Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL
1989

Freitag, 9. Juni 1989, 16:00 Uhr
23. Evangelischer Kirchentag in Berlin
Forum Konziliarer Prozess
"Welche Kirche suchen wir im konziliaren Prozess?"
Z e u g n i s s e

INHALT

  1. Persönliche Kontakte von Mensch zu Mensch
  2. Information über die Fluchtursachen und die Behandlung der Flüchtlinge in der Bundesrepublik
  3. Eine umfassende Ökumene erkennen und praktizieren
  4. Zusammenarbeit mit kirchlichen Werken, amnesty international, Bürgerintiativen...
  5. Politischer Einsatz auf lokaler, länderweiter, nationaler und internationaler Ebene
  6. Konsequenzen für den persönlichen Lebensstil

Ich bin 56 Jahre alt, seit 31 Jahren katholischer Priester, seit 1972 leitender Referent für Menschen nichtdeutscher Herkunft in der Kirchenverwaltung des Bischofs von Limburg. Zum Bistum Limburg gehören u.a. die Großstädte Frankfurt am Main und Wiesbaden. Vor fünf Jahren bin ich Mitglied der Friedensbewegung Pax Christi geworden; mit einer Verspätung von wenigstens 25 Jahren also; ein Trost, es gibt auch noch Lernprozesse jenseits der 50er. Mir war nämlich mittlerweile aufgegangen, daß die Solidarität mit den Fremden und Friedensarbeit zusammen gehören: d.h. es sollte auch um eine Überwindung der Feindbilder im eigenen Land und eine "Abrüstung" der Abwehrpolitik gegen Flüchtlinge gehen. Die Basisgruppe Hofheim von Pax Christi versteht sich mittlerweile als Solidaritätskreis Asyl. Er ist die Basis meiner Aktivitäten.

Vor vier Jahren habe ich Bischof Kamphaus gebeten, mich nur noch zu 50% als Referent zu beschäftigen. Die übrige Zeit wollte ich ehrenamtlich und möglichst frei von innerkirchlichen Zwängen und Zensuren mit und für Flüchtlinge tätig werden. Das hat dem Bischof gefallen und er hat gegen Widerstände der eigenen Verwaltung zugestimmt. Mittlerweile glaube ich, daß man nur dann in der Großkirche bleiben kann, oder besser gesagt, daß man nur dann sein Heil wirkt, wenn man mit einem Bein außerhalb des organisierten Kirchenbetriebs steht.

Die Stuttgarter Erklärung von 1988 zum "Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" enthält ein Handlungsmuster für die Gemeinden gegenüber den Fremden, insbesondere den Flüchtlingen. Ich will versuchen mein Verhalten und das meiner Gruppe daran zu überprüfen:

1. Persönliche Kontakte von Mensch zu Mensch

Mit weichen Knien sind wir vor vier Jahren in ein Wohnheim für Flüchtlinge gegangen. Wir haben uns bekannt gemacht und gesagt: „Wir wollen Sie besuchen und kennenlernen. Erst ungläubiges Erstaunen, dann Freude. Von diesen Moment an war das Eis gebrochen für alle Zeiten. Wir sind zehn Leute, beruflich arriviert, kirchliche Randgestalten, mit uns selbst noch lange nicht fertig, oft Fremde im eigenen Land. Wir haben die Grenze überschritten, die uns von den Flüchtlingen trennt. Dabei sind wir mehr zu uns selbst gekommen. Wir haben neue Freundinnen und Freunde gewonnen und sind mit vielen anderen so etwas wie gute Nachbarn.

Wir möchten uns nicht als die großen Helfer aufspielen, durch die andere Menschen abhängig werden könnten. Es sollte immer ein Miteinander und ein Austausch auf gleicher Ebene bleiben. Sich gegenseitig annehmen, stützen und bereichern!

Das geschieht auf vielfältige Weise, vor allem aber bei den Festen, die wir feiern, und zu denen wir uns gegenseitig einladen. Einmal sind wir Gastgeber, das andere Mal sind wir Gäste.

Wir trauern mit über Angehörige, die zwischenzeitlich verstorben oder im Krieg umgekommen sind, und bemühen uns unter dem Einsatz finanzieller und organisatorischer Mittel, die Zusammenführung von getrennten Familien zu erreichen. Wir teilen die Sorge um die schwere Erkrankung eines Kleinkindes und sind ratlos angesichts der Alkoholkrankheit eines jungen Freundes.

