Herbert Leuninger   ARCHIV ASYL
1992

Friedenshearing 1992

"Fluchtpunkt Wiesbaden"

Ein Zielpunkt von Wanderungsbewegungen aus Ost und Süd


veröffentlicht in:
WIESBADENER FRIEDENSHEFTE NR. 8 - FRIEDENSHEARING 1992
Dokumentation der Veranstaltung der Stadtverordnetenversammlung
am 19. 9. 1992 im Rathaus Wiesbaden, S, 24-28

   

 

Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Desaster und Verteilungskämpfen auf der einen und dem Diskriminierungsdruck auf der anderen Seite ist entscheidend für die Flucht eines Teils der Menschen, die jetzt in die Bundesrepublik kommen.

Herr Stadtverordnetenvorsteher
(Günter Retzlaff)
,
meine Damen und Herren!

Ich begrüße es außerordentlich, daß wir in einer gewissen emotionalen und intellektuellen Ruhe heute morgen miteinander sprechen können über Hintergründe, über Ursachen, und nicht nur und vielleicht eigentlich gar nicht in erster Linie über die nun anstehenden politischen Entscheidungen. Das ist ja dann mehr dem Nachmittag vorbehalten.

Natürlich reizt es mich kolossal, auf das unmittelbar zu antworten, was Herr Gerster (Johannes, MdB, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) aus seiner Perspektive gesagt hat, aber ich denke. Sie wissen, wie Pro Asyl in der Öffentlichkeit dazu steht und ich möchte daher lieber die Chance nutzen, um in einem begrenzten Vermittlungsziel die Ursachenproblematik in den Vordergrund zu stellen. Ich möchte in diesem einleitenden Statement nur versuchen, den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings als Scheinasylanten zu relativieren.

Aber, um der Bitte des Stadtverordnetenvorstehers nachzukommen, kurz etwas zu Pro Asyl. Pro Asyl ist vor 6 Jahren gegründet worden, und zwar in Absprache mit dem. Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen unter dem Gesichtspunkt, daß wir wahrscheinlich bei der Verschärfung der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um die Flüchtlinge in der Bundesrepublik auf Bundesebene ein kleines Gremium brauchen, das sich zusammensetzt aus Vertretern der verschiedensten Flüchtlingsinitiativen und auch aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen mit dem Ziel, sehr schnell und aktuell in den politischen Diskurs eingreifen zu können.

Die erste und wichtigste Aufgabe von Pro Asyl war es dann seinerzeit, den "Tag des Flüchtlings" zu befördern und in dem Zusammenhang auch möglichst viel an Informationen, gerade auch an Hintergrundinformationen, weiterzugeben. Was sich in den 6 Jahren entwickelt hat, ist eine sehr eindrucksvolle, nicht durch uns animierte, sondern aus der Bevölkerung, aus der Bürgerrechtsbewegung herauskommende Solidarität mit Flüchtlingen. Eine Solidarität, die für mich, nachdem ich nun über dreißig Jahre Pfarrer in der katholischen Kirche bin, das Bewegendste ist, was ich kennengelernt habe an Solidarität mit Fremden.

Wir sehen unsere Aufgabe darin, auf der Bundesebene diesen Initiativen, die sehr locker auf der Landesebene miteinander vernetzt sind, eine gewisse Dienstfunktion zu leisten, was die Vermittlung von Informationen und die Animation von Aktivitäten angeht. Derzeit geht es um den Erhalt des Grundgesetzes und dabei um die Ermutigung, trotz eines ungeheuren Widerstandes von Politik, Gesellschaft und Bevölkerung Stand zu halten in der Solidarität, humanitäre Standards nicht aufzugeben, und auch nicht populistischen Strömungen nachzugeben. Das vielleicht kurz zu Pro Asyl.

Nun aber zu dem, was ich in kurzer Form als Diskussionsbeitrag vermitteln möchte, beginnend mit dem, was in der Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung vom September 1990 steht.

Die Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung sagt, die Ursachen der Fluchtbewegungen sind weitgehend identisch mit den großen politischen Fragen unserer Zeit, nämlich mit der wirtschaftlichen Unterentwicklung, d.h. mit dem West-Ost/Nord-Süd-Gefälle, dann mit der Überbevölkerung, mit der sehr starken Zunahme der Bevölkerung in der Welt, und schließlich mit den ökologischen Krisen.

Ich denke, daß der Deutsche Umwelttag in Frankfurt diesen Hintergrund sehr deutlich machen wird. Dann heißt es weiter in der Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung, daß Menschenrechtsverletzungen, Intoleranz, Gewaltanwendungen, Krieg und Bürgerkrieg dann eben auch zu den Ursachen dieser Fluchtbewegungen gehören.

