Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1994

STADT GOTTES
Magazin der Steyler Missionare
September 1994 S. 20-22

Gegen ausländerfeindliche Politik im rechtsstaatlichen Mäntelchen
Die Flüchtlingsfrage als wichtige Zukunftsaufgabe erkennen gebeugt

Vor 30 Jahren, am 10. September 1964, wurde in Deutschland der millionste Gastarbeiter bei seiner Ankunft in Köln ehrenvoll empfangen. Als Willkommensgruß erhielt der portugiesische Zimmermann Armando Rodrigues sogar ein Moped geschenkt. Inzwischen haben sich die Zeiten überall in Europa gründlich geändert. Vor drei Jahren begannen im sächsischen Hoyerswerda die handgreiflichen rechtsradikalen Ausschreitungen gegen Ausländer. Die politische Folge: Die Opfer werden bestraft durch eine Verschärfung des Asylrechts. Den Ausländern bläst ein kalter Wind ins Gesicht. Daran kann leider auch die Ende September in Deutschland stattfindende Woche der ausländischen Mitbürger und der Tag des Flüchtlings (30.9.) nichts ändern.
Über den Umgang mit Flüchtlingen und die verhängnisvollen Auswirkungen des neuen Asylrechts
sprach Christiane Limberg mit Pfarrer Herbert Leuninger.

Er ist Sprecher der deutschen Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
PRO ASYL in Frankfurt.


STADT GOTTES:
Wie fühlen Sie sich als Sprecher von PRO ASYL in der Öffentlichkeit? Sind Sie persönlichen Angriffen ausgesetzt?

Leuninger:
Ja, vor zwei Jahren hat es eine ganz akute Bedrohung gegeben. Man muß also ständig mit Übergriffen rechnen. Andererseits ist es erstaunlich, wie groß die Anerkennung für die Arbeit von PRO ASYL in der Öffentlichkeit ist, auch wenn wir politisch eher Mißerfolge verzeichnen müssen. Wir haben mittlerweile eine Stimme, die in der Öffentlichkeit gehört wird, sicher eine sehr kritische und für viele eine zu kritische Stimme.

Haben Sie bei Ihrer vielfältigen Arbeit noch direkten Kontakt mit Flüchtlingen?

Meine Arbeit ist aus persönlichen Kontakten mit Flüchtlingen entstanden, die ich aufnehmen konnte im Rahmen einer Pax-Christi-Gruppe, der ich in Hofheim angehöre. Vor fast 10 Jahren stellte sie sich die Aufgabe, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen Kontakt mit Flüchtlingen zu pflegen. Dies hat zu sehr intensiven Kontakten geführt und auch zu regelrechten Freundschaften, die bis auf den heutigen Tag weiterbestehen.

Welcher Fall, mit dem Sie in letzter Zeit konfrontiert wurden, hat Sie besonders erschüttert?

Mich erreichen jeden Tag Hiobsbotschaften, so daß ich gar nicht sagen kann, welcher Fall mich am meisten betroffen gemacht hat. Im Augenblick stehe ich in Kontakt mit dem Flüchtlingsrat in Sachsen wegen der Abschiebung einer kurdischen Familie mit fünf Kindern aus Chemnitz. Der Vater dieser Familie ist gleich nach seiner Ankunft in der Türkei von der Polizei verhaftet worden, hat wohl auch Folterungen durchmachen müssen. Die Familie weiß zur Zeit nicht, wo der Vater ist. Ich bin im Augenblick dabei, eine Presse-Erklärung vorzubereiten. Der Flüchtlingsrat in Sachsen erwägt eine Klage gegen die Chemnitzer Ausländerbehörde; wir würden das unterstützen.

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation in Deutschland ein, was das Verhalten Ausländern gegenüber angeht?

Die Änderung des Asylrechts war ein Entgegenkommen gegenüber ausländerfeindlichen Tendenzen in der Bundesrepublik. In diesem Wahljahr führt es dazu, daß ausländerfeindliche Politik - rechtsstaatlich verhüllt - nach wie vor eine große Rolle spielt. Bei der neuen Asylgesetzgebung geht es darum zu verhindern, daß Flüchtlinge in größeren Zahlen die Bundesrepublik überhaupt erreichen. Dann geht es darum, daß die Flüchtlinge in möglichst großer Zahl wieder abgeschoben werden. Das sind für mich Botschaften der Fremdenfeindlichkeit, und sie beunruhigen mich sehr, weil sie eine Mentalität gewisser Bevölkerungsschichten bestätigen.

In welchen Bereichen wirkt sich die neue Asylgesetzgebung in der Bundesrepublik am härtesten aus?

