Herbert Leuninger

Ausländerfeindlichkeit ‑ Die Krise einer Interventionsstrategie im Kontext der Ausländerpolitik


INHALT
1. Die bisherige Strategie am Beispiel des Initiativausschusses „Ausländische Mitbürger in Hessen

1.1 Gründung, Zusammensetzung, Ziele und Methoden des Ausschusses.
1.2 Überblick über Art, Inhalt und Umfang der lnterventionen.
1.3 Bedeutung und Bilanzierung der Aktivitäten.

2. Die ausländerpolitische Wende als Krise der bisherigen Interventionen.

2.1 Das vorläufige Ende einer sogenannten Integrationspolitik.
2.2 Das Umschlagen der öffentlichen Meinung.
2.3 Die Redaktion der Betroffenen und ihrer Helfer

3. Subjekte, Ziele und Inhalte einer neuen Strategie.

3.1 Die Selbstorganisationen und neue Bündnispartner
3.2 Ziele, Methoden und Inhalte einer neuen Strategie.

Zusammenfassung
Literatur

1. Die bisherige Strategie am Beispiel des Initiativausschusses „Ausländische Mitbürger in Hessen"

Mit der Beschäftigung nichtdeutscher Arbeitnehmer ist ein Prozeß der Einwanderung und Integration in Gang gekommen, der sehr bald Interventionen zugunsten ihrer Gleichbehandlung erforderlich machte. Im Folgenden soll am Beispiel des Initiativausschusses „Ausländische Mitbürger in Hessen" dargestellt werden, wie diese Interventionen erfolgten und wodurch sie in die Krise gerieten.

1.1 Gründung, Zusammensetzung, Ziele und Methoden des Ausschusses

Der Initiativausschuß „Ausländische Mitbürger in Hessen" ist eine vergleichsweise neuartige Organisation, die als Antwort auf die besonderen gesellschaftlichen Erfordernisse einer bereits langjährigen Arbeitswanderung anzusehen ist und die in ihrer Struktur und Zielsetzung ein unkonventionelles Instrument gerade öffentlicher Interventionen von.Verbänden, von deutschen und nichtdeutschen Organisationen darstellt.

Sein Entstehen verdankt der Initiativausschuß dem „Tag des ausländischen Mitbürgers", der als kirchliche Initiative 1970 erstmals, allerdings noch regional, durchgeführt wurde (vgl. Leudesdorff 1971, S. 288‑299). Der Ausschuß ist die Fortsetzung eines Vorbereitungskomitees, in dem die hessischen katholischen Bistümer Fulda, Limburg und Mainz neben ihren Caritasverbänden, die Diakonischen Werke der Evangelischen Kirche von Hessen‑Nassau und Kurhessen‑Waldeck, die Arbeiterwohlfahrt, das Jugendsozialwerk und die katholische Organisation „action 365" vertreten waren und dessen Koordinator, der Publizist Ernst Klee, darin eine maßgebliche Rolle spielte.

Zwei entscheidende Komponenten haben den Tag, seine Vorbereitung und Durchführung geprägt: Einmal eine mehr interne Thematik „Migration und Entwicklung", mit der ein Zusammenhang zwischen der Entwicklungsproblematik und der „Gastarbeiterfrage" hergestellt werden sollte. Hierfür versicherte man sich der Mitarbeit maßgeblicher italienischer Sozialreformer, wie z.B. der von Danilo Dolci. Die zweite wichtige Komponente für die Arbeit des Komitees stellte die sog. Holzmann‑Affäre dar. Die Hauptverwaltung der Philipp

Holzmann AG. hatte den deutschen kirchlichen Vertretern und den sizilianischen Sozialreformern die Besichtigung eines Wohnlagers für nichtdeutsche Arbeitnehmer verweigert, worauf diese ein Go‑in veranstalteten. Dies war ein Eklat, der eine bundesweite Resonanz der Medien hervorrief und dem Tag eine überregionale Bedeutung verlieh.

