Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1975

DIE FROMMEN WIEDER IM KOMMEN
Neue Gotteserfahrung und Theologie

INHALT
Immer wenn sich eine neue geistliche Welle abzuzeichnen beginnt, treten such die Theologen auf den Plan, die zumeist recht unschuldig an dem Entstehen neuer religiöser Bewegungen sind. Ihnen obliegt es, sich abzeichnende Entwicklungen mit wissenschaftlicher Gründlichkeit zu begutachten.

Eine Meldung der Süddeutschen Zeitung: "Zu Zehntausenden sind am Pfingstsonntag katholische Charismatiker, wie sich die Mitglieder einer seit etwa fünf Jahren weltweit auftretenden pfingstlichen Erneuerungsbewegung nennen, nach Rom gekommen. Am Sonntag feierten sie zusammen mit den Teilnehmern eines marianischen Weltkongresses im überfüllten Petersdom mit Papst Paul VI die Pfingstmesse.

In Rußland soll es mit der Frömmigkeit and Religiosität auch wieder bergauf gehen. Der russische Geschichtswissenschaftler Levitin-Krasnov sagte bei einem Interview für die Schweizer Wochenzeitung "Weltwoche": "In der jungen Generation ist das Interesse an Religion wieder erwacht. Viele junge Erwachsene lassen sich taufen."

Ein aufschlußreiches Barometer für die jeweilige religiöse Bewußtseinslage sind schließlich die Auslagen einschlägiger Buchläden. Dort herrschen derzeit die Titel vor, die sich mit östlicher and°westlicher Meditation, mit Gebet, Gotteserfahrung und Mystik befassen.

Immer wenn sich eine neue geistliche Welle abzuzeichnen beginnt, treten such die Theologen auf den Plan, die zumeist recht unschuldig an dem Entstehen neuer religiöser Bewegungen sind. Sie wollen and dürfen den Anschluß nicht verpassen. Ihnen obliegt es nämlich, sich abzeichnende Entwicklungen mit wissenschaftlicher Gründlichkeit zu begutachten, auf vergleichbare Tendenzen in der Vergangenheit zu verweisen, Hintergründe zu erforschen, Querverbindungen aufzuzeigen, kritische Fragen zu stellen und weitere Horizonte zu eröffnen.

Greifen wir einigermaßen wahllos drei Veröffentlichungen heraus, die in den Umkreis unserer Thematik gehören: "Das Mysterium and die Mystik". Hier sind es Beitrage zu einer Theologie der christlichen Gotteserfahrung. Dann: "Der heutige Mensch and die Heilsfrage", ein Buch mehr philosophischer Natur. Oder schließlich: "Gott als Gott erfahren".

Es soll nun im  Folgenden vorsichtig untersucht werden, was diese Bücher etwa zur geistigen Bewältigung einer neu aufbrechenden Frömmigkeit austragen. Der erste Eindruck beim flüchtigen Durchblättern: beileibe nicht alle Kapitel sind taufrisch. Es scheinen eine ganze Reihe von Manuskripten, die bereits abgeheftet waren, doch wieder ans Tageslicht befördert worden zu sein. In einem Fall ist ziemlich unverbundenes Material unter einem aktuellen Oberthema zwischen zwei Buchdeckel gesteckt worden. Das gehört zum Geschäft.

Der holländische Autor Peperzak sucht sich in seinem Werk "Der heutige Mensch und die Heilsfrage" über die normalen Erlebnisse eines Menschen an die Gotteserfahrung heranzutasten. Greifen wir eine charakteristischen Abschnitt heraus. Da wird beschrieben, daß alle noch so schönen Erlebnisse, die die Welt beschert, niemals ganz zu befriedigen vermögen.