Nun möchte ich den analytischen Zusammenhang herstellen zwischen den wirtschaftlich-ökologischen, demographischen Entwicklungen einerseits und zwischen den Menschenrechtsverletzungen, der Diskriminierung, der Unterdrückung und der Vertreibung andererseits. Denn wenn man in der politischen Diskussion diesen Zusammenhang nicht herstellt, kommt es eben zu äußerst schiefen, für die Politik und für die Menschen dann sehr bedenklichen Schlussfolgerungen.

Eine weitere regierungsnahe Stellungnahme ist das Memorandum zur Weltflüchtlingsproblematik des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1989, ein Memorandum, das leider in der Öffentlichkeit keine große Aufmerksamkeit gefunden hat. Da wird nämlich gesagt, daß die Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und der völlig neuen und künftig wahrscheinlich noch bedeutsameren Kategorie der Umweltflüchtlinge, schließlich dann der Wirtschaftsflüchtlinge, sehr problematisch ist. Denn, darauf verweist dieses Memorandum, die Dialektik von politischer Gewalt und der Mißachtung von Menschenrechten einerseits, und die ökonomisch-sozialen Probleme andererseits seien doch wohl allzu bekannt.

Um Ihnen dies aktuell zu verdeutlichen, verweise ich auf den Hilferuf, den dieser Tage der Makedonische Innenminister in Genf an die Welt gerichtet hat, was sein Land im Süden des ehemaligen Jugoslawien angeht. Er befürchtet nämlich, daß die Wirtschaft des Landes vor einem Zusammenbruch steht, und - jetzt kommt der entscheidende Zusammenhang mit dem, was ich sagen möchte - daß der Konsens zwischen den Bevölkerungsgruppen diesen wirtschaftlichen Belastungen nicht mehr standhält. Er sagt dann, ethnische Toleranz sei eigentlich in Makedonien eine Selbstverständlichkeit und größer als in anderen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien. Und zählt dann die ethnische Zusammensetzung von Makedonien auf: Das sind 68 % Makedonier slawischer Ethnizität, dann 25 % Albaner, 5 % Türken und 2 % Serben, d.h. also auch eine multi-ethnisch zusammengesetzte Gemeinschaft.

Was er nicht erwähnt, und was für Südosteuropa eine der ganz großen ethnischen Schwierigkeiten bedeutet, er erwähnt nicht die sicher auch dort gerade in der Nähe von Skopje lebenden vielen Tausend Roma, die in dieser Verteilungsauseinandersetzung Südosteuropas die Gruppe sind, die am stärksten unter Diskriminierungs- und Vertreibungsdruck geraten. Und die hier an der Grenze zur Tschechoslowakei und zu Polen vom Bundesgrenzschutz, und wenn die Forderungen des Vorsitzenden der CDU von Hessen, Manfred Kanther, sich durchsetzen, auch künftig durch Bundeswehrsoldaten gefaßt und wieder zurückgeschickt werden.

Nun sagt der makedonische Innenminister, wenn sich die Lebensbedingungen in seinem Land nicht verbessern, drastisch verbessern, werde jede Volksgemeinschaft den Sündenbock in der anderen Volksgemeinschaft suchen. In diesem Falle wäre es vor allem dann besonders schwierig für die Serben. Dieser Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Desaster und Verteilungskämpfen auf der einen Seite und dem Diskriminierungsdruck unter dem Gesichtspunkt der ethnischen Reinheit und der ethnischen Privilegien andererseits, das ist eigentlich der entscheidende Punkt für einen Teil der Flüchtlinge, die jetzt in die Bundesrepublik, in die Schweiz und nach Osterreich kommen, wobei bis 1991 - wie Frau Funcke (Liselotte, Dr., (FDP), ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen) gesagt hat. - die Schweiz, ich ergänze das für Osterreich und für 1990 auch für Schweden, auf die Bevölkerung bezogen, mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als die Bundesrepublik.

Bei dieser Analyse der Fluchtursachen, wird deutlich, daß Unterdrückung, Diskriminierung und der mangelnde Schutz durch die staatlichen Organe für bestimmte bedrohte Minderheiten natürlich der Grund ist für Flucht, nicht nur von einzelnen, sondern von ganzen Ethnien.

