Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1971

KONFESSION: FORTSCHRITTLICH
Der Konflikt in der Gemeinde

Sendemanuskript für HESSISCHER RUNDFUNK, Frankfurt/M.,
2. Hörfunkprogramm, 1971 - Redaktion Norbert Kutschki

INHALT
Gemeinden sind gespalten. Es gibt die Gruppe derer, denen die Veränderungen nach dem 2. Vaitkanischen Konzil nicht weit genug und die andere, denen sie zu weit gehen. Um eine Spaltung zu verhindern, ist ein geradezu ökumenischer Geist des Dialogs und gegenseitiger Toleranz erforderlich.

Das Ja zum Fortschritt hat innerkirchlich den Charakter eines Bekenntnisses angenommen. Wie hoch der Prozentsatz ist, der in den Gemeinden dieser Konfession angehört, lässt sich schwer sagen. Unmittelbar nach dem Konzil sah es so aus, als sei der größte Teil der Katholiken auf die Seite des Fortschritts umgeschwenkt. Die Szene hat sich mittlerweile erheblich verwandelt. Der Chor der Stimmen wird immer stärker, die sich nach all den vielen Veränderungen für mehr Ruhe einsetzen. Sie halten sich weiterhin für fortschrittlich; der Fortschritt dürfe aber nicht zum Prinzip erhoben werden. Fortschritt um des Fortschrittes willen wird von dieser Seite abgelehnt. Andererseits gibt es die Christen, die sich nicht nur mit den bisherigen Reformen begnügen wollen, sondern den prinzipiellen Fortschritt fordern. Für sie gibt es im Grunde keine Phase, in der sich die Kirche auf das Erreichte verlassen kann. Sie muss vielmehr ständig auf dem Sprung sein, um auf Neues einzugehen. Das heißt nichts anderes, als dass sie sich ständig auf Zukunft hin orientiert. Es ist dieser Gruppe ein menschliches und christliches Erfordernis, fortschrittlich zu sein. Sie vertritt ihren Standpunkt mit einem Ernst und Einsatz, dass er ihr geradezu zur Konfession wird. Letzteres gilt übrigens auch für die engagierten Konservativen.

Es ist zu vermuten, dass in jeder Gemeinde die beiden genannten "Konfessionen" - dieser Sprachgebrauch sei einmal gestattet - vorhanden sind. Zum wenigsten lassen sie sich dort finden, wo die Jugend noch eine aktive Rolle spielt. Sie gehört, rein statistisch gesehen, sicher zum größten Teil zu der fortschrittlich eingestellten Gruppe. Diese deckt sich aber nicht einfach hin mit der jüngeren Generation. Die Gleichung jung gleich fortschrittlich und alt gleich konservativ lässt sich nur annäherungsweise aufstellen. Es ist gleichfalls unmöglich, mit dem Entsprechungspaar "progressiv konservativ'' eine Gemeinde sauber einzuteilen. Dazu gibt es zu viele Schattierungen, für die dieses Raster zu grob ist.

Hinter dieser Einteilung stehen aber Vorstellungen und Erwartungen, die nicht so ohne weiteres miteinander harmonisiert werden können. Sie reichen einmal in den psychologischen Bereich. Auf der konservativen Seite geht es um die Sehnsucht nach Dauer und Stabilität. Das Gewohnte und Vertraute soll auf verlässliche Gleise wiederkehren. Die Vergänglichkeit und der Wandel werden als belastend empfunden. Bei normaler Veranlagung handelt es sich um Menschen, die ein hohes Pflichtgefühl, besondere Ausdauer und Fleiß besitzen. Wenn die Angst um die Vergänglichkeit beherrschend wird, verharren sie starr auf Grundsätzen, auf moralischen, politischen und religiösen Prinzipien. Besonders neigen sie zu Intoleranz;" es geht bei ihnen immer um ein etwas Vermeiden, vor allem um das Vermeiden von Neuem, Unbekanntem, Unsicherem, Unübersichtlichem" (F. Riemann).

Ganz anders steht es um den progressiven Typ. Er ist bereit zum Risiko, immer willens, sich Neuem zuzuwenden, erwartungsvoll und optimistisch. Traditionen sind ihm problematisch, er setzt auf die Veränderung. Das Leben ist ihm ein Abenteuer. Dafür misstraut er dem Endgültigen, der Festlegung, der Ordnung. Eine allzu große Angst vor der Beschränkung macht es ihm sehr schwer, sich verbindlich festzulegen. Er ist versucht, sich jeder Ordnung zu entziehen.

Menschen, die bereits in ihrer Kindheit in der einen oder anderen Weise geprägt sind, bringen ihre Hoffnungen und Ängste in das Leben der Gemeinde ein. Dabei geraten sie in ein Feld, auf dem es um die Lösungen der menschlichen Grundprobleme geht, jeder einzelne erwartet, auf die ihm eigentümliche Weise angenommen und angesprochen zu werden. Es ist keine Frage, dass hierbei vor allem der konservative Typ profitierte. Sein Anliegen nach Sicherheit. Unwandelbarkeit, nach dem Gewohnten wurde besonders ernst genommen. Er konnte sich in einer Institution beheimatet wissen, für die der Fels ein besseres Bild war als der Fluss.

