Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1970

Oktober 1970
Kommune, Kibbuz oder Kloster?
„Die integrierte Gemeinde" in München
veröffentlicht in:
DER SONNTAG, Kirchenzeitung für das Bistum Limburg.
Der Besuch erfolgte vom 9.-11. Oktober 1970

  • Bericht über ein Symposion in 1972
  • INHALT
    Zu Gast bei einer neuartigen Gemeinde, die sich als Übertragung des Modells der ersten christlichen Gemeinden versteht.


    Quer durch München fährt mich der junge Mann, von Beruf Lehrer an einer Privatschule. Wir halten vor einer Art Villa, die vermutlich um die Jahrhundertwende erbaut wurde. Hier wohnt ein Teil der 120 Mitglieder zählenden integrierten Gemeinde, deren Gast ich für dieses Wochenende bin. Mit vierzig anderen Gästen wird mir die Gelegenheit geboten, Einblick in das Leben dieser neuartigen Gemeinschaft zu gewinnen. Die Villa ist eins der zwölf Häuser, in denen die Gemeindemitglieder zusammenwohnen, Männer, Frauen, Ehepaare, Kranke, Kinder und ältere Menschen. Ein Theologe, der unter der Woche in der freien Wirtschaft tätig ist, hat mir sein geschmackvoll eingerichtetes Appartement für die Nacht abgetreten. Neben ihm wohnt die Familie des Lehrers. Eine Kommune, möchte man meinen, nur mit dem Unterschied, daß jeder über sein Eigentum verfügt. Allerdings werden die Hausbewohner durch eine gemeinsame Küche versorgt. Neben den Kosten für Verpflegung und Miete führt jedes Mitglied monatlich 150 -200 Mark für die Aufgaben der Gemeinde ab. Manche geben weniger, manche geben das Mehrfache.

    Die Kinder sind an diesem Wochenende nicht bei ihren Eltern. Sie befinden sich in der Obhut von Betreuern. Die vorschulpflichtigen Kinder sind überdies während der Woche ganztägig auf der Säuglingsstation oder im Kindergarten, da die Mütter berufstätig sind und für die Gemeinde arbeiten. Hier ähnelt manches einem Kibbuz, wie wir es aus dem heutigen Israel kennen. Es gibt die Teams von Lehrern, Ärzten, Theologen, Wissenschaftlern und Künstlern. Ihrer Arbeit fehlt aber die wirtschaftliche und politische Ausrichtung.

    Die Ausrichtung ist spezifisch christlich und bringt die Gemeinde eher in die Nähe einer klösterlichen Gemeinschaft. Manche haben Heimat und Beruf aufgegeben, um nach München zu ziehen und der Gemeinde beizutreten. Hier aber werden sie nicht in eine Kutte gesteckt. Jeder gibt sich, wie es ihm gefällt. So sieht man den Cheftheologen mit gepflegtem Beatle-Schopf und die Gattin des Komponisten im bunten Maxi. Es gehört zur Mentalität dieser Gemeinde hinzu, daß der einzelne nicht nur in seiner Individualität anerkannt, sondern geradezu gefördert wird. Jeder soll mit seiner ureigensten Begabung, mit all seinen Fähigkeiten, auch mit seinem Geschmack der Gemeinde dienen. Sie erwartet, daß er sich ihr ganz zur Verfügung stellt. Das Leben der Gemeinde vollzieht sich in radikal demokratischer Weise. In allen entscheidenden Fragen muß Einmütigkeit bestehen. Abgestimmt wird nur bei organisatorisch-technischen Angelegenheiten. Den Dienst der Leitung versieht eine Frau.

    Die Liturgie, wie sie gerade in Klöstern gepflegt wird, ist abgelöst durch das Fest, in dem die Gemeinde ihr Leben und ihre Erfahrungen überhöht. In dieses Fest werden auch die Gäste einbezogen. Sie lernen nicht nur moderne Gesänge, sondern auch einen besonderen Gemeinschaftstanz. Sie hören im Rahmen eines Oratoriums ein Stück für Orchester, Druckmaschine, Generator und Schreibmaschinen. Damit sind die Realitäten des Gemeindealltags künstlerisch aufgenommen. Dann sitzt man am Tisch und vollzieht in schlichter Form das Brotbrechen, das sich in einem vorzüglichen Mahl fortsetzt.

    Um was aber geht es diesen Menschen? Sie wollen der Herrschaft Gottes Raum geben in ihrer Mitte. Dazu bedarf es der Gemeinde, eines Gebildes, das nach Meinung dieser durchwegs jungen Menschen, eigentlich unmöglich ist. Sie sprechen in einer überraschend ungenierten Weise immer wieder davon, daß nur Gott ihre Gemeinschaft möglich macht. Diese allerdings betrachten sie als eine Verwirklichung der neuen Schöpfung. Jeder, der die Gemeinde näher kennenlernt, fragt sich: Ist dieses Modell auf die Kirche übertragbar? Es ist sicher nicht übertragbar, aber erschreckend beispielhaft.


