Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1996

die tageszeitung (taz)
15. Mai 1996

Staatsräson vor Menschenrecht

Der Europa-Referent von Pro Asyl, Leuninger:
Die Richter haben sich der Bonner Politik gebeugt

(Foto) Man kennt ihn als Anwalt von Recht- und Stimmlosen, als Europabeauftragten der Arbeitsgemeinschaft "Pro Asyl". Herbert Leuninger, katholischer Pfarrer, war 20 Jahre lang Ausländerreferent im Bischöflichen Ordinariat Limburg und hat 1986 die Flüchtlingsorganisation "Pro Asyl" mitbegründet, deren Sprecher er jahrelang war.

taz:
Ihre langjährige Kritik am neuen Asylrecht ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur heißen Luft erklärt worden.

Herbert Leuninger:
Rechtspolitisch gesehen stimmt das. Was aber die Wirklichkeit von Menschenrechten angeht, stimmt es natürlich nicht. Wir beurteilen die Entscheidung als eine taktische. Die Staatsräson wurde für wichtiger erachtet als der Erhalt des Menschenrechts auf Asyl. Das zeigt sich darin, daß die Richterinnen die Abschottungspolitik, die hinter dem Asylrecht steht, bestätigt haben.

In Ihren Augen sind die Bundesverfassungsrichter also Hättet der Politik und nicht die Hüter der Grundwerte der Verfassung.

Bei der viertägigen Anhörung beim Gericht mußten wir damit rechnen, daß es beachtliche Korrekturen an der Drittstaatenregelung und dem Flughafenverfahren anbringen würde. Das ist aber nicht geschehen. Lediglich das Flughafenverfahren wurde mit nur fünf zu drei Stimmen aufrechterhalten. Im Hintergrund muß eine metapolitische Debatte gelaufen sein, die die Richter sehr beeindruckt hat. Eine Debatte, die letztlich die pragmatischen Hinweise von Bundesinnenminister Manfred Kanther aufgenommen hat: daß nämlich durch eine Veränderung an der einen oder anderen Stelle das ganze sorgfältig geknüpfte Konzept zerstört werden könnte. Und daß, wenn das passiert, eine neue Diskussion über das Asylrecht aufbricht, die den mühsam ausbalancierten Frieden der Bundesrepublik in Gefahr brächte.

Hat die harte Kritik gegen vorangegangene Entscheidungen und die Drohung der CDU, gegebenenfalls das gesamte Asylrecht aus der Verfassung zu streichen, die Richter beeinflußt?

Ja. Wie will das Gericht eigentlich eine solch konzertierte Angriffssituation auf Dauer aushalten, ohne in die totale Isolierung zu geraten? Ich meine das nicht als psychologische Entlastung, sondern ich spreche das aus unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung, die die politischen Kräfte gegenüber dem Bundesverfassungsgericht haben.

Seit der Geltung des neuen Asylrechts gab es nachweisbare Fälle von Kettenabschiebungen. Wie bewerten Sie, daß das Bundesverfassungsgericht diese Fälle nicht zum Anlaß nahm, Korrekturen an der Drittstaatenregelung vorzunehmen?


Hier komme ich noch mal auf den Begriff der Staatsräson zurück, der ja nicht nur ein total negativer ist. Hier offenbart sich eine Grundhaltung, die es auch in den vergangenen Jahren beim Gericht gegeben hat. Nämlich der Vertrauensvorschuß, den das Bundesverfassungsgericht anderen Staaten hinsichtlich deren Rechtsstaatlichkeit und ihrer Einbindung in internationales und europäisches Menschenrecht gibt. Was diesen Aspekt angeht, so hat das Gericht bei seiner sehr späten Entscheidung - wir haben eine solche ja bereits vor zwei Jahren erwartet - auch auf die Zeit gesetzt und darauf, daß sich in den betroffenen Ländern Mittel- und Osteuropas ein gewisser Konsolidierungseffekt zeigen wird.

Zu Recht?

Mittel- und längerfristig vielleicht. In Polen und der Tschechischen Republik sind noch fünf Jahre anzusetzen, bis Strukturen entwickelt sind, die vergleichbar sind mit bisher gültigen Standards in Europa. Die anderen Staaten wie die baltischen, die Ukraine, Weißrußland und so weiter werden vielleicht, wenn sie den Weg zu demokratischen Rechtsstrukturen unbehindert gehen können, in zehn Jahren auf einem Niveau sein, das mit dem, was wir unter Sicherheit verstehen, kompatibel ist.


Nach diesem Urteil dürfte es für Menschenrechtsorganisationen schwer werden, für die Interessen von Flüchtlingen zu werben. Künftig wird man Ihrer Kritik immer entgegenhalten, daß das Bundesverfassungsgericht das geltende Recht und damit auch die Sicherheit von Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, abgesegnet hat.


Ja. Die Absegnung durch das Oberste Gericht stärkt in einer ganz ungewöhnlichen Weise - und das ist in einem Rechtsstaat durchaus auch verstehbar - die Kräfte, die den Asylkompromiß mit schlechtem Gewissen produziert haben. Sie dürfen sich jetzt entlastet fühlen. Und das waren viele nicht. Sie spürten, da stimmt etwas nicht, und es bestand lange eine sehr große Angst, auch in konservativen Kreisen, daß das Bundesverfassungsgericht eine Änderung vornehmen könnte.


Was bedeutet das Urteil für die Arbeit auf europäischer Ebene?


Auch hier gilt, daß diese erschwert ist. In den vergangenen zwei Jahren habe ich gelernt, daß Deutschland eine ungewöhnlich starke Rolle in der Formulierung der Abschottungspolitik in Europa hat. Andere vergleichbare Staaten wie Österreich, die Schweiz, Frankreich und Schweden orientieren sich sehr stark an der Bundesrepublik, und diese spielt bei internationalen Konferenzen eine sehr restriktive Rolle, auf die sich die anderen nicht nur wohl oder übel, sondern in vielen Fällen auch gern einlassen.


Der innenpolitische Sprecher der CDU, Herr Marschewski, sagte kurz nach der Urteilsverkündung, wir haben das liberalste Asylrecht der ganzen Welt.


Das ist ein Mythos, der nicht stimmt. Andere Länder haben gleiche oder günstigere Standards. Wir hatten bis 1992 das großzügigste Recht. Das haben wir geopfert. Für uns ist eine solche Formulierung von einem verantwortlichen Politiker ein unverantwortlicher Zynismus.

Interview: Julia Albrecht