Natürlich sind wir auch in den verschiedensten Lebenssituationen gefragt, wo Flüchtlinge auf unser gesellschaftliches Know how, unseren Einfluß bei Behörden und Institutionen oder auch nur auf unsere Autos angewiesen sind. Wir füllen Formulare aus, die wir selbst kaum verstehen, und kämpfen mit den Behörden um die Anschaffung eins Koffers für einen Freund, der umzieht. Ziemlich hilflos sind wir aber z.B., wenn es darum geht, Wohnungen oder Arbeitsplätze zu finden.

2. Information über die Fluchtursachen und die Behandlung der Flüchtlinge in der Bundesrepublik

Wir erfahren bei unseren Kontakten, Treffen und Besuchen nach und nach manches der schweren Einzelschicksale dieser Menschen und informieren uns über die politischen Hintergründe der Flucht und die Situation des jeweiligen Heimatlandes.

Wir erleben das zermürbende Warten auf die Anerkennung als Flüchtlinge, die herbe Enttäuschung, wenn der Asylantrag abgelehnt wird. Wir fahren zusammen in Urlaub, obwohl der zuständige Landrat die Erlaubnis zum Überschreiten der Kreisgrenzen verweigert hat. Wir leiden unter dem entsetzlichen Wahlkampf der Hessischen CDU gegen Ausländer und Flüchtlinge. Wir sehen, welche verheerenden Auswirkungen das fünfjährige Arbeitsverbot für Asylbewerber auf die Psyche gerade der jungen Männer hat.

3. Eine umfassende Ökumene erkennen und praktizieren

Es gibt für uns keinen wichtigeren Platz, um zu erfahren, was Ökumene ist, als das Flüchtlingslager in Schwalbach, in der Nähe des Frankfurter Flughafens. Tausende Menschen aus aller Welt gehen für die ersten Aufnahmeprozeduren durch dieses Lager. Seit mehr als drei Jahren finden dort 14-tägig gemeinsame Gottesdienste statt mit Menschen aus zahlreichen Ländern und Nationen, aus allen Sprachen, Klassen und Religionen. Unsere einzige und wichtigste Botschaft dabei ist, das menschenfreundliche Willkommen Gottes auszusprechen. Es sind bewegende Stunden eines Kontaktes mit Fremden, die nach dem ersten unverstandenen Lied, nach dem mehrsprachigen Begrüßungswort, durch den Friedensgruß, bei einer Tasse Kaffee für eine kurze Zeit unsere Freunde werden. Wir spüren, daß wir hier richtig am Platz sind, daß es der Platz der Christen ist in einer gemeinsamen und unverbrüchlichen Verantwortung für die Menschheit und die Welt.

4. Zusammenarbeit mit kirchlichen Werken, amnesty international, Bürgerintiativen u. a.

Aus den gemeinsamen Gottesdiensten, an denen Hunderte von Christen aus der Umgebung des Lagers teilgenommen haben, erwächst eine gemeinsame Verantwortung für das Lager und für die Menschen, vor allem auch eine politische gegenüber der Landesregierung mit Interventionen, Demonstrationen und Pressekonferenzen, mit einzelnen Aktionen der Solidarität. Dabei geht diese Zusammenarbeit über den Kreis der Gemeinden und christlichen Gruppen hinaus. Es sind längst andere vor uns im Lager gewesen und wieder andere später dazu gestoßen. Und es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir zusammenarbeiten, grenzüberschreitend, was die Gruppen und Organisationen angeht.

5. Politischer Einsatz auf lokaler, länderweiter, nationaler und internationaler Ebene

Seit drei Jahren bin ich Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL. Das ist eine politische Arbeit vor allem mit Presseerklärungen, Interviews, Diskussionen, Tagungen, Flugblättern und Solidarisierungen. Allerdings fehlt so etwas wie ein formeller Auftrag durch die Betroffenen, durch die Flüchtlinge. Ich selbst fühle mich nur dadurch legitimiert, daß ich über PAX CHRISTI mit vielen Flüchtlingen befreundet bin und versuche, ein wenig an ihrem Schicksal teilzuhaben. Ich fühle mich zudem legitimiert durch unzählige Menschen, die oft stärker als ich eine tiefe und verläßliche Solidarität mit geflüchteten Menschen pflegen. Solange sie und die Flüchtlinge mit der Arbeit von PRO ASYL und meiner Rede in der Öffentlichkeit im Wesentlichen einverstanden sind, meine ich weitermachen zu dürfen. Es gibt für mich allerdings auch einen unentrinnbaren Auftrag aus dem Evangelium.

