Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL
1991

3. November 1991
Zeitschriftenartikel für
Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte

ARTIKEL 16 GRUNDGESETZ ALS MENSCHENRECHT

(von der Redaktion nicht angenommen)

INHALT
Wir stehen vor der Situation, daß Artikel 16 des Grundgesetzes ausgehöhlt ist und den Asylschutz, den es bieten soll, nur mehr eingeschränkt gewährt. Jetzt geht es darum, diesen Artikel in seiner Substanz zu treffen.

"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", so lautet lapidar Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 Grundgesetz und räumt damit dem staatlichen Schutz des Flüchtlings Verfassungsrang ein und zwar im Sinne eines individuellen, gerichtlich einklagbaren Grundrechts. Hintergrund ist nicht nur die Vorstellung von der grundsätzlich gleichen Würde jedes Menschen und seiner Schutzwürdigkeit. Noch stärker ist dieser Artikel nach einhelliger Auffassung eine historische Errungenschaft. Er wurde ohne Einschränkung und ohne gesetzlichen Vorbehalt in unsere Verfassung aufgenommen, und zwar in den zentralen, über jede tagespolitische Veränderung erhabenen Grundrechtsteil.

Artikel 16 unterscheidet sich damit z.B. wesentlich von Artikel 116, mit dem festgelegt wird, wer Deutscher ist. Dieser Artikel gehört nicht nur zu den Übergangs- und Schlußbestimmungen des Grundgesetzes, sondern ist ausdrücklich mit dem Zusatz "vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung" versehen und erhält damit das, was bei Artikel 16 durch eine substantielle Verfassungsänderung eingefügt werden müßte, nämlich den sogenannten Gesetzesvorbehalt. Daher kann der einfache Gesetzgeber bei Artikel 116 und zwar ohne ihn zu ändern ein Gesetz hierzu erlassen oder ein bereits vorhandenes modifizieren. Unkenntnis oder Taktik haben zu dem falschen Eindruck geführt, die Fragen um Artikel 116 und 16 seien in irgendeiner verfassungsrelevanten Weise miteinander vergleichbar oder gar kompatibel.

Die Eltern des Grundgesetzes haben mit Art. 16 eine moralische Konsequenz aus der nationalsozialistischen Diktatur ziehen wollen. Es war einerseits eine Art Dank an die Völkergemeinschaft für die Aufnahme von 800.000 Flüchtlingen aus Hitlerdeutschland, andererseits die eindeutige und als endgültig verstandene Absage an Diktatur, Diskriminierung, Folter, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen in Deutschland, schließlich auch ein nachhaltiger Protest gegen jedwede Gewaltherrschaft, wo in der Welt sie künftig auch ausgeübt werden sollte. Vielleicht könnte man in diesem Zusammenhang sagen, die Bundesrepublik habe mit diesem Artikel über alle geltenden Menschenrechtskonventionen hinaus einen neuen Standard gesetzt, indem sie einzelne Menschen nicht nur als Flüchtlinge aufnimmt und schützt, sondern ihre Aufnahme zu einem Recht ausgestaltet, das mit allen Rechtsweggarantien, die ein heutiger Rechtsstaat seinen Bürgern gewährt, versehen ist. Es wäre sicher eine der großen moralischen Aufgaben der Bundesrepublik aus ihrer Geschichte heraus in der Europäischen Gemeinschaft, ja in der internationalen Völkergemeinschaft auf ähnliche Regelungen Einfluß zu nehmen. Ein Erfolg hierbei wäre ein großer Fortschritt im Jahrhundert des Flüchtlings.

