nieder, die mit Flüchtlingen Kontakt hätten.

Was ich, was wir als Christen tun könnten? Eigentlich nur, ein wenig freundlich sein! Deswegen seien wir auch ins Lager gekommen, und feierten einen ökumenischen Gottesdienst.

Ein wenig freundlich sein, genügt dies?

Für's erste bestimmt. Ein freundliches Gesicht gegenüber Flüchtlingen ist Ausdruck einer Haltung. Ich akzeptiere Dich, ich achte Dich in Deiner menschlichen Würde, ich möchte Dich nicht abschrecken.

Das ist sehr viel. Mehr erwartet ein Flüchtling nicht, wenn er zu uns kommt.

Wahrscheinlich ist es aber gar nicht so leicht, freundlich gegenüber Flüchtlingen zu sein. Unbewußt wirken unsere Gesichter wenn nicht gerade abschreckend, so doch abweisend. In unserem Kopf und in unserem Herzen spielt sich eine Auseinandersetzung ab, genau die gleiche wie in der Öffentlichkeit. Sind es ihrer nicht zu viele? Habe ich nicht einen Menschen vor mir, der uns ausnützen will? Haben wir nicht genug Sorgen und Probleme, und dann kommen noch diese fremden Menschen zu uns...?

Begleiten und Informieren

Die Partnerschaft mit den Flüchtlingen schließt den Beistand in den verschiedensten Lebenssituationen ein wie etwa

  • Orientierungshilfen und Informationen für jedweden Bereich,

  • Begleitung zu Rechtsanwälten, zu Behörden, Ärzten und Pfarrern, zu Konsulaten und Auswanderungsorganisationen,

  • Beratung und Fahrten zum Einkauf von Lebensmitteln, Kleidung und Haushaltsgegenständen,
  • Organisierung von Sprachkursen für eritreische Mütter mit gleichzeitiger Betreuung der Kinder,
  • die äußerst schwierige Suche nach Wohnungen und
  • die fast aussichtslosen Bemühungen um Arbeitsplätze für Asylberechtigte.
B e i s p i e l: Die Kofferstory

Mein iranischer Freund Vigen will im Rahmen einer Förderung an einem von der Carl-Duisberg-Gesellschaft geförderten Sprachkurs in Arolsen teilnehmen. Er steht nun vor der schwierigen Aufgabe, seine persönlichen Dinge und seinen bescheidenen Hausrat in angemessener Form zu verpacken und mitzunehmen.

Sein Antrag auf Bewilligung von einem Koffer und einer Reisetasche wird vom Sozialamt mit der Begründung abgelehnt, daß die maßgeblichen Bestimmungen des Kostenerlasses des Hessischen Sozialministeriums solcher Art Beihilfen nicht einschlössen.

Da ich davon ausging, daß solche Anträge von Asylberechtigten im Rahmen ihrer Mobilität häufiger gestellt wurden und gestellt werden, frage ich schriftlich beim Hessischen Sozialministerium' an, ob die Auskunft des Sozialamtes zutreffe.

Das Ministerium antwortet in einem zweiseitigen Schreiben, daß der Kostenerlaß des Landes keine Einschränkungen enthalte, wie sie vom Sozialamt des Main-Taunus-Kreises angeführt würden. Telefonisch bekomme ich von Wiesbaden den Hinweis, vor Ablauf der Frist müsse noch Widerspruch eingelegt werden. Dies geschieht umgehend. Ich schreibe für Vigen, der längst abgereist ist: "Ich halte die Bewilligung meines Antrages für eine Respektierung meines verständlichen Wunsches, als Asylberechtigter in einer Form zu reisen, die nicht mehr den äußeren Charakter eines fluchtähnlichen und diskriminierenden Transportes hat. "

Ein Vierteljahr nach seiner Antragstellung schreibt mir Vigen, er habe inzwischen 40,-DM für einen Koffer erhalten!

Dies ist eigentlich ein lächerlich-komischer Vorgang und zwar deswegen, weil das Ergebnis in keinem vernünftigen Verhältnis zum Aufwand steht. Alles in allem dürfte der behördliche Aufwand in Finanzen ausgedrückt das 10-fache des Wertes eines billigen Koffers ausgemacht haben.