Weder die kulturellen Genüsse, noch Erfahrungen ethisch einwandfreien Verhaltens, auch nicht das Liebesglück zweier Menschen lassen das Verlangen nach Glück bzw. Heil zur Ruhe kommen. "Der Mensch schaut aus nach mehr, nach etwas, das sich nicht in der endlichen Welt finden läßt and das doch etwas Williches ist." So ist der Mensch auf Grenzenloses, Unendliches eingestellt, oder wie Peperzak sagt, auf das Absolute. Im Buch wird der Versuch unternommen, den Sinn and Gehalt dieser gewichtigen Worte zu erläutern. Jede Glückserfahrung, die einem Menschen zuteil wird, mag noch so einmalig sein, sie ist vom Wesen her beschränkt. Niemals zeigt sich das Glück als genügend dauerhaft und tief. Als Beispiel eine vergnügliche und gute Mahl zeit, verbunden mit schöner Musik and verständnisvollen Gesprächen. Die Beschränkung liegt dann darin, daß alles gebunden bleibt an eine bestimmte Sprache, an den Geschmack, an die Zahl der Teilnehmer und die besprochenen Themen. Damit wird auch ein weiteres Moment in der Begrenzung unseres Verlangens nach Glück deutlich. Um überhaupt etwas zu erleben, muß ich aus zahllosen Möglichkeiten, die sich mir bieten, eine Auswahl treffen. Damit lasse ich zwangsläufig eine unübersehbare Fülle anderer Möglichkeiten fahren. Es heißt dazu in dem Buch wörtlich: "Der Mensch vermag nur eine Frau (gleichzeitig) zu lieben, nur eine Symphonie(gleichzeitig) zu hören, nur eine bestimmte, räumlich and zeitlich begrenzte Variante von Glück zu genießen.“

Es kommt also hier, etwas banal gesagt, zur Qual der Wahl. Damit ist die Unmöglichkeit festgestellt, in dieser Welt das vollkommene Glück zu erleben. Dennoch ist der Mensch von seiner Natur her darauf angelegt, sich mit nichts weniger als diesem zufrieden zu geben. Ein bestimmtes Ding, elne besthmte Person, eine bestimmte Landschaft können niemals den Kern des Verlangens erreichen. Es bleibt seelisch immer ein Defizit, ein Mangel, der nach Peperzak größer ist als die Fülle des gerade hier and jetzt Erlebten. Jede Erfüllung ist demnach mit einer Sehnsucht vermischt, die den Menschen immer welter treibt, welt über das jeweils konkrete Glück hinaus. Und so kommt es zur ständigen Jagd nach Glück, zur endlosen Gier und Hast, um in kürzester Zeit das größtmögliche Glück zu ergatttern. Diese negativen Begriffe starnmen vom Autor und schließen bereits im Sinne seiner Beweisführung eine Voreingenommenheit gegenüber hier erfahrenern Glück ein.

Hier erhebt sich nämlich die Frage, ob das Glück, wenn erfahren, nur so erfahren wird. Das ist füglich zu bezweifeln. Aber folgen wir dem Gedankengang des Buches welter. Mit der Jagd nach dem größtmöglichen Gluck ist immer auch die bittere Erkenntnis von der Todesbegrenzung verknüpft. Selbst wenn die Menschen einmal in die Lage kommen sollten, den Tod zu überwinden, käme es damit nur zu einer endlosen Reihe von Glücksempfindungen. Daher das Zwischenergebnis. "Ein endlos wiederholtes, jedesmal besseres Gluck ergibt doch immer nur eine endliche Erfüllung des Verlangens." Und deswegen verlangt der Mensch  mehr als die Summe dessen, was sich auf der Ebene des Essens, Trinkens, Arbeitens, Genießens, der Gerechtigkeit, des Feierns und der Liebe vorstellen läßt. Was der Mensch verlangt? Etwas, was Raum und Zeit enthoben 1st, das das endgültige "Mehr" darstellt, das radikal Andere, Gott.

In diesem Zusammenhang folgt dann der in der klassischen Philosophie und Theologie umstrittenste Gottesbeweis. Wie dargelegt, will das Glücksverlangen des Menschen das Unendliche. Ohne das Unendliche, kann der Mensch nicht glücklich werden und verfehlt sein Wesen. Daher muß es das Unendliche auch geben.

Nun gut! Der Weg, über die Erfahrungen irdischer Unzulänglichkeit zu Gott zu gelangen, wurde in der Tradition wiederholt beschrieben. Aber, wo sind die Menschen, die gerade heute auf diesem Weg zum letzten Ziel gelangen? Ist die seelische Verfassung eines Menschen, der auf uberzeugende Weise Glick empfindet, derart, daß er mehr vom Mangel als von der Erüillung geprägt wird? Sind nicht eher  die zugestandenermaßen kurzen Hohepunkte menschlichen Glucks Momente des Auslangens nach Gott als dem Urgrund menschlichen Glucks?

