Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1995

1. August 1995
Leserbrief für
journal Frankfurt
Reduktion des Menschseins

Das Leben retten und die Zukunft verlieren, das ist das Schicksal vieler, vielleicht der meisten Flüchtlinge. Sie bezahlen einen hohen Preis für die Flucht. Er zehrt an ihrer Substanz. Dies beginnt mit Verlusten, die nie mehr ausgeglichen werden können. Es ist die Aufgabe der Heimat mit Familie, Nachbarinnen und Freundinnen. Beruf, Arbeit, Einkommen und Besitz gehen unwiederbringlich verloren. Eine Reduktion des Menschseins ist die Folge.

Sie verschlimmert sich im Land des Asyls. Die Muttersprache, die besondere Weise zu denken und zu fühlen, das von der Kultur geprägte Verhalten passen nicht mehr in die neuen Verhältnisse. Sich nicht mehr wirklich verständigen zu können, völlig abhängig zu werden von den Behörden, sich versorgen lassen zu müssen, das nagt am Selbstwertgefühl. Landsleute, Rechtsanwältinnen und Sozialarbeiterinnen können die fehlende Selbstbestimmung nur zum Teil ausgleichen. Die Gefahr auf Dauer abhängig zu werden, ist groß.

Wer diese Phase - und sie ist gemeinhin Asylgeschick - übersteht, ohne an seiner Seele Schaden zu nehmen, muß ein starke Persönlichkeit sein.

Nähme eine Gesellschaft diese Gefährdung des Flüchtlings wahr, müßte sie versuchen, sie zumindest zu mildern.

Die Bundesrepublik macht aber genau das Gegenteil. Sie steigert das Risiko dauernder seelischer Schäden. Das geschieht durch die zermürbende Ungewißheit für abgelehnte Asylbewerber aus den Krisengebieten der Welt. Sie werden nur "geduldet", die drohende Abschiebung ist für eine gewisse Zeit ausgesetzt. Eine Lebensplanung wird unmöglich. Deutschland hat sich außerdem ein Instrumentarium der Abschreckung geschaffen, das ständig verfeinert wurde. Unterbringung in Lagern, Versorgung unter der Armutsgrenze und ein verminderter Rechtschutz soll Menschen den Anreiz nehmen, nach Deutschland zu fliehen. Die Reduktion des Menschseins wird zum Prinzip.