Nehmen Sie dies als einen exemplarischen Fall, wie wir versuchen müssen, mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln ein Mindestmaß an Lebensqualität für Flüchtlinge einzufordern. Andere Mitglieder der Gruppe können aus ihrer Erfahrung ganze Romane erzählen. Dabei sind wir außerstande alles Erforderliche überhaupt zu leisten; wir bräuchten nichts anderes mehr zu tun.

B e i s p i e l: Die Gutscheine

Es gehört zur Abschreckungspolitik, daß Flüchtlinge Gemeinschaftsverpflegung erhalten. Wo dies nicht der Fall ist, sollen ihnen für den Einkauf von Lebensmitteln nur Gutscheine ausgestellt werden. Wir hatten in einem Schreiben den Kreisausschuß des Main- Taunus-Kreises gebeten, den Anträgen von 7 Asylbewerbern zu entsprechen und statt Gutscheinen für Lebensmittel und Kleidung entsprechende Barmittel zur Verfügung zu stellen. Mitglieder des Solidaritätskreises, die Asylbewerber beim Einkauf begleitet hatten, mußten immer wieder feststellen, wie diskriminierend und schwierig der Einkauf mit Gutscheinen war. So mußte z.B. ein Gutschein über DM 150,- für den Erwerb von Jacke, Hose, Hemd und Pullover ausreichen. Diese Artikel waren zudem ausnahmslos und in der Zusammenstellung in gleichen Geschäft zu kaufen. Dann erfolgte die umständliche Prozedur der Bezahlung: Kasse, Abteilungsleiter, Formulare, Sammelkasse...

Der Kreis teilte in einem ersten Schreiben dem Hofheimer Solidaritätskreis mit, man wisse aus langjähriger Erfahrung, daß bei dem Einkauf mit Warengutscheinen Schwierigkeiten entstünden, und daß es zu Belastungen nicht nur der Hilfeempfänger, sondern auch des Sozialamtes führe. Trotzdem könne der Kreis der Anregung, das bisherige Gutscheinverfahren in Barzahlungen umzustellen, nicht folgen, da die Form der zu erbringenden Hilfe nicht in das Ermessen des Kreises gestellt sei. Wenn er es dennoch täte, bestünde die Gefahr, daß die Landesregierung dem Kreis die aufgewandten Mittel nicht erstatte.

Dem widersprachen wir mit dem Hinweis auf einen Erlaß des Hessischen Sozialministers vom 15.Oktober 1984, wonach das Land die Kosten der Hilfe zum Lebensunterhalt bei Asylbewerbern auch dann zahlt, wenn statt Sach- Geldleistungen erbracht werden. Diesen Sachverhalt hatte sich ein Mitglied des Solidaritätskreises noch einmal ausdrücklich durch einen Telefonanruf beim Sozialministerium bestätigen lassen.

Um nun den Mitgliedern des Kreisausschusses einen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen, hatten wir zu einem gemeinsamen Einkauf im Main-Taunus-Zentrum eingeladen. Der Landrat ließ sich entschuldigen. Die Medien waren da. Dies genügte uns vorläufig. Es dauerte noch Monate, währenddessen sich aufgeschlossene Politiker einschalteten. Schließlich wurden die Gutscheine für Lebensmittel abgeschafft. Für uns ein großer Erfolg.

Öffentlichkeit herstellen ist ein zweischneidiges Schwert. Denn die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert die Abschreckungspolitik und sieht in dem, was wir z.B. kritisieren, etwas Normales. Daher sind wir darauf angewiesen, politische Kräfte aufmerksam zu machen, die immer noch eine Vorstellung von der Behandlung von Flüchtlingen haben, die der Menschenwürde und dem Grundgesetz entspricht.

Miteinander sprechen und feiern

Es sind aber vielleicht die vielen Gespräche, die regelmäßigen Zusammenkünfte im Wohnheim, die Feier von Festen oder auch die Durchführung gemeinsamer Radtouren - dabei dürfen Asylbewerber das Kreisgebiet nicht verlassen, das gehört ebenfalls zum Abschreckungskonzept - die Freundschaften entstehen lassen und bei den Flüchtlingen vielleicht das Empfinden wecken, nicht betreut sondern akzeptiert zu werden.