Aber es gibt ja nicht nur die philosophisch angesonnenen sondern auch die wirklichen Gotteserfahrungen, denen etwas Außergewöhnliches anhaftet. Mögen auch die, die der pfingstliche Geist zu überbordenden Bekundungen himmlischer Seligkeit anzuregen scheint, nach Tausenden zählen, so stellen sie gemessen an allen Gläubigen nur eine verschwindende Minderheit dar. Das wird sich auch in Zukunft nicht wesentlich ändern. Theologen sind solchen Phänomenen gegenüber grundsätzlich mißtrauisch , eine Haltung, die noch dadurch verstärkt wird, daß die Gottesgelehrten normalerweise nicht zu denen gehören, die mit außergewöhnlichen religiösen Erlebnissen gesegnet sind.

Josef Sudbrack untersucht in seinem Buch "Das Mysterium und die Mystik" das Verhältnis von besonderen Gotteserfahrungen und der Gelehrsamkeit der Theologen. Er ist bemüht darzutun, daß es auf christlicher Ebene keinen Gegensatz zwischen Mystik und Theologie zu geben braucht, da beide bezogen sind auf die Person Jesu Christi und die im Wort niedergelegte Offenbarung Gottes. Dennoch zeigt die Geschichte eine stetige Spannung. Die Mystiker wußten nie viel mit der kühien Sachlichkeit der Gelehrten anzufangen, während die Systematiker auf den Lehrstühlen ihre Abneigung gegenüber allzu persönlich gefärbten und der Selbsttäuschung ausgesetzten Seelenerfahrungen verhehlen konnten. Das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben, nur mit dem kleinen Unterschied, daß man heutzutage doch geneigter ist, unmittelbaren Erfahrungen einen höheren Stellenwert einzuräumen.

Der Vorrang der Glaubenserfahrung vor der Glaubenswissenschaft ist von der Bibel her begründbar. Am Anfang stehen persönliche Erfahrungen, die Menschen mit Jesus von Nazareth gemacht haben. Diese Erfahrungen waren ihnen wichtiger als die grundsätzlichen Bedenken und Einwände der jüdischen Gottesgelehrten. Die  Erfahrungen von der Nähe Gottes kamen nicht aus eigenen Einsichten oder aus Erlebnissen, die im Innern entstanden waren, sondern von den Worten und Machttaten Jesu her. Sie waren abhängig von einem persönlichen Gegenüber. Daher nennt sie Sudbrack auch dialogische Erfahrungen gegenüber reinen Selbsterfahrungen. Dialogisch sind sie wie die von Liebe, Vertrauen und Verantwortung zwischen zwei Partnern. Es sind allerpersönlichste Erfahrungen, die allerdings nicht den Blick nach innen kehren, vielmehr zum andern hin lenken. Das "Ich" wird zum "Du" hingewendet.

Was die Jünger mit Jesus, gerade auch mit dem auferstandenen, erlebt haben, schlägt sich nieder in der Glaubensaussage: In Jesus sind die Jünger Gott begegnet. Das ist der Inbegriff aller Gotteserfahrung und damit auch aller Mystik. Gotteserfahrung aber als Ergebnis einer Begegnung in durchaus menschlichen und, so möchte man gegen Peperzak sagen, endlichen Dimensionen. Daher sind auch alle damaligen und heutigen Erfahrungen, die sich auf den Geist Gottes berufen, auf die Person Jesu Christi bezogen. Wer also das Wort mystisch wählt, um religiös Außergewöhnliches zu beschreiben, kann für einen Christen nur meinen, daß in Christus das letzte Rätsel Gottes, das zutiefst Religiöse mitgeteilt wurde.

Mystik ist Vereinigung mit Gott. Gott wird zum Zentrum alter Gedanken und Empfindungen. Er lebt in der innersten Mitte eines Menschen. So umschreibt Georg Muschalek  u.a. in seinem Werk "Gott als Gott erfahren" diesen Bereich religiöser Wirklichkeit. Dabei ist die mystische Erfahrung nicht ein Einbruch in das Leben eines Menschen, der mit seinen sonstigen Erfahrungen in keinem Zusammenhang stünde. Am Anfang steht die Sehnsucht Gott zu suchen, ihn zu erreichen und ihn gegenwärtig zu haben. Diese Sehnsucht ist eine Kraft, die den Menschen antreibt, sich auf die Suche zu begeben, bis ihm vielleicht als Geschenk das Bewußtsein der Gottesnähe zufällt.