Solche spektakulären Aktionen haben sich später nicht wiederholt, aber doch zu einem Lernprozeß beigetragen, der dazu führte, daß das Vorbereitungskomitee in den eigentlichen Initiativausschuß „Ausländische Mitbürger in Hessen" überging. Die sachliche Konsequenz einer Weiterführung des Komitees ergab sich nicht zuletzt aus seinem eigenen Aufruf zum Tag des ausländischen Mitbürgers, wonach Einzelhilfe allein, so notwendig sie ist und bleibt, das Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung nicht löst. „Wir müssen Partei ergreifen für die ,Neger Europas` (Dolci) . . . Wir müssen die wirtschaftlichen und politischen Hintergrunde beim Namen nennen. Wir wollen Bewußtseinsbildung. Das Gastarbeiterproblem ist ein Teil des Weltproblems der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit". Für die spätere Zusammensetzung des lnitiativausschusses ist der Teil des Aufrufes maßgebend, wo alle Kräfte angegangen werden sollen, „ohne Gruppenegoismus, der infolge ideologischer Scheuklappen das Verbandsinteresse über die Bedürfnisse der ausländischen Mitbürger stellt, an dieser Bewußtseinsbildung zusammen mit unseren ausländischen Freunden mitzuwirken."

Nach dem ermutigenden Verlauf des Tages des ausländischen Mitbürgers beschließen die Mitgliedsorganisationen des Vorbereitungskomitees, dieses als Initiativausschuß „Ausländische Mitbürger in Hessen" zur Vertretung der Interessen der ausländischen Arbeiter weiterzuführen. Als Geschäftsführer wird Detlef Lüderwaldt gewonnen, der über Erfahrungen als Entwicklungshelfer in Marokko verfügt. Von seiner Entstehungsgeschichte und Ursprungsmotivation her setzt sich der Initiativausschuß in öffentlichen Aktionen für die volle Integration und gleichberechtigte Teilhabe der nichtdeutschen Arbeiter und ihrer Angehörigen in der Gesellschaft der Bundesrepublik ein. Methodisch läßt sich der Initiativausschuß von dem Prinzip leiten, die Interessen der nichtdeutschen Arbeiter und ihrer Familien im Hinblick auf ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben der Bundesrepublik zu unterstützen. Er tritt für die Selbstvertretung der nichtdeutschen Arbeiter und ihrer Familien ein und fördert die öffentliche Anerkennung der demokratischen ausländischen Organisationen, und ihre finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand. Er bemüht sich, die von den nichtdeutschen Organisationen und Gruppen selbst formulierten Probleme und Forderungen zu übernehmen und mit Nachdruck an die Öffentlichkeit zu geben. Die (deutschen) Verbände und Organisationen wirken gewissermaßen als Verstärker für die Forderungen der nichtdeutschen Organisationen und Gruppen. Auf diese Weise soll eine Arbeit möglich werden, die auf die Interessen der nichtdeutschen Minderheit bezogen ist, d.h. die Arbeit des Initiativausschusses geht von Problemen aus, die die Betroffenen selbst benennen und nicht von den Vorstellungen, welche die Deutschen hinsichtlich der Fragen haben, was für die nichtdeutsche Bevölkerung gut sein müßte (vgl. Lüderwaldt 1980, S. 98‑90).

1.2 Überblick über Art, Inhalt und Umfang der lnterventionen

Die Aktivitäten des Initiativausschusses umfaßten im wesentlichen Aktionen, die an die Öffentlichkeit gerichtet waren, eine vielseitige Medienarbeit, politische Einflußnahmen über Eingaben an Behörden, Regierungsstellen und Ministerien, Gespräche mit Beamten, Politikern und Pädagogen, Mitarbeit in Ausschüssen und Arbeitskreisen, Bildungsarbeit, Referate und Mitwirkung an Podiumsdiskussionen und Seminaren, schließlich auch der Einsatz in bestimmten besonders gravierenden und symptomatischen Einzelfällen.