Wir möchten nicht die großen Helfer sein, durch die andere Menschen von uns abhängig werden könnten. Es sollte ein Miteinander und ein Austausch auf gleicher Ebene bleiben, wenn unser Kontakt ein wirklich menschlicher ist. Dies ist schwer bei den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen und der Privilegierung, die wir als Einheimische in unserer Gesellschaft besitzen und bei den Einflußlosigkeit und den eingeschränkten Lebensmöglichkeiten der Flüchtlinge. Dennoch, es ist möglich- Sich gegenseitig annehmen und bereichern geschieht auf vielfältige Weise, vor allem aber in den Festen, die wir feiern und zu denen wir uns gegenseitig einladen. Einmal sind wir Gastgeber, das andere Mal sind wir Gäste und umgekehrt. Wenn ich nach dem Wichtigsten unserer Gemeinsamkeit gefragt würde, könnte ich nur sagen, daß es die Feste sind, die wir miteinander begehen, immer wieder. Die Feste des Jahres, die Geburtstage, Abschiedspartys mit denen, die nach Amerika oder Australien weiterwandern. Unsere Feste sind bedeutsam für unsere gemeinsame Hoffnung, die wir alle brauchen.

B e i s p i e l: Urlaub im Schwarzwald

Eine Woche Urlaub im Schwarzwald zusammen mit Flüchtlingen und ihren Kindern war unser großes Unternehmen für 1986. Das Geld hatten wir zusammen, das Feriendorf war gefunden, der Bus bestellt, die Koffer gepackt. Dann kam der Paukenschlag, wie er sich in der schnell verbreitete Pressemitteilung vom 3. Oktober niederschlug:

Mit verminderter Teilnehmerzahl startete heute der Solidaritätskreis Asyl von Pax Christi Hofheim mit befreundeten Flüchtlingen zu der geplanten Ferienfreizeit in den Schwarzwald. Mitten in die Reisevorbereitungen war am Freitag (Tag des Flüchtlings!) die telefonische Mitteilung der Ausländerbehörde des Main-Taunus-Kreises geplatzt, daß der Antrag einer Reihe von Asylbewerbern, an der Freizeit teilnehmen zu können, abgelehnt worden sei. Das Bemühen von Pfr. Leuninger, Mitglied von Pax-Christi, den Landrat des Main-Taunus-Kreises, Herrn Dr. Bernward Löwenberg doch noch zu bewegen, die Erlaubnis zum Verlassen des Kreises zu geben, scheiterte, da der Landrat am Freitag nicht mehr zu erreichen war und es sich offensichtlich um seine unmittelbare Entscheidung gehandelt hatte.

Leuninger versuchte nun, die erforderliche Erlaubnis über das Hessische Innenministerium zu erhalten. Dieses Bemühen hatte wenigstens den Erfolg, daß eine Familie mit mehreren Kindern an der Fahrt in den Kurzurlaub teilnehmen kann. Andernfalls hätte nur der Vater, der bisher allein asylberechtigt ist, nicht aber seine Familie mitreisen können. Nach Auskunft von Leuninger habe das Innenministerium kein Verständnis für das Verhalten des Landrats gehabt, sich aber wegen der Kürze der Zeit außerstande gesehen, für alle Asylbewerber die Erlaubnis zum Verlassen des Main-Taunus-Kreises zu geben. Es wurde aber ein ausführlicher Bericht über die ganze Angelegenheit erbeten.

Überlegungen im Solidaritätskreis Asyl, aus Verbundenheit mit den Flüchtlingen, die zurückbleiben müssen, die ganze Reise abzusagen, wurden zugunsten der vielen Kinder, die sich seit Wochen auf diese Freizeit gefreut hatten, fallen gelassen. Pax Christi Hofheim ist empört und enttäuscht über die Entscheidung des Landrats. Man fragt sich dort, was denn die früheren lobenden Aussagen von Landrat Dr. Löwenberg über das ehrenamtliche Engagement mit Flüchtlingen wert sind."

Wir sind trotzdem gefahren und alle, die mitfahren konnten, haben glückliche Tage miteinander verbracht, die 17 Kinder, vor allem kleinere, wußten sich vor lauter Freiheit und Vergnügen kaum zu fassen. Höhepunkt des Tages war das Mittagessen mitten auf der Wiese. Dorthin wurde das Essen gebracht, das in den einzelnen Ferienhäusern vorbereitet worden war. Jeder hatte eine Auswahl aus jeweils 10 bis 15 schmackhaften Gerichten.