Am härtesten wirkt sie sich an den Grenzen aus, beziehungsweise schon vor den deutschen Grenzen; denn die Bundesrepublik hat zusammen mit der Europäischen Gemeinschaft eine Art Schutzwall errichtet, der bestimmte Vorformen der Abwehr hat. In Osteuropa sind die an die Bundesrepublik grenzenden Länder alle in diese Abwehr e einbezogen, so daß etwa Polen oder Tschechien mit dazu beitragen, daß Flüchtlinge schon an deren Grenzen abgewiesen werden. Die zweite Auswirkung ist, daß Flüchtlinge, die trotzdem noch in die Bundesrepublik gelangen, es sehr schwer haben, in einem normalen und für sie durchsichtigen Verfahren auf ihre bedrängte Situation hinzuweisen. Um es einmal drastisch zu formulieren: Viele Flüchtlinge sind schneller wieder draußen, als sie reingekommen sind. An erster Stelle sind Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien betroffen, von denen sehr viele jetzt wieder zurückgeschickt werden sollen. Sehr betroffen sind auch die Roma aus Südosteuropa, also ein Volk, das unter den Verteilungskämpfen und unter den ethnischen Auseinandersetzungen, die jetzt in Südost- und Osteuropa zugange sind, besonders zu leiden haben. Dann natürlich die Flüchtlinge auch aus der Türkei, vor allem die Kurden, aber auch Menschen aus sehr vielen Ländern Afrikas und Asiens.

Es ist ja fast schon ein Wunder, wenn Leute es überhaupt noch schaffen, bei ihrer Flucht hier anzukommen ...

Es ist erstaunlich, wie viele Flüchtlinge trotz dieser Abwehrmaßnahmen in irgendeiner Form die Grenze überschreiten können. Das setzt voraus, daß sie Organisationen bezahlen, und manchmal sehr teuer bezahlen, die alle Wege auskundschaften, um ihre Auftraggeber in ein westliches Fluchtland zu bringen.

Sie meinen die sogenannten Schlepper-Organisationen?

Ich verwende diesen Ausdruck nicht. Ich sage, es sind Organisationen, die eine Dienstleistung erbringen, die sich in einer Grauzone abspielt. Solange es keine internationalen humanitären Organisationen gibt, die Flüchtlinge in sinnvoller Weise auf ihrer Flucht unterstützen, sind die Menschen auf Gedeih und Verderb auf solche Organisationen angewiesen.

Können sich eine Flucht nur noch Reiche leisten?

Die Preise für diese Fluchthilfe steigen in dem Maße, wie die Abschottungsmaßnahmen stärker werden. Das bedeutet, daß hier bereits eine Selektion erfolgt, die es nur denen noch ermöglicht zu fliehen, die die finanziellen Voraussetzungen dafür haben. Nach unseren Erfahrungen ist es dann oft die ganze Familie, die das, was sie an Besitz hat, verkauft, um vielleicht einem Teil der Familie, zum Beispiel einem Kind, das Überleben und den Schutz in einem Aufnahmeland zu ermöglichen.

Wie bewerten Sie das Engagement der katholischen und evangelischen Kirche für Ausländer?

Wir haben es erleben müssen, daß die Kirchenleitungen in ihren Spitzen der Politik ein Zugeständnis gemacht haben, das wir für sehr verhängnisvoll halten. Dies war die moralische Grundlage für eine Verschärfung des Asylrechts, die für Tausende Flüchtlinge verheerende Auswirkungen hat. Das ist auch für die Kirchen ein sehr bedenklicher Vorgang, die bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich als die absoluten Verteidiger der Rechte der Ausländer und der Flüchtlinge galten. Nun haben sie - für irgendein politisches Linsengericht - eine Grundposition aufgegeben. Es gibt in den Kirchen aber nach wie vor viele Christen, die sich vor allem im Asyl-Bereich engagieren. Das ist etwas, was ich in den mehr als 30 Jahren, wo ich Priester der katholischen Kirche bin, in dieser Form früher nicht erfahren habe. Ich spüre, daß die Kirchen zur Zeit versuchen, ihrer ursprünglichen Aufgabe wieder gerecht zu werden.

Was halten Sie von der alten Tradition des Kirchenasyls, das heißt, daß Kirchengemeinden Asylbewerber aufnehmen, die von der Abschiebung bedroht sind? Nach Angaben der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" wären derzeit rund 200 evangelische und katholische Gemeinden allein in Deutschland bereit, Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren.