Diesen Tätigkeiten lag eine vielseitige Vorarbeit zugrunde, vor allem in Form eines kontinuierlichen Informations‑ und Erfahrungsaustausches bei den Sitzungen des Initiativausschusses, in seinen Arbeitsgruppen und bei Einzelkontakten. Dieser umfassende und auf den verschiedenartigsten Informationen und Erfahrungen beruhende Kommunikationsprozeß war Grundlage unzähliger Analysen und Stellungnahmen, die zumeist auch mit Handlungsvorschlägen und Strategiekonzepten verbunden waren, die über den Initiativausschuß hinaus Anregungen bieten sollten.

Der gesamten Aktivität diente ein eigener Materialdienst, der für die Mitglieder gedacht war und die wichtigsten ausländerpolitischen Informationen aus der Presse und sonstige relevante Dokumente und Papiere aufbereitete und verbreitete. Dieser Materialdienst ging in einem beschränkten Umfang an Persönlichkeiten, an Institutionen und Redaktionen, an deren Information und Rückmeldung der Initiativausschuß besonders interessiert war.

Die inhaltlichen Schwerpunkte spiegeln die integrations‑ und ausländerpolitische Situation und Entwicklung in der Bundesrepublik wieder und beziehen sich vor allem auf die Veränderung der Ausländerpolitik und des Ausländerrechts, auf die schulische Integration und auf die Beseitigung vorhandener Diskriminierung in allen anderen Lebensbereichen.

1.3 Bedeutung und Bilanzierung der Aktivitäten

Zwei grundlegende Ideen haben die Arbeit des Initiativausschusses getragen

und die Interventionen integrationspolitischer Natur geprägt: Die Vorstellung von einer faktischen Einwanderung, die mit der langjährigen Beschäftigung nichtdeutscher Arbeiter eingetreten ist, und deren menschenrechtlicher Anspruch auf prinzipielle und alle Bereiche umfassende Gleichberechtigung. Die Stellvertreterfunktion des Initiativausschusses, oder besser gesagt, der dort vertretenen Verbände wurde von den Minderheiten‑Organisationen akzeptiert, erwartet und in einem Maße gefordert, die die Verbände bis an die Grenze ihrer konventionellen Möglichkeiten als Institutionen beanspruchte. Dies entsprach seitens der Minderheitenorganisationen einer nüchternen Einschätzung der Möglichkeiten, die sie selbst in der Phase des Aufbaus und Ausbaus und vor allem auch angesichts ihrer schwachen gesellschaftlichen Position besaßen. Der multiplikatorische und verstärkende Effekt dieser ungewöhnlichen Arbeitsteilung wurde in einem beachtlichen Umfang erreicht und zwar weit über das Maß dessen hinaus, was gesellschaftliche Großverbände wie die Wohlfahrtsorganisationen in anderen Bereichen zu leisten vermochten, oder überhaupt zu leisten versuchten. Der Initiativausschuß wirkte geradezu „stilbildend", übernahm aber auch Funktionen, die von den Verbänden nicht wahrgenommen werden konnten.