Wir haben die bedenkliche, aber auch die einmalige Chance, diese Dinge besser denn je zu verstehen und auch in den politischen Diskurs einzuführen, seit wir den Terror auf dem Balkan mit seinen ethnischen Säuberungen kennen, und seit wir in unserem Land spüren, daß diese Idee ethnischer Säuberungen im Rahmen nicht bestandener Verteilungskämpfe und Zukunftsfrustrationen zu pogromartigen Ausschreitungen führen.

Wer sich in diesen Wochen nicht stärker einsetzt in der Diskussion und auch bei politischen Maßnahmen zum Schutz der Menschen, die nun hier sind, der macht sich mitverantwortlich dafür, daß es der Polizei nicht gelingt, diesen Pogromen entsprechenden Widerstand entgegenzusetzen.

Nehmen wir eine Gruppe, die aus meiner Sicht die gefährdetste in Europa ist, und die gefährdetste auch künftig in der Bundesrepublik sein wird, die Roma, ob mit legaler oder illegaler Anwesenheit. Es gibt keine illegale Flucht, es gibt nur die Illegalität der Abwehr von Flucht.

Rumänien. Von dort sind bis jetzt wohl 40.000 Menschen gekommen. Den Prozentsatz derer, die sich dem Volk der Roma zuzählen, weiß ich nicht. Ich denke, es ist die Mehrheit. Untersuchungen, die es von dort gibt, auch von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, sprechen dort von pogromartigen Ausschreitungen. Ich darf nur zwei Dinge der letzten Tage erwähnen, der Feldschützer, der zwei Roma erschossen hat, weil sie Äpfel aufgelesen oder vielleicht sogar "geklaut" haben. Und die Tatsache und hier komme ich auf eine andere Minderheit zu sprechen, nämlich auf die ungarisch-stämmige Minderheit, die auch unter Diskriminierungsdruck leidet, so daß ihr Bischof sich in einen Hungerstreik begeben hat.

Die Verteilungskämpfe in Rumänien, die nicht aufgearbeitete Vergangenheit und eine gewisse Freiheit führen zu einer Hemmungslosigkeit der Angriffe gegenüber Roma, die wir in ähnlicher Form auch hier erleben.

Wer diesen Zusammenhang verdrängt oder ihm seine menschliche, politische und soziale Bedeutung nicht zuerkennt, verkürzt die Auseinandersetzung unerträglich.

Ich möchte diese Einführung beschließen mit dem, was der Bundespräsident (Richard von Weizsäcker) gestern zur Eröffnung des Deutschen Umwelttages gesagt hat. Es gehe darum, die eigene umweltzerstörende Lebensweise bei uns zu ändern und zu einem Wohlstandsmodell zu kommen, das umweltverträglich ist für die ganze WeItbevölkerung von 5 bis 10 Milliarden.

Was der Bundespräsident da gefordert hat, zeigt wir wirklichen Prioritäten auf; ich will nicht ablenken, sondern ich möchte Sie noch einmal auf die eigentlichen Prioritäten hinweisen, und diese Prioritäten sind n i c h t die Flüchtlinge, Priorität hat die Frage, wie wir künftigen Generationen diesen Globus erhalten.

Und die zweitwichtigste Frage ist, wie wir hier in Deutschland die Einheit so vollziehen, daß es nicht zu einem unerträglichen Gefälle zwischen Ost und West kommt. Was der Bundespräsident hier gefordert hat, stellt alles in den Schatten, was uns bisher abverlangt wird. Macht die Frage der Aufnahme von 1 Million Menschen nicht gerade zu einer Kleinigkeit, das will ich nicht sagen, aber in der Prioritätenliste zu einer Frage, die relativ weit unten rangiert und nicht - wie die Politik uns derzeit vermittelt - ganz oben.

Das, was der Bundespräsident fordert, möchte ich unter den Titel der Veröffentlichung des Club of Rome sehen: Er fordert eine globale Revolution, die bei uns anfängt. Und wenn das, was der Bundespräsident wirklich fordert, ernst genommen würde, hätten wir an dieser Stelle den eigentlichen Aufruhr. Denn das würde einen Einschnitt bedeuten, den die Menschen, die sich jetzt gegen Flüchtlinge wehren, bisher nicht gespürt haben. 200 Milliarden, die die Wiedervereinigung jährlich kostet, gegenüber den hochgerechneten 10 Milliarden, die die Flüchtlinge kosten, ist dabei ein gewisser Vergleich über die Priorität unserer Aufgaben.

Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

veröffentlicht in: WIESBADENER FRIEDENSHEFTE NR. 8 - FRIEDENSHEARING 1992 - Dokumentation der Veranstaltung der Stadtverordnetenversammlung am 19. 9. 1992 im Rathaus Wiesbaden, S, 24-28