6. Konsequenzen für den persönlichen Lebensstil

Wir sind keine christliche Basisgemeinde im strengen Sinn geworden, wie ich es mir am Anfang erträumt hatte. Dafür sind die Voraussetzungen weder bei den Flüchtlinge noch bei uns gegeben. Was wir geworden sind...?

Irgendwann vor einiger Zeit sitzen wir mit eritreischen Eltern zusammen. Sie möchten einen Unterricht für ihre Kinder in der eigenen Muttersprache, in Tigrinia, einrichten. Wir bieten unsere Unterstützung an. Tesfai, noch nicht lange bei seiner Familie in der Bundesrepublik, ist offensichtlich davon beeindruckt und sagt uns in Englisch, wir seien mehr als humanitäre Helfer. Solche Helfer seien zwar für die Flüchtlinge dringend notwendig. Wir von PAX CHRISTI seien ihre Schwestern und Brüder, ihre Väter und Mütter. Uns verschlägt es fast die Sprache. Wir hätten uns niemals so eingeschätzt. Nur die Bibel ermutigt uns, es zu akzeptieren, immer mit der Frage: Wo bitte denn ist Kirche?

(mehr zu Pax Christi Hofheim)


"Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Erklärung von Stuttgart 1988
(Auszug)

2.3.1.3 Flüchtlinge

Die Flüchtlinge bei uns gehören zu den Opfern der andauernden Ungerechtigkeit und Unterdrückung in allen Teilen der Welt. Sie sind ständige, ja schmerzvolle Ermahnung und gleichzeitig auch Antrieb für uns, unseren Beitrag zum Abbau von Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu leisten.

Staatliches und kirchliches Handeln in den Bereichen von Wirtschafts-, Außen- und Entwicklungspolitik müssen bemüht sein, schon die Entstehung von Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Innenpolitik darf nicht der Versuchung erliegen, Asylbewerber/-innen zum Instrument der Abschreckung für andere Asylsuchende und Flüchtlinge zu machen. Gerade die eigenen Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung vieler Deutscher verpflichten uns zu Offenheit gegenüber den "Fremden". Dies um so mehr, als unser Glaube die Aufnahme von "Fremden" gebietet.

Die Kirchen in der Bundesrepublik sehen die Anwesenheit von Flüchtlingen, Asylsuchenden und ausländischen Mitbürger/-innen auch als Chance und Bereicherung innerhalb und auch außerhalb der Gemeinden.

Wir bitten daher die Gemeinden, Flüchtlingen, Asylsuchenden und ausländischen Mitbürger(n)/-innen Gastfreundschaft zu gewähren und die Christen unter ihnen als gleichberechtigte Glieder der Gemeinde aufzunehmen. Die Kirche ist in Millionen ihrer Mitglieder selbst auf der Flucht. In durch staatliche Regelungen entstehenden extremen Notlagen (Abschiebung) haben Gemeinden nach eingehender Prüfung und der Ausschöpfung aller Rechtsmittel zu helfen (z. B. Notwendigkeit der Gewährung von Kirchenasyl). Aufnahme der Fremden bedeutet, daß die Lebensbedingungen derer, die bei uns Zuflucht suchen, nicht menschenunwürdig sein dürfen. Sie sind z. B. in folgenden Punkten zu verbessern:

  • Verwirklichung des Rechts auf Arbeit;
  • keine Einschränkung der Bewegungsfreiheit;
  • menschenwürdige Unterbringung (keine Großlager);
  • Ermöglichung von Bildung und Ausbildung, insbesondere für Kinder und Jugendliche;
  • Auszahlung von Sozialhilfe (Verzicht auf Gemeinschaftsverpflegung);
  • Recht auf uneingeschränkte Krankenhilfe, auch bei der Behandlung von Folterschäden;
  • Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache;
  • gesicherter Aufenthaltsstatus für "de-facto-Flüchtlinge";
  • erleichterte Einbürgerungsbedingungen.