Diese Rolle wurde in der politischen Szene und in der Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit und bisweilen sogar mit Überraschung registriert und gab dem Initiativausschuß Möglichkeiten öffentlicher Einwirkung, die über sein wirkliches Gewicht hinausgingen. Die nach außen vermittelte Kompetenz ergab sich aus einem Minimum an institutioneller Apparatur und zeitlichem Aufwand, den die Mitglieder einbringen konnten. Daß der Initiativausschuß dennoch eine solche Wirksamkeit entfalten konnte, hing mit zwei Faktoren zusammen. Einmal mit der optimalen Nutzung der Medien und sonstiger Formen der Öffentlichkeitsarbeit, wobei diese absolut keinen professionellen Anstrich hatte, da sie sehr direkt und ohne Einsatz indirekter Formen der Einflußnahme arbeitete. Ein weiterer wichtiger Grund für die Beachtung, die der Initiativausschuß gefunden hat, ist die gesellschaftliche Erwartungshaltung, die einen solchen durchaus sehr kritischen Einsatz nicht nur tolerierte, sondern in gewissem Sinne und eigentlich sehr weitgehend legitimierte. Es bestand trotz aller durchgehaltenen Auffassung von der arbeitsmarktpolitischen Pufferfunktion der nichtdeutschen Arbeitnehmer und bei dem Versuch einer weitgehenden Verhinderung des Einwanderungsprozesses durchaus die gesellschaftliche Bereitschaft, die Minderheiten in bescheidenem Umfang im Rahmen zu verteilender Zuwächse am gesellschaftlichen Gesamtangebot partizipieren zu lassen. Wer dies forderte und förderte, durfte damit rechnen, Gehör zu finden, brauchte sich also keineswegs im Gegensatz zum gesellschaftlichen Trend zu sehen. Es war durchaus plausibel, daß die „Ausländer" in einer gewissen Angleichung an die Rechte der Einheimischen leben sollten und eine dauernde Diskriminierung oder gesellschaftliche Separierung für das eigene Selbstverständnis und Selbstwertgefühl ausgeschlossen waren. So könnte man das vorherrschende gesellschaftliche Bewußtsein unter den sozial‑liberalen Trend subsummieren, der prinzipielle Veränderungen vermied, aber schrittweise Verbesserungen wünschte und zuließ.

2. Die ausländerpolitische Wende als Krise der bisherigen Interventionen

2.1 Das vorläufige Ende einer sogenannten Integrationspolitik

Der Beschluß des Bundeskabinetts vom 2. Dezember 1981 „Zur sozialverantwortlichen Steuerung des Familiennachzugs von Ausländern aus Nicht‑EG-Staaten" war eine Bitte an die Bundesländer, als Sofortmaßnahme bundeseinheitlich durch Beschluß der Länder 16‑ bis 17jährige ausländische Jugendliche und Ehegatten der zweiten Generation vom Nachzug in die Bundesrepublik auszuschließen. Ähnlich sollte gegenüber Angehörigen von nichtdeutschen Studenten und Kindern, von denen nur ein Elternteil in der Bundesrepublik lebte, verfahren werden (Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1981).

Überraschen durften diese Beschlüsse eigentlich nicht, denn die Diskussion um sie war seit geraumer Zeit mit wachsender Intensität geführt worden. Bereits 1976 hatte eine Bund‑Länder‑Kommission ähnliche Maßnahmen in Aussicht genommen, sie aber damals noch nicht in ein ausländerpolitisches Konzept übertragen (Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1977, S. 54‑57, derselbe, 1977, S. 35‑38).

Obwohl der Beschluß zur Verhinderung der Familienzusammenführung vom Dezember 1981 politisch keine neu eingeführte Idee enthält, wurde er doch von den Betroffenen selbst und von denen, die mit ihnen kooperieren oder integrationspolitisch und ‑pädagogisch engagiert sind, als Ende einer Politik empfunden, die mit allen Einschränkungen und mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine integrative Ausrichtung hatte. Man kann durchaus mit Ursula Mehrländer die Auffassung vertreten, die Integration sei nicht gescheitert, da sie noch gar nicht ernsthaft versucht worden sei (Mehrländer 1983, S. 266). Dennoch ist es ein neues politisches Datum, wenn Integration als tragende ausländerpolitische Idee aufgegeben wird, oder doch zumindest gegenüber früheren Bekundungen in den Hintergrund getreten ist. Die Beschlüsse gegen die Familieneinheit sind als solche und in ihrer isolierten Herausstellung direkt und nicht nur indirekt integrationsfeindlich. Wie sehr sich das ganze Konzept aber gewandelt hat, wird noch deutlicher an der Prioritätenfolge, die die Bundesregierung am 3. Februar 1982 in ausländerpolitischen Grundpositionen beschließt. Danach ist die Ausländerpolitik der Bundesregierung darauf gerichtet, die weitere

  • Zuwanderung von Ausländern in die Bundesrepublik wirksam zu begrenzen,
  • die Rückkehrbereitschaft zu stärken, sowie
  • die wirtschaftliche und soziale Integration der seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländern zu verbessern und ihr Aufenthaltsrecht zu präzisieren" (Mehrländer 1983, S. 266).