Bei den Verträgen von Schengen und Dublin, in denen es um die sogenannte Harmonisierung der Asylverfahren bestimmter Länder in der Europäischen Gemeinschaft ging, hat die Bundesregierung eine Harmonisierung nach unten betrieben. Sie hat nicht das geringste Interesse daran gezeigt, den durch das Grundgesetz geschaffenen menschenrechtlichen Standard in Europa durchzusetzen oder doch wenigstens diesen Standard für die Bundesrepublik nicht zu gefährden. Mit dem Argument, die anderen Länder dächten nicht daran, sich den Verpflichtungen von Artikel 16 anzunähern, und mit dem Hinweis in anderen Ländern abgelehnte Asylbewerber hätten durch Artikel 16 GG nach Herstellung der innereuropäischen Freizügigkeit das Recht noch einmal einen Asylantrag in der Bundesrepublik zu stellen, ging es nur darum Artikel 16 GG auszuhebeln.

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die einen bedeutenden Fortschritt für den Schutz von Flüchtlingen darstellt, unterscheidet sich in der Definition, was als politische Flucht anzusehen ist, grundsätzlich nicht von unserer Verfassung. Ihr Kern ist aber das sogenannte "non-refoulement", das heißt das Verbot, einen Flüchtling in das Land zurückzuschicken, in dem ihm aus begründeter Furcht politische Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugungen droht. Eine Prüfung, ob eine Verfolgungsgefahr besteht, muß aber auch nach der Genfer Konvention erfolgen; es kann demnach auch nicht einfachhin eine Abweisung an der Grenze erfolgen. Der eigentliche Unterschied liegt in dem durch das Grundgesetz geschaffenen subjektiven Recht und seinen rechtsstaatlichen Auswirkungen. Der politische Flüchtling hat nach dem Grundgesetz ein Recht auf Asyl und ein Recht auf die Überprüfbarkeit jeder behördlichen Entscheidung.

Nun erleben wir seit 1977 den kontinuierlichen Abbau des vollen grundgesetzlichen Anspruchs. Seit dieser Zeit wurden 30mal Gesetze, Erlasse und Verwaltungsvorschriften in restriktiver Weise geändert, ein in einem Rechtsstaat an sich undenkbarer Vorgang. Damit einher ging eine moralische Erosion, die sich Schritt für Schritt daran gewöhnte, daß nicht nur Grundrechte geschmälert werden dürfen, sondern auch die Menschenwürde - wie in dem Abschreckungskonzept - mißachtet werden kann.

Wir stehen demnach vor der Situation, daß Artikel 16 des Grundgesetzes ausgehöhlt ist und den Schutz, den es bieten soll, nur mehr eingeschränkt gewährt. Jetzt geht es darum, diesen Artikel in seiner Substanz zu treffen.

Nichts stärker als das Kommen der Flüchtlinge hat in den letzten Jahren die Frage nach dem Humanum aufgeworfen und danach, wie es mehrheitsfähig in einer Demokratie geschützt werden kann. Die politische Ethik hat, soweit sie sich über Parteien vermittelt, mit ihrer Antwort versagt. Es hat sich gegenüber Flüchtlingen ein Menschenbild durchgesetzt, das weitgehend sozialdarwinistische, rassistische und nationalistische Züge trägt. Dies zeugt von einem umfassenderen Wertewandel, als dies bisher gesehen oder auch akzeptiert wurde.

Hoyerswerda und die Pogromstimmung in der Bundesrepublik sind ein Menetekel. Die nur von Abwehr, Abschottung und Abschiebung bestimmte Asyldebatte hat im Rahmen einer diffusen Krisenstimmung in Ost und West die Asylbewerber als Sündenböcke definiert und sie damit der ungehemmten Aggressivität von Terror-Banden offeriert. Die Mitverantwortung hierfür tragen alle demokratischen Parteien, auch die Sozialdemokratie, die sich - wenigstens formell - gegen die Änderung von Artikel 16 ausspricht und gleichzeitig mit der Koalition zusammen Sammellager und Schnellverfahren beschließt. Dieser Kompromiß, brüchig wie ein jugoslawischer Waffenstillstand, ist so sehr von einer unmenschlichen Abwehrhaltung und partei- und wahltaktischen Überlegungen geprägt, daß weiterhin Angst sowohl um die Flüchtlinge, wie um das Grundrecht auf Asyl, ja um unseren Rechtsstaat angebracht ist.