Das Kirchenasyl erweist sich in der augenblicklichen Situation als eines der vielleicht wichtigsten Instrumente, um Flüchtlinge vor dem Schlimmsten zu bewahren. Allerdings mit dem Hintergrund, daß es in einem demokratischen Rechtsstaat natürlich keinerlei rechtsfreie Räume gibt. Wir haben bisher die Erfahrung gemacht, daß Kirchenasyl zu einer Solidarität führt, die dann auch die Öffentlichkeit beeindruckt. Das Kirchenasyl ist ja wirklich nur als letzte Maßnahme gerechtfertigt, wenn es basiert auf der Vorstellung, daß der Schutz der Menschenwürde, der Schutz vor Gefahr für Leib und Leben nicht nur eine Grundaufgabe der Kirchen ist, sondern eine Grundaufgabe, die eigentlich auch die Verfassung den Bürgerinnen und Bürgern auferlegt.

Wie beurteilen Sie den "Europäischen Paß gegen Rassismus", der erstmals in Frankreich vorgestellt wurde? Die Paßinhaber verpflichten sich, gegen ausländerfeindliche Parolen den Mund aufzumachen und bei Übergriffen einzuschreiten oder Hilfe zu holen.

Dieser Paß ist sicher ein guter Beitrag, um Menschen zu ermutigen. Dahinter steckt ja, daß Menschen, die nicht mit den rechtsextremen Entwicklungen einverstanden sind, spüren, sie sind mit ihrer Einstellung nicht allein.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit in den kommenden Monaten?

Wir müssen unsere Arbeit unbedingt zumindest auf den europäischen Raum ausweiten und vernetzen. Wir waren bisher, bedingt natürlich durch die asylpolitische Diskussion, zu sehr konzentriert auf Deutschland selbst, aber die asylrechtlichen und asylpolitischen Entscheidungen fallen ja nicht nur in Deutschland, sondern sie fallen in Europa. Eine weitere Aufgabe besteht darin, alle Formen eines bürgerrechtlichen Widerstandes gegen die Verletzung der Menschenrechte zu unterstützen.

Was ist die beste Möglichkeit, mit Ausländern in Kontakt zu kommen und somit eigene Unsicherheiten ihnen gegenüber zu verlieren?

Der unmittelbare Kontakt vor allem mit Flüchtlingen ist der Königsweg gegen die Fremdenfeindlichkeit. Durch den unmittelbaren Kontakt mit den Schicksalen von bedrängten Menschen verändern sich ganz plötzlich Einstellungen, und es werden ungewohnte Formen der Hilfe möglich. Gerade auch die Kirchen können dabei erfolgversprechende Angebote machen, zum Beispiel zwanglose Zusammenkünfte und Feste. Entscheidend ist nämlich, ob die Leute mit den größten Vorurteilen das Klima bestimmen oder nicht. Und es ist eine Erfahrung, daß der solidarische Zusammenschluß von Menschen eine sehr wichtige dämpfende Wirkung auf solche Leute hat.

Was können Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher konkret tun?

Zuerst einmal: den politischen Aussagen vor allem in einem Wahljahr mißtrauen. Und das zweite: sich einfach besser informieren über die Situation von Flüchtlingen in ihren Heimatländern und auch hier. Drittens: sich dann Gruppierungen anschließen, die ganz bewußt die Verbindung mit Flüchtlingen, Fremden und Ausländern pflegen, zum Beispiel in den Kirchengemeinden. Alles weitere ergibt sich dann von selbst.

Von welcher deutschen Partei wird Ihre Position in Sachen Asyl am meisten unterstützt?

In den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre sind wir am stärksten von den Grünen unterstützt worden, am wenigsten von der CDU und am allerwenigsten von der CSU.

Wie sieht die Politik in der Schweiz aus?

Die Politik in der Schweiz verhält sich ähnlich wie in der Bundesrepublik. Auch hier Abschottung und der Versuch, möglichst viele Flüchtlinge wieder "rauszuschaffen", wobei wir allerdings sehr beeindruckt sind davon, wie sich in der Schweiz Bürgerinnen und Bürger dagegen zur Wehr setzen. In der Schweiz gibt es seit Jahren vergleichbare Formen von Kirchenasyl und Solidarität.

Was möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?

Es ist leider so, daß Politiker ihren Wählerinnen und Wählern nicht die volle Wahrheit sagen. Sowohl die Schweiz als auch die Bundesrepublik werden sich darauf einstellen müssen, künftig nicht weniger, sondern eher mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Bisher war das leistbar. Und es wird auch künftig leistbar sein. Allerdings muß unter uns die Bereitschaft da sein, dies als eine wichtiges Zukunftsaufgabe zu sehen.