Das ist die Verkehrung der bisherigen Rangfolge, bei der Integration an erster Stelle kam. Mit der veränderten Prioritätenfolge werden Signale gesetzt, die im Zusammenhang mit der Beschränkung des Familiennachzugs durchaus als ausländerpolitische Wende verstanden werden mußten und von der Öffentlichkeit ‑ also nicht nur von den Experten ‑ auch durchaus so verstanden wurde. Eine Politik mit dieser Schwerpunktverlagerung konnte von der Regierung Kohl nahtlos weitergeführt werden, auch wenn Kohl in den Regierungserklärungen vom 13.10.1982 und 4.5.1983 die Integration wieder an die Spitze der ausländerpolitischen Aufgabenliste setzt (Betrifft: Ausländerpolitik, 1983 (2), S.11 und Presse‑ und Informationsamt der Bundesregierung 1983, S. 59 f). Der politische Kontext schließt allerdings die Deutung aus, Kohl will Schmidt integrationspolitisch in einem positiven Sinne korrigieren.

2.2 Das Umschlagen der öffentlichen Meinung

Das, was die Bundesregierung am 2. Dezember 1981 beschlossen hatte, wurde, von der Kritik der Kirchen, Wohlfahrtsverbände, der Selbstorganisationen und der mit ihnen liierten Vereinigungen abgesehen, ohne ernsthafte Einwände von der Bevölkerung, der Öffentlichkeit und den Massenmedien nicht nur hingenommen, sondern akzeptiert. Der Meinungsumschwung in der deutschen Bevölkerung wird an einer infas‑Umfrage deutlich, deren Erhebungszeitraum zwischen dem 7.12.1981 und dem 3.1.1982 lag (Presse‑ und Informationsamt der Bundesregierung 1982, S. 7 f und Just/Mühlens 1982, S. 35 f). Die Endauswertung dieser als Grundlagenstudie angelegten Umfrage des infas‑Instituts wurde vom Presse‑ und Informationsamt der Bundesregierung im Mai 1982 veröffentlicht. „Die Zeit" wollte einige Wochen zuvor in Erfahrung gebracht haben, daß das Bundespresseamt die Ergebnisse am liebsten für sich behalten hätte, weil sie so „erschütternd" seien (Schueler 1982). Nach der Untersuchung zeigte sich, daß knapp die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung klar ausländerfeindlich eingestellt ist. Die Studie will des weiteren herausgefunden haben, daß 58 % der Bundesbürger eine Verminderung, Begrenzung oder Reduktion der Ausländerzahlen wünschen und „62 % mißbilligen, daß Gastarbeiter ihre Familien in die Bundesrepublik nachholen".

Gegenüber früheren Meinungsumfragen sind diese Ergebnisse Anzeichen eines Stimmungswandels, der von Experten als alarmierend eingeschätzt wird. Normalerweise sei das Stimmungsbild sehr stabil. Eine ähnliche Ausnahme habe es mit dem dramatischen Anstieg der Befürworter der Todesstrafe unter dem Druck der terroristischen Anschläge und des Entführungsfalles Schleyer im Frühherbst 1977 gegeben. Dieser krasse Umschwung fand natürlich seine Entsprechung in der Öffentlichkeit und in den Medien, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Berichterstattung, die den politischen Diskurs nachrichtengemäß wiedergibt und damit zwangsläufig zu seiner Plausibilität beiträgt. Sie wird noch erhöht durch die Wiedergabe der Umfrageergebnisse über die xenophobe Einstellung in der deutschen Bevölkerung. Dennoch war die Berichterstattung nicht allein der „objektive" Reflex des eingetretenen Meinungsumschwungs. Entscheidender war vielleicht die weitgehende Aufgabe der kritischen Distanz bei der Kommentierung der neuen politischen und öffentlichen Bewußtseinslage. Hier war ein deutliches Einschwenken bzw. Umschwenken der Massen-Medien feststellbar (vgl. Leuninger in diesem Band).

