Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL
Grenze dicht - Problem gelöst?
Nach der Asylrechtsänderung in Deutschland sind die Grenzen für Flüchtlinge fast unüberwindbar

INHALT

Bundesinnenminister Manfred Kanther ist immer noch nicht zufrieden. Zwar sieht er es als einen grof3en Erfolg an, daß die Zahl der Asylsuchenden im vergangenen Jahr erheblich gesunken ist, trotzdem liegt für ihn die Zahl der Flüchtlinge, die 1994 einen Asylantrag gestellt haben, „auf einem zu hohen Niveau". Im abgelaufenen Jahr wurden 127 000 neue Antragsteller registriert. Das sind 60 Prozent weniger als im Jahre 1993.

In der Bundesrepublik ist seit dem 1. Juli 1993 ein neues Asylrecht in Kraft. Dazu wurde mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages die Verfassung geändert und wurden mit einfacher Mehrheit Begleitgesetze verabschiedet. Die Folgen sind einschneidend.

Rundherum lauter „sichere Drittländer"

Deutschland ist jetzt von lauter „sicheren Drittländern" umgeben. Sichere Drittländer sind alle EU-Staaten, die skandinavischen Länder, Osterreich, die Schweiz, Polen und die Tschechische Republik. Ein Flüchtling, der durch einen dieser Staaten in die Bundesrepublik einreist, kann keinen Asylantrag mehr stellen. Das Gesetz geht davon aus, er sei in dem Nachbarland sicher vor Verfolgung. Um noch einen Asylantrag stellen zu können, muß ein Flüchtling illegal oder auf dem Luftweg einreisen. Um zu verhindern, daß Menschen versuchen die deutschen Grenzen heimlich zu überschreiten, wurden die Grenzsicherungen erheblich verstärkt. Der Bundesgrenzschutz - so heißt es in einem Bericht der Bundesregierung - operiert an den Ostgrenzen in zwei gestaffelten Linien. Die Zahl der Diensthunde wurde auf 200 erhöht. Neben Spähhubschraubern werden im verstärkten Umfang Infrarotgeräte eingesetzt. Sie stammen aus Bestanden der früheren DDR-Armee. 14 Menschen sind nach Angaben der Grenzbehörden seit Jahresbeginn in der Oder und Neiße ertrunken. Nach offizieller Darstellung ereignen sich solche Unfälle, wenn Tausende von Menschen Gewässer zu überqueren versuchen.

Geflohen vor dem Krieg: Flüchtlinge aus Bosnien vor dem Haus der Caritas in Belgrad.

Tausenden wird an den Land- und Seegrenzen die Einreise trotz eines Asylgesuches verweigert, weil sie aus einem sicheren Drittstaat kommen. Abertausende Menschen werden an den Grenzen zurückgewiesen oder zurückgeschoben. Wer von ihnen einen Asylschutz oder wenigstens einen Schutz als Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtling hatte beanspruchen können, ist da gegen nicht bekannt.

Damit die Nachbarländer Flüchtlinge wieder zurücknehmen, müssen eigene Vertrage mit ihnen abgeschlossen werden. Dies führt bei osteuropäischen Ländern - mit der finanziellen Unterstützung Deutschlands - zu ähnlichen Abschottungsmaßnahmen. Polen hat Rücknahmeabkommen mit der Tschechischen und Slowenischen Republik, mit Rumänien, Bulgarien, den baltischen Ländern und der Ukraine. Weitere Abkommen sind mit Ungarn, Österreich und Weißruß1and vorgesehen. Ungarn hat in den Jahren 1992/93 zwei Millionen Menschen an den Grenzen zurückgewiesen und in 1993 16.357 Personen ausgewiesen. Zur Situation von Flüchtlingen in Rußland teilt der Hohe Flüchtlingskommissar mit, daß Asylsuchende weder eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten noch in irgendeiner Form Schutz genießen. Sie werden vielmehr als illegale Ausländer eingestuft und sind nicht vor Abschiebungen ins Heimatland geschützt. Wir haben es hier mit dem befürchteten Domino-Effekt zu tun.