    Hessischer Rundfunk Frankfurt/M.
    1. Hörfunkprogramm
    am 29. Februar 1972
    Redaktion: Norbert Kutschki

    Eine Gemeinde als Stachel für die Theologie
    Bericht über ein Symposion der Integrierten Gemeinde von München

    Mehr als eine theologische Tagung sollte das Symposion sein, zu dem die Integrierte Gemeinde von München Dozenten theologischer Fakultäten und Publizisten eingeladen hatte. Nach klassischem Vorbild - man denke an Platons Gastmahl - wurde dieses Symposion als eine Begegnung arrangiert, bei dem neben den Diskussionen und Gesprächen das festliche Mahl und musische Darbietungen einen gebührenden Platz einnahmen. In dieser Art von Zusammenkünften ist die Gemeinde, die mittlerweile auf 140 Personen angewachsen ist, kaum zu übertreffen.

    Mehr als 40 Gäste, darunter Theologen und Publizisten von Rang und Namen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, versuchten sich in München und Urfeld am Walchensee einen Eindruck von dieser Gemeinschaft zu verschaffen. Den roten Faden für die geistige Auseinandersetzung der Tage bildete die Frage nach der Nähe des eschatologischen Heils. Wie steht es um das Kommen der Herrschaft Gottes? Ist Heil bereits jetzt konkret erfahrbar oder müssen wir damit bis nach dem Tode warten? Was ist mit der Naherwartung, die Jesus, Paulus und die ersten Gemeinden gehabt haben? Warum ist sie in der Kirche zur Fernerwartung geworden?

    Für die Integrierte Gemeinde zeigt sich das versprochene Heil mitten in ihrem Zusammenleben. Eine irgendwie geartete Hoffnung auf das Jenseits zählt sie nicht zum spezifisch Christlichen. Wo Menschen darauf setzen, daß die Herrschaft Gottes schon endgültig angebrochen ist, und ihr gesamtes Leben dafür gebrauchen lassen, die Nähe Gottes zu bezeugen, kommt es zu überraschenden Erfahrungen. Sie sollen nur in den biblischen Wundergeschichten eine Entsprechung haben, wo es heißt, daß Kranke gesund werden, Dämonen ausfahren, Gefangene frei und Arme reich werden, daß sogar Tote aufstehen. Das sind natürlich Behauptungen, die einen Theologen in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Solche Behauptungen sind zwar aus dem Neuen Testament bekannt, werden aber von heutigen Gemeinden niemals wiederholt, ohne daß ein homerisches Gelächter einsetzte. Die Integrierte Gemeinde wagt diese Behauptung den Theologen und Publizisten ins Angesicht.

    Die Wissenschaftler, einmal auf diese Gemeinde angesetzt, legten ihre kritischen Sonden an. Sie trugen Bedenken vor gegen eine einseitige Auslegung der biblischen Botschaft, gegen die Verkürzung der Eschatologie und die Unterschätzung der Tradition. Das mag für die Theologen der Gemeinde sehr hilfreich gewesen sein, die ja keineswegs behaupten, die gesamte Theologie für sich gepachtet zu haben. Man glaubt eher in eine "Marktlücke" vorgestoßen zu sein, die die große Theologie offen gelassen hat; daß nämlich die Theologie von den Glaubenserfahrungen der Gemeinde auszugehen hat und nicht im luftleeren Raum reflektieren kann. "Was ist", so wurde aus der Gemeinde gefragt, "ein Theologe ohne Gemeinde?"

    Die Dozenten und Professoren verstanden wohl, daß hier die Kritik der Gemeinde an ihrer Arbeit lag. Ein protestantischer Alttestamentler bezeichnete in einem Gespräch die Gemeinde als einen Stachel für die Theologie. Ein anderer Theologe, diesmal ein Neutestamentler, der den schärfsten Angriff gegen die Gemeinde gefahren hatte, meinte nach der Tagung: "Es müßte mehr solcher Gemeinden geben!" Damit hat er im Grunde das Problem der Integrierten Gemeinde aufgezeigt. Es fehlt ihr nicht an genialen, aber an kongenialen Gesprächspartnern, nämlich an anderen Gemeinden, die wissen, wovon die Münchner Gemeinde zu sprechen versucht.

    Die Theologen wollen wiederkommen. Wenn nicht alles trügt, werden auch die Publizisten nicht ausbleiben. Denn "wo ein Aas ist, da sammeln sich die Geier". Recht verstanden gibt es vielleicht so etwas wie eine eschatologische Witterung.