2.3 Die Redaktion der Betroffenen und ihrer Helfer

Die betroffene Minderheit ist nicht nur zutiefst verunsichert und von Existenzangst erfaßt, sieht sich nicht nur in ihren fundamentalen Menschenrechten verletzt, sondern ausgesondert, abgelehnt und zur kollektiven Aggression freigegeben. Eine tiefe Kluft tut sich auf zwischen Deutschen und denen, die keinen deutschen Pass haben. Das Klima einer auf die Zukunft gerichteten Einstellung gegenseitiger Integration und wachsender Rechtsgleichheit ist dem prinzipiellen Mißtrauen gegenüber deutscher Politik und den Deutschen gewichen.

Die deutschen Helfer waren irritiert. Trotz kontinuierlicher, gesellschaftspolitischer Kritik waren sie davon ausgegangen, daß der Einwanderungs‑ und Integrationsprozeß mit stetigen Verbesserungen voranschreiten werde. Ohne sich über die Langsamkeit dieses Prozesses Illusionen zu machen, wurde mit einem ernsthaften Rückschritt oder gar mit einem Scheitern dieser Entwicklung nicht gerechnet. Die ausländerpolitische Wende wurde aber nun als ein Scheitern der bisherigen Integrationsbemühungen eingeschätzt, wobei die Fragen auftauchten, wie es dazu kommen konnte, ob die bisherigen Interventionen falsch angesetzt waren, was in dieser Situation überhaupt noch getan werden könne und ob Interventionen ‑ gleich welcher Art ‑ noch einen Sinn hätten. Unter den Helfern und Experten machte sich eine tiefe und lähmende Resignation breit. Die neue Entwicklung traf sie im Grunde unvorbereitet. Diese Krise aufzuarbeiten war umso schwieriger, als sich der Druck auf die nichtdeutsche Minderheit verstärkte und öffentlicher Einsatz für sie sich geradezu ins Gegenteil zu verkehren drohte.

&xnbsp;Vor allem bekamen die Helfer zu spüren, daß sie eine begrenzte Expertengruppe waren, der es in den vergangenen Jahren trotz aller Bemühungen nicht gelungen war, weitere Kreise der Gesellschaft in ihre Arbeit und in ihr entsprechendes Vorverständnis einzubeziehen. Sie mußten erleben, daß sie mit den betroffenen Minderheiten zusammen längst oder immer noch in einem gesellschaftlichen Ghetto lebten, also einem Raum, der, was die öffentliche und politische Vermittlung der Minderheiteninteressen anging, ziemlich abgeschottet war.