Sich selbst informieren

Dabei erfahren die Mitglieder des Solidaritätskreises die schweren Einzelschicksale dieser Menschen und informieren sich über die politischen Hintergründe der Flucht und die Situation des jeweiligen Heimatlandes.

Wenn das Vertrauen gewachsen und die Verständigungsmöglichkeiten größer geworden sind, erfahren wir mehr voneinander, die Flüchtlinge, wer wir sind und warum wir die Kontakte mit ihnen suchen, wir über die Familie, die Situation in der Heimat und vielleicht auch über die Erfahrungen der Flucht. Schwere Schicksale, Mord an Familienmitgliedern, jahrelange Trennung von Kindern und Eltern, Ungewißheit über den Verbleib des Ehemanns oder der Geschwister. Wir trauern mit über Angehörige, die zwischenzeitlich verstorben sind und bemühen uns unter dem Einsatz großer finanzieller und logistischer Mittel, die Zusammenführung von getrennten Familien zu erreichen. Wir teilen die Sorge um die schwere Erkrankung eines Kleinkindes und sind ratlos angesichts der Alkoholkrankheit eines jungen Freundes.

In die Öffentlichkeit gehen

Eine wichtige Aufgabe siegt der Solidaritätskreis Asyl darin andere engagierte oder zum Engagement bereite Gruppen über die eigenen Erfahrungen zu informieren und möglicherweise zu einer ähnlichen Solidarität zu bewegen. Öffentlichkeit soll diesem Anliegen dienen, aber auch eine positivere Einstellung in der Bevölkerung und bei verantwortlichen Politikern bewirken.

B e i s p i e l: Die Aktionsgemeinschaft „Nie wieder 1933“

Am 2.Februar veranstaltete die Aktionsgemeinschaft „Nie wieder 1933“ in Hofheim eine Demonstration gegen Neonazismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Aufgrund neonazistischer Parolen an Bahnunterführungen-, Haus- und Kirchenwänden sollte ein deutliches Zeichen gesetzt werden, daß viele Bürger sich gegen diese Umtriebe zur Wehr setzen wollten. Pax-Christi hat diese Demonstration vorbereitet, an der überraschenderweise 700 Menschen teilnahmen. und auf der ich die Schlußansprache zu halten hatte.

Im November haben wir mit dieser Aktionsgemeinschaft und Flüchtlingen zusammen ein eritreisches Fest für Hofheim veranstaltet. In der Einladung hieß es: In Hofheim leben Menschen aus Eritrea. Mit ihnen wollen Wir ein Fest feiern, reden, tanzen, Musik hören, spielen, essen, trinken, es uns gutgehen lassen. Was ist besser geeignet als ein Fest, um sich kennenzulernen, Kontakte zu knüpfen, zu verstehen, sich nahe zu kommen. Die Freunde aus Eritrea wollen für uns ein Fest machen und dabei auch von .ihrem Land berichten und den Gründen, warum sie geflohen sind.

Das Fest war ein großer Erfolg. Etwa 300 Personen nahmen daran teil, darunter auch viele Eritreer aus der nahen Umgebung. Es war eine Demonstration „dafür" mit guter Resonanz.

B e i s p i e l: Ökumenische Gottesdienste mit Flüchtlingen

Am 2. Weihnachtstag 1985 fand ein erster ökumenischer Gottesdienst im Flüchtlingslager Schwalbach statt. Wir hatten hierzu die Initiative ergriffen.

Zur vorgesehenen Zeit füllte sich der Gemeinschaftsraum, in dem die Stühle im Halbrund um den Altartisch aufgestellt waren. Flüchtlinge aus vielen Nationen und eine große Anzahl von Christen aus den umliegenden Gemeinden bildeten eine ungewöhnliche Gemeinde. An die Wand wurde ein Krippenbild projiziert, es stammte von einem außereuropäischen Künstler. Eine kleine Musikgruppe mit Querflöte und Gitarren hatte die musikalische Begleitung übernommen. Einer der Spieler war ein iranischer Flüchtling, der mit seiner Familie in Hofheim lebte, armenische Christen. Liedzettel mit Liedern, deren Strophen mehrsprachig abgedruckt waren, wurden ausgeteilt. Der Gottesdienst begann mit einer Begrüßung in mehreren Sprachen. Nacheinander wurden die wichtigsten Fluchtländer aufgerufen und die Gottesdienstteilnehmer aus dem genannten Land mit Beifall willkommen geheißen; dann auch die Anwesenden der verschiedenen umliegenden Gemeinden. Eine wahrhaft ökumenische Versammlung mit Menschen aus verschiedenen Konfessionen und Ländern. Der Gottesdienst geht über in eine gesellige Versammlung bei Kaffee und Kuchen.