Osteuropa ist zum Hinterhof der europäischen Asylpolitik geworden. In diesem Raum leben Hunderttausende Menschen, die keinen Flüchtlingsschutz genießen und sich in einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand befinden. Wir stehen damit in Europa vor dem Zusammenbruch des internationalen Asylrechts, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention zu garantieren versuchte.

Beschleunigung um jeden Preis

Das „Herzstuck" des Asylverfahrens ist die Anhörung. Deswegen müßte bei ihrer Gestaltung das größte Gewicht auf sorgfaltige und möglichst erschöpfende Aufklärung gelegt werden, die sich am Grundrecht auf Asyl und am Menschenrechtsschutz orientiert.

Die Anhörungsprotokolle und die Asylbescheide lassen aber das Urteil zu, daß in ungezählten Fallen die Antragsteller nicht ausreichend befragt wurden. Bei vielen Protokollen wird deutlich, daß voreingenommen und zu Lasten der Antragsteller gefragt und entschieden wurde. So wird z. B. bei Kurden aus der Türkei, wenn sie Folterungen angeben, weder nach Einzelheiten noch nach Folterspuren am Körper gefragt. Werden Aussagen bezweifelt, unterbleibt die Nachfrage nach Zeugen. Sind Zeugen benannt, werden sie so gut wie nie gehört. Bei Anträgen, die als „offensichtlich unbegründet" abgelehnt werden, betragt die Klagefrist eine Woche, die Frist für den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ebenfalls eine Woche und die Frist für die Begründung eine Woche. Ein qualifizierter Anwalt kann - von Ausnahmen abgesehen einem Flüchtling innerhalb dieses Zeitraums keinen Termin für eine gründliche Befragung mit einem Dolmetscher geben. Ein effektiver Rechtsschutz ist unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.

Als eines der Begleitgesetze hat der Bundestag das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet. Während bisher die Leistungen der Sozialhilfe für die Asylbewerber durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt waren, wird nun für Asylbewerber im ersten Jahr ein eigenes Gesetz geschaffen. Dabei ist eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen für sie vorgesehen. Der Flüchtling soll im Regelfall nicht durch Geld, sondern durch Sachleistungen versorgt werden. Damit wird eine bestimmte Gruppe aus der allgemeinen sozialrechtlichen Versorgung ausgegrenzt, und zwar zum Zwecke der Abschreckung und der Kostenersparnis.

Im Knast auf die Abschiebung warten

Ein weiterer Schwerpunkt der neuen Asylpolitik ist die verschärfte Abschiebung. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten, aus humanitären Gründen ein Bleiberecht zu erhalten, drastisch beschnitten worden. Die Abschiebungen erhöhten sich von 1990 mit 5 861 bis 1993 mit 36 358 um das Sechsfache. Um besser abschieben zu können, werden Flüchtlinge, bei denen die Vermutung besteht, daß sie sich einer Abschiebung entziehen wollen, inhaftiert. Der Freiheitsentzug wird zu schnell, zu häufig und über einen zu langen Zeitraum angewendet.

Das Gesetz sieht die Schaffung eigener Abschiebehaftanstalten vor. Soweit sie - wie gerade in Nordrhein-Westfalen - geschaffen wurden, erfüllen sic nicht einmal den Mindeststandard, wie er im normalen Strafvollzug immer noch gilt. Zur Bewachung wird Personal eingesetzt, daß für diese Aufgabe keinerlei Voraussetzung hat. Es fehlt an Sozialdiensten, Dolmetschern und den Möglichkeiten der Hafterleichterung. Auch verfugen die Flüchtlinge über kein Geld für Telefon oder Genußmittel. Es ist ihnen kaum möglich, mit Familienangehörigen oder sozialen Diensten Kontakt zu halten. Besonders bedenklich ist es, daß es den Flüchtlingen praktisch verwehrt ist, durch Anwälte ihre Rechte zu verteidigen. In den letzten Monaten ist es in diesen Hafthäusern, aber auch in Gefängnissen seitens der Abschiebegefangenen zu heftigen Protestaktionen gekommen. Sie müssen als Ausdruck großer Verzweiflung betrachtet werden. Flüchtlinge, die nichts anderes „verbrochen" haben, als einen Asylantrag zu stellen und keine Ausweispapiere zu besitzen, fühlen sich als Verbrecher eingesperrt und behandelt.