3. Subjekte, Ziele und Inhalte einer neuen Strategie

3.1 Die Selbstorganisationen und neue Bündnispartner

In der gesamten bisherigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung haben die Selbstorganisationen der nichtdeutschen Minderheiten ‑ wenn überhaupt ‑eine völlig untergeordnete Rolle gespielt. Dies hing vor allem damit zusammen, daß sich die Bundesrepublik nicht als Einwanderungsland und die faktisch eingewanderten Minderheiten sich nicht als solche verstanden. Damit wurden in der politischen Öffentlichkeit Selbstorganisationen und Selbstvertretungen, wie sie sich in einem Einwanderungsprozeß normalerweise entwickeln, und eine entscheidende Bedeutung für die innere Stabilisierung und Strukturierung der eingewanderten Bevölkerung spielen, völlig unterschätzt. Es wurde auch die Funktion dieser Selbstorganisationen für die Integration und die Vermittlung der verschiedenen Interessen, die sich mit der Einwanderung ergeben, übersehen. Die Einwanderer selbst haben die Entwicklung ebenfalls falsch eingeschätzt und ihre Existenz als durchaus provisorisch betrachtet. Wenn sie Organisationen bildeten, und dies geschah im Laufe der Zeit in einem immer stärkeren Umfang, so waren sie mehr geprägt von einer Orientierung an das Herkunftsland als von einer Orientierung auf die Erfordernisse der Einwanderung und Integration. Entscheidender aber für die Mißachtung der Rolle von Einwandererorganisationen für den Integrationsvorgang war die Aufnahmegesellschaft, die genügend Informationen über vergleichbare Prozesse in anderen Ländern und zu anderen Zeiten hätte abrufen können, um daraus die Konsequenz einer bewußten Förderung nicht nur der vorhandenen und sich selbst bildenden Organisationen zu betreiben, sondern der Organisierung selbst einen besonderen Akzent zu geben.

Es gab aber noch einen weiteren Grund, daß die Selbstorganisationen im Schatten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit geblieben sind. Es waren die Ängste vor jeglichen möglichen Formen der Abkapselung und Separierung, die sich aus Selbstorganisationen entwickeln könnten oder naturnotwendig mit ihnen verbunden sind. Diese Ängste gab es nicht nur in der Politik, sondern auch in der gewerkschaftlichen Arbeit, nicht zuletzt auf dem übrigen Feld positiv agierender Integrationsinstanzen. Hier konvergierten die Ängste u.U. mit dem Bestreben, in der Stellvertreterfunktion für die Einwanderer nicht allzu sehr von deren Selbstorganisationen irritiert, im eigenen Einfluß nicht gemindert und bei der Verteilung finanzieller Ressourcen nicht eingeschränkt zu werden.

Eine ähnliche Einschätzung ergab sich aus der Analyse, die der Initiativausschuß gerade über diesen für ihn zentralen wie neuralgischen Punkt vorgenommen hat (Protokoll der Tagung des Initiativausschusses „Ausländische Mitbürger in Hessen" am 11./12. Mai 1983 in Heppenheim, im Archiv des IA, S. 1‑5). Auf einer Strategietagung wurde selbstkritisch festgestellt, daß der Initiativausschuß trotz seiner unbestreitbaren und fast unwahrscheinlichen Forrn der Kooperation zwischen deutschen und nichtdeutschen Organisationen, die sich selbst gestellte Aufgabe, die Selbstvertretung der nichtdeutschen Organisationen zu fördern, nicht hinreichend erfüllt habe. So seien die nichtdeutschen Organisationen als solche nicht zahlreich genug im Initiativausschuß vertreten, könnten nicht ‑ schon allein wegen der Sprache ‑ in voller Partnerschaft mitwirken und wären in ihrem Anliegen, die finanzielle und personelle Ausstattung so zu verbessern, daß sie eigenständig und kompetent hätten agieren können, von dem Ausschuß kaum unterstützt worden. Weiterhin habe der Initiativausschuß in einem stärkeren Maße, als es sinnvoll und notwendig gewesen wäre, seine Stellvertreterfunktion perpetuiert und ausgebaut. Aus der Analyse will der Initiativausschuß die Konsequenz ziehen, daß das Gewicht der nichtdeutschen Organisationen nach außen und nach innen gestärkt wird.