Daß hiermit seitens der Kirche eine Vorentscheidung getroffen war, auf welche Weise den Menschen das Heil vermittelt wurde, blieb außerhalb der Überlegung. In dieser Auffassung spielt die Tradition mit ihrem Blick in die Vergangenheit die entscheidende Rolle. Der Gläubige erlangt das Heil, in dem er sich an den Anfang zurückversetzt. Was früher war, ist fast ausschließlich normgebend.

Die Rolle, die bislang die Vergangenheit gespielt hat, fällt heute der Zukunft zu. Im wissenschaftlichen Bereich gibt es die neue Disziplin der Futurologie. Philosophisch hat Ernst Bloch den zukunftsorientierten Horizont der Hoffnung aufgezeigt. In der Theologie tritt der biblische Zukunftsgedanke in den Vordergrund. Auf Christus bezogen heißt dies etwa: er ist nicht Vergangenheit, er kommt aus der Zukunft auf uns zu. Ohne der Tradition und der Rückbesinnung auf die Anfänge entraten zu können, werden heute die Akzente von der Zukunft, von dem Neuen, dem Überraschenden her gesetzt. Damit fällt dem progressiven Typ, der es in der Kirche bislang so unendlich schwer hatte, eine neue Rolle zu. Ob man sie ihn spielen lässt, ist noch nicht ausgemacht.

Es ist von großer Wichtigkeit, die Konflikte in unseren Gemeinden auf diesem Hintergrund zu sehen. Sie entstehen nicht so sehr aus vordergründigen Motiven oder gar aus Bosheit, als vielmehr aus der unterschiedlichen Sicht, die man von der Aufgabe der Kirche hat. Diese unterschiedliche Sicht ist einerseits von psychologischen, andererseits von theologischen Faktoren abhängig (wobei nur diese jetzt herausgestellt werden sollen). Wenn wir die wichtigsten Konflikte auf eine einfache Formel bringen, können wir sagen: Die einen hegen die Befürchtung, die Kirche werde sich nicht schnell und gründlich genug wandeln, während die anderen von der Sorge getrieben werden, die Kirche könne sich allzu sehr verändern.

In beiden Fällen führt die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfüllung zu erheblichen Identitätskrisen, die bisweilen als äußerst bedrohlich empfunden werden. Für diesen Urkonflikt bietet sich eine Lösung an, die nur von einer dosierten Entwicklung ausgeht. Nach diesem Konzept suchte die nachkonziliare Kirche vorzugehen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass sie mit dieser Methode, die von manchen als Salamitaktik bezeichnet wird, beachtliche Erfolge errungen hat.

Vielleicht ist es nur auf diese Weise gelungen, die katholische Kirche in ein neues Fahrwasser zu bringen, ohne die Einheit ernstlich zu gefährden. Hier hat sicher auch Paul VI. seine besonderen Verdienste, Die Kirche als Institution ist vor einer Spaltung bewahrt geblieben. Dabei gibt es viele Kreise - sie befinden sich bezeichnenderweise unter den Konservativen -, die der Auffassung sind, die Kirchentrennung oder das Schisma seien innerlich bereits vollzogen. Nur hätten es die kirchlichen Amtsträger aus unverzeihlicher Schwäche bislang versäumt, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Sie müssten indes in klarer Sprache Irrlehren als solche bezeichnen und renitente Irrlehrer aus der kirchlichen Gemeinschaft verweisen.

Dieser radikale Weg zur innerkirchlichen Konfliktlösung, ist nicht sonderlich einfallsreich, da er in der Vergangenheit häufig genug beschritten wurde. Man wusste die Reinheit der Lehre und die Einheit der Gemeinschaft auf keine bessere Weise zu erhalten, als dass man sich auf Verurteilung und Exkommunikation einließ. Dass es sich aber hier nicht um eine spezifisch christliche Form der Konfliktlösung handelt, zeigen uns aufs deutlichste sogenannte Säuberungen oder Parteiausschlussverfahren. Von der Sozialpsychologie her handelt es sich um einen Vorgang, der fast zwangsläufig eintritt, wenn in einer Gemeinschaft irgendeine bedeutsame Abweichung von der üblichen Norm registriert wird. Bisweilen genügt es aber vollauf, den Abweichler so unter Druck zu setzen, dass er entweder resigniert oder aber selbst die Gemeinschaft verlässt. Dann herrscht wieder die von jeder Autorität und in jedem Gemeinwesen so bevorzugte Ruhe. Dass damit auch ein Substanzverlust eingetreten sein könnte, bleibt unreflektiert. Das Material, welches die Geschichte aus allen Bereichen liefert, ist so erdrückend, dass man sich keine andere Möglichkeit der Konfliktlösung als die des Ausschlusses vorstellen kann.