Flüchtlinge die neuen Feinde Europas?

Die Bundesrepublik versteht sich als Teil der „Festung Europa" mit dem Ziel, möglichst viele Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisenländern des eigenen, erst recht aber anderer Kontinente daran zu hindern, nach (West-)Europa zu gelangen. Auf den Punkt gebracht hat es für sein Land und auch für Europa der ehemalige französische Staatspräsident Valery Giscard d'Estaing: Frankreich stehe nicht mehr der Immigration, sondern der „Invasion" gegenüber. Die Feinde Europas sind damit wehrlose Flüchtlinge, denen „wahrhafte" Demokratien den Zugang mit Recht und Gewalt zu versperren suchen. Vieles deutet darauf hin, daß der Flüchtling der Zukunft der „Rechtlose" schlechthin ist, der „Illegale", den es abzuwehren gilt.

Kirchenasyl für Flüchtlinge

Nahezu 31 Prozent aller Asylbewerber, die im vergangenen Jahr einen Asylantrag gestellt haben, kamen aus dem Hexenkessel des ehemaligen Jugoslawien. Zu weiteren Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen gehörten die Kriegsund Krisenländer Türkei, Afghanistan, Sri Lanka und Algerien. Flüchtlinge aus diesen Ländern stellten 25 Prozent der Asylbewerber. Schon daran wird deutlich, daß das neue Asylrecht nicht gegen irgendeine Zuwanderung, sondern gegen schutzwürdige Menschen gerichtet ist. Immer häufiger wird Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, Kirchenasyl gewährt. Dies ist ein Anzeichen dafür, daß Recht und Menschlichkeit in der Bundesrepublik auseinanderdriften. Leider ist in der ganzen Diskussion, die in den letzten Jahren um das Asylrecht geführt wurde, die Stimme der Weltkirche unberücksichtigt geblieben. Der Vatikan hatte am 2. Oktober 1993 ein Dokument zur Weltflüchtlingsfrage herausgegeben. Dies mußte damals als eine Stellungnahme gewertet werden, die sich auf die aktuellen Diskussionen in allen Zufluchtsländern, nicht zuletzt in der Bundesrepublik, bezog.

Rom kritisiert, daß einige Staaten die Kriterien für die Einlösung internationaler Verpflichtungen willkürlich bestimmten, daß Länder, die bisher zu einer großzügigen Aufnahme von Flüchtlingen bereit gewesen seien, politische Entscheidungen träfen, um die Zahl der Asylsuchenden möglichst niedrig zu halten und Anträge auf Asyl zu erschweren, und daß möglicherweise niedergelegte Mauem an anderer Stelle neu aufgebaut würden. Rom fordert sogar eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs. Die internationalen Abkommen müßten überarbeitet werden, und „der Schutz, den sie garantieren, muß auch auf andere Gruppen ausgedehnt werden". Diese Erweiterung ergebe sich aus der Analyse der politischen Instabilität, die auf „die Armut, die Ungleichheit in der Verteilung von lebenswichtigen Ressourcen, die Auslandsschulden, galoppierende Inflation, strukturelle wirtschaftliche Abhängigkeit" zurückzuführen sei. Rom ist immer da, wo es um soziale Fragen geht, ziemlich progressiv. In der Flüchtlingsfrage ist Rom der Deutschen Bischofskonferenz, die dem unsäglichen Asylkompromiß von CDU/CSU, FDP und SPD ihren Segen gegeben hatte, sogar meilenweit voraus.

Artikel in: Caritas in NRW, Zeitschrift der Diözesan-Caritas-Verbände Aachen - Essen - Köln - Münster - Paderborn, März 1/95, S. 10


Untitled Document