Dabei schließen sich die Erfahrung der Welt und die Erfahrung Gottes keineswegs aus. Es soil vielmehr so sein, daß die Welt in ihrer Fülle erst erkennbar wird, wenn eine Erfahrung vorliegt, die nicht von dieser Welt 1st. So gilt die Höhe der Mystik erst als erreicht, wenn dem Begnadeten eine neue, freiere und  reichere Rückkehr zum Umgang mit der Welt und dem Alltag ermöglicht ist. So wenigstens sagt es these Thavie von der Mystik.

Die Aktualitat der drei genannten Bucher ist fur jemanden, der selbst mystischen Phanomenen fremd gegenubersteht, nicht sonderlich hoch. Sie versteckt sich eher in der einleitend von

Sudbrack aufgeworfenen Frage, ob es eigentlich ein gutes Zeichen fur unsere Zeit sei, wenn Mystik, Frommigkeit oder Gotteserfahrung wieder gesucht und gepflegt werden. Es gabe schließlich Stimmen, die dieses Phanomen als Fahnenflucht bezeichneten, als Flucht vor den Aufgaben der Zeit, als Flucht vor dem Einsatz fur den Menschen. Sudbrack erwahnt diese kritischen Stimmen mit dem Hinweis, darauf brauche man nicht zu horen, die ablehnenden Außerungen kamen zumeist aus marxistischem oder technokratischem Lager. So hat er der wirklich brennenden Frage wenigstens für einen Moment Tribut gezollt, ohne sich ernsthaft darauf einzulassen.

Die Aktualität der drei genannten Bücher ist für jemanden, der selbst mystischen Phänomenen fremd gegenüber steht, nicht sonderlich hoch. Sie versteckt sich eher in der einleitend von Sudbrack aufgeworfenen Frage, ob es eigentlich ein gutes Zeichen für unsere Zeit sei, wenn Mystik, Frömmigkeit oder Gotteserfahrung wieder gesucht und gepflegt werden. Es gäbe schließlich Stimmen, die dieses Phänomen als Fahnenflucht bezeichneten, als Flucht vor den Aufgaben der Zeit, als Flucht vor dem Einsatz für den Menschen. Sudbrack erwähnt diese kritischen Stimmen mit dem Hinweis, darauf brauche man nicht zu hören, die ablehnenden Äußerungen kämen zumeist aus marxistischem oder technokratischem Lager. So hat er der wirklich brennenden Frage wenigstens für einen Moment Tribut gezollt, ohne sich ernsthaft darauf einzulassen.

Muschalek erscheint an diesem Punkt differenzierter, wenn er auf den abwertenden Tonfall bei den sogenannten "Frommen" zu sprechen kommt, wenn diese das Wort "Menschlichkeit" in den Mund nehmen. Er fragt dann: "Ob diese wohlwollend-herablassende Geringschätzung nicht eine übernatürlich getarnte Flucht vor der strengen Forderung und schweren, nie ganz gelösten Aufgabe der Liebe zu Gott in der Liebe zum Bruder ... ist?" Also Flucht ins Göttliche aus Angst vor dem Menschlichen? Muschalek macht darauf aufmerksam, daß gerade junge Menschen diesen leichtfertigen Auszug aus der Welt der geschaffenen Werte nicht mehr ohne weiteres mitmachen. Sie spürten die falsche Motivierung heraus and merkten, daß hier die Welt insgeheim schon abgeschrieben ist. Dafür handelt sich die Jugend den Vorwurf ein, sie sei opferscheu and unreligiös. Dabei ist die Klage über die junge Generation nicht selten eine Klage darüber, daß sie die Flucht aus der Welt durchschaut hat.

Trotz dieser Aussagen schwenkt Muschalek an anderer Stelle auf eine Linie ein, die dem religiösen Aufbruch oder besser gesagt Auszug nach Innen entspricht. Das schlägt sich dort nieder, wo Muschalek gegen die politische Theologie bzw. gegen die Theologie der Praxis zu Felde zieht. Er wirft ihr vor, sie sei bestrebt, die christliche Wahrheit innerweltlich, ja gesellschaftspolitisch festzulegen. Die Hinwendung zum leidenden and bedrückten Menschen, für die diese Theologie eintritt, wird sogar eher als Folge der Erfahrung vom Tode Gottes als eines lebendigen Gottesglaubens gesehen. - Was wird uns d a n n die neue Gotteserfahrung bringen?

 


Sendemanuskript für HESSISCHER RUNDFUNK, Frankfurt/M., 2.Hörfunkprogramm, 10.6.1975 - Redaktion Norbert Kutschki