Von Weihnachten an werden dann regelmäßig die ökumenischen Lagergottesdienste gefeiert. Immer wieder finden gemeinsame Besprechungen statt, um die Termine festzulegen, die Erfahrungen auszutauschen, die jeweilige ökumenische Leitung des Gottesdienstes abzusprechen und das Service-Team für das Zusammensein nach dem Gottesdienst zu bestimmen. Immer mehr Gemeinden und Pfarrer beteiligen sich an den Gottesdiensten, hunderte Christen aus der Umgebung haben an den mittlerweile über 20 Gottesdiensten teilgenommen und den Schritt durch das Lagertor gewagt. Die Mehrheit von ihnen hat eine neue ökumenische Erfahrung gemacht, ein anderes Bild von den Flüchtlingen erhalten, vielleicht sogar die eigene Einstellung verändert. Die Flüchtlinge freuen sich Menschen zu erleben, die ihnen freundlich begegnen und ihnen zeigen, daß es in der Bundesrepublik Christen gibt. Auch Menschen anderer Religionen fühlen sich angesprochen.

Der bisherige Höhepunkt der Ökumenischen Gottesdienste war die Anwesenheit des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau Spengler mit seiner eindrucksvollen Predigt und den intensiven Gesprächen mit den Flüchtlingen.

Am Schluß dieses Gottesdienstes tritt ein Flüchtling aus Ägypten nach vorn. Er gibt sich als Christ zu erkennen und möchte den deutschen Gottesdienstteilnehmern eine Botschaft vermitteln. Die Flüchtlinge sähen, daß Deutschland große Aufwendungen für die Asylbewerber machen müßte. Die Flüchtlinge wüßten dies zu schätzen. Sie hätten aber sicher keine übertriebenen Vorstellungen von ihrer Aufnahme und wollten bestimmt keine Unterkunft in besonderen Hotels. Das Einzige, was sie sich sehnlichst wünschten, wäre, als Menschen behandelt zu werden, einfach als Menschen.

Dies versuche ich mit meinen Freundinnen und Freunden zusammen und ich vermeine zu spüren, daß ich dabei selbst ein wenig mehr Mensch geworden bin.


Notiz vom 12.8.1985

Donnerstag, 8. August 1985, 14.30 Uhr

Erster Kontaktbesuch des Solidaritätskreises im Lager Schwalbach

Gespräch mit dem Leiter des Lagers Herrn Volker Möser

Nach Auskunft von Herrn Möser gehen die Zahlen der Asylbewerber derzeit drastisch hoch.

Im Lager Schwalbach befinden sich z.Zt. 450 Asylbewerber in Schöneck 350
in Hochheim 200
in Langen 200
insgesamt 1.200 (1.300 ?)

Ab Montag wird eine neue Dependence in Eppertshausen belegt.

Die Zugänge von Asylbewerbern haben sich in den vergangenen Monaten auf ca. 1.000 erhöht. Davor waren es normalerweise 400 bis 500. Im Frühjahr stieg die Zahl auf 700 an. Derzeit sind 1.300 Asylbewerber im Lager Schwalbach und seinen Dependencen.

Nach Experteneinschätzung wird der Zugang von Asylbewerbern auf ähnlich hohem Niveau verbleiben. Bislang waren es in Hessen pro Jahr 3 bis 4.000. In diesem Jahr dürften es 10.000 werden.

Jedem Asylbewerber wird zuerst ein Bett zugewiesen. Dann erfolgt die Anhörung durch die Ausländerbehörde und die Gesundheitsuntersuchung.

Bei der Belegung wird davon ausgegangen, daß 10% der Betten aus den verschiedensten Gründen nicht benutzt werden (z.B. bei Indern und Pakistani).

Die altersmäßige Zusammensetzung der Asylbewerber hat sich wesentlich verändert. Es sind in stärkerem Maße Familien mit z.T. vielen Kindern. 30% der Personen in den Lagern sind Kinder.

(H. Leuninger)