Nimmt man aber die Kirche und die Gemeinde als eine Gemeinschaft, die unter besonderen Aspekten gebildet wird, sollte dieser Mechanismus, nicht einfach hingenommen werden. Die Kirche ist gedacht als Zeichen der Einheit. Diese Einheit ist von so großer Wichtigkeit, dass das Auseinandergehen von Christen nur aus Schuld erklärlich wird: d. h. psychische, gesellschaftliche oder auch philosophische Unterschiede genügen einfach hin nicht, die Einheit aufzugeben. Diese Unterschiede sind oft nicht belanglos. Sie erschweren eine gegenseitige Verständigung ungemein. Gerade in der geistigen Durchdringung und Aneignung des Glaubens kann es zu großen Spannungen kommen. Karl Rahner, der diese Problematik für die Theologie untersucht, kommt verschiedentlich darauf zu sprechen, wie oft der gemeinsame Verständigungshorizont fehlt, das Lebensgefühl auseinander fällt, vielfältige Philosophien vorliegen.

Wenn man früher von der Voraussetzung ausgehen konnte,die Position des anderen zu kennen, so entfällt diese Voraussetzung heute weitgehend. Die dadurch bedingte gegenseitige Fremdheit wird zu einer schmerzlichen Erfahrung. Nur sehr vorschnelles Urteil kann davon ausgehen, die Position des anderen ohne weiteres verstanden zu haben. Ob also eine Theologie letztlich mit einer anderen übereinstimmt, lässt sich oft nicht im Augenblick feststellen. In diesen Fällen muss man sich damit begnügen, auf den eindeutigen Willen zum gemeinsamen Bekenntnis zu vertrauen. Das setzt voraus - und das meint Rahner im Hinblick auf andere Konfessionen im strengen Sinne - dass wir uns gegenseitig als Christen anerkennen." Genauer gesagt heißt das, wir müssen davon überzeugt sein, "daß Dialogpartner auf beiden Seiten in der Gnade Gottes leben, durch das heilige Pneuma Gottes ( den hl. Geist) wahrhaft gerechtfertigt und der göttlichen Natur teilhaftig sind."

Das sind Prinzipien, die für das ökumenische Gespräch zwischen den Kirchen längst Gültigkeit haben. Sie müssten nun auch auf das Verhältnis von Christen innerhalb ein und derselben Gemeinde angewendet werden. Das setzt aber voraus, dass ein differenziertes Bild von Einheit vorhanden ist, von einer Einheit, die nicht doch im geheimen von einer geistigen Uniformität ausgeht. Letztere ist vorhanden, wenn "von vorneherein der eigene Zugang zur Wirklichkeit als allgemeingültiger und möglicher angesehen wird" (R. Picker, Pluriformes Christentum, Wien 1970, S.101). In diesem Falle gibt es nur eine Sicherheit, nämlich die der Abkapselung oder Absonderung.

Die ökumenische Haltung geht davon aus, dass das, was uns eint, größer ist, als das, was uns trennt. Dass das, was uns eint, aber auch nicht mehr so leicht mit den gleichen Worten benannt werden kann, verschärft natürlich die Situation. Hier hilft, wie eben bereits gesagt, nur ein großes gegenseitiges Vertrauen. Dabei ist die formulierte Wahrheit nicht das erste und entscheidende. Die Wahrheit liegt nicht so sehr in der Lehre als vielmehr in der Glaubenserfahrung. Eine derartige Erfahrung wird aber nicht außerhalb eines Menschen gemacht. Wenn die Menschen unterschiedlich strukturiert sind, machen sie auch verschiedenartige Erfahrungen, selbst wenn der Anlass dazu der gleiche gewesen sein mag. Es kann also nicht darum gehen, alle auf die gleichen Erfahrungen festlegen zu wollen, als vielmehr die Glaubenserfahrungen aller für die Einheit fruchtbringend werden zu lassen. Die Andersartigkeit wird dann nicht zum Anlass sich zu entfremden und auseinander zu gehen, sondern sich gegenseitig zu bereichern.

Dieser Reichtum wird aber nur eingebracht, wenn die Gemeinden konfliktbereiter werden. Der sich etwa anbahnende Konflikt darf nicht als Schreckgespenst betrachtet werden. Er ist unvermeidlich, wenn die Gemeinde für alle Menschen da i st, für den Konservativen und den Progressiven. Dabei haben sich die, welche auf stärkere Veränderung drängen, von denen, die bewahren möchten, auf das Gewicht ihrer Argumente befragen zu lassen. Andererseits haben die Konservativen nicht das Recht, nur für das Leben der Gemeinschaft zu zulassen, was ohne Risiko durchgeführt werden kann. Das Problem in den Gemeinden liegt also weniger darin, dass es Konflikte gibt, als vielmehr darin, dass wir es nicht gelernt haben, sie in gegenseitiger Toleranz zu bewältigen.