Aus der Erkenntnis, mit der Integrationsarbeit letztlich im Expertenghetto verblieben zu sein, gepaart mit der Einsicht, daß die Einwanderer‑Minoritäten zur Durchsetzung ihrer legitimen Interessen einer veränderten öffentlichen Meinung und neuer politischer Mehrheiten bedürfen, die bereit wären, die eigenen Mehrheitsinteressen mit den Minderheiteninteressen in Einklang zu bringen, geht es um die Gewinnung dieser neuen sensibilisierten Mehrheiten. Dies wird sicher vorerst nicht mehr über die konventionelle Vermittlung in den Massenmedien, sondern durch eine schrittweise, langfristige Erweiterung der Aktionsbasis bei den Gruppen, Organisationen und Teilen der Bevölkerung geschehen, die derzeit oder in absehbarer Zukunft für eine gemeinsame solidarische Perspektive angesprochen werden können. So sieht auch der Initiativausschuß die Notwendigkeit der „Sensibilisierung und Mobilisierung deutscher Organisationen und Bevölkerungsgruppen außerhalb des Initiativausschusses zur Unterstützung der Forderungen der ausländischen Mitbürger nach Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen". In der Gewinnung dieser neuen Bündnispartner will der Initiativausschuß einen Schwerpunkt seiner künftigen Arbeit sehen und setzen.

Noch scheint die vorgesehene Erweiterung der Basis ausreichend, ohne die Ziele und Inhalte der bisherigen Interventionen aufgeben und ohne den nationalen Kontext überschreiten zu müssen. Beides aber wäre eine Begrenzung, die für eine langfristige Strategie nicht ausreichte und nach Lage der Dinge auch eine neue Strategie zum Scheitern verurteilte. So ist die Migration selbst ein internationales, sogar globales Phänomen, das seiner Natur nach nicht von einer nationalen und sich auch nur national legitimierenden Politik bewältigt werden kann.

Für eine Überschreitung des nationalen Kontextes bietet sich zuerst einmal die europäische Ebene an. Natürlich fehlen hier die politisch wirksamen Instrumente, um die nationale Politik zu verändern. Zu denken ist nicht nur an die Europäische Gemeinschaft, den Europa‑Rat und die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), sondern auch an die europäischen Organe und Zusammenschlüsse der Kirchen, der Gewerkschaften, der Wohlfahrts-und Selbstorganisationen. Auf der europäischen Ebene entwickelt sich eine Diskussion und Meinungsbildung, die absolut nicht identisch ist mit dem, was auf nationaler Ebene gedacht, verhandelt und politisch angestrebt wird. Die Kommunikation auf europäischer Ebene ist aber sicher auf Dauer ein wichtiges Instrument der Meinungsbildung und öffentlichen Einflußnahme auf den nationalen Bereich.

3.2 Ziele, Methoden und Inhalte einer neuen Strategie

Interventionen, die auf die Sensibilisierung, Informierung, Aufklärung und Solidarisierung der Öffentlichkeit gerichtet waren, haben dies überwiegend auf der Ebene der Massen‑Medien und der durch diese repräsentierten und beeinflußten Öffentlichkeit versucht. Dahinter stand der Optimismus, daß durch diese Art Öffentlichkeitsarbeit Veränderungen erreicht werden könnten und daß dies sogar der gangbarste Weg sei.

Wenn nun aber, wie oben dargelegt, die öffentliche Meinung umgeschlagen ist und stillschweigend aber wirksam der Integrationsarbeit die Legitimierung entzogen hat, hören die klassischen Interventionen auf, ihrem Ziel zu dienen. Zusammen mit dem politisch instrumentalisierten Syndrom der Xenophobie ist sogar mit gegenteiligen Wirkungen zu rechnen. Wer in der konventionellen Manier über die „Ausländer" spricht, verstärkt zwangsläufig ihre gesellschaftliche Visibilität. Wenn dies früher durchaus gewollt und gerechtfertigt war, bedeutet es unter den neuen politischen und wirtschaftlichen Konstellationen eher eine Gefährdung als eine Förderung der Interessen der betroffenen Minderheiten! Die Erhöhung der Visibilität in der Öffentlichkeit verstärkt die Möglichkeiten der kollektiven Aggression gegenüber einem Ersatzobjekt, einem „Sündenbock" der gesellschaftlichen Frustration.

Natürlich gibt es nach wie vor die Unausweichlichkeit der öffentlichen Rede, Anklage, Reklamation und Kritik, gerade dann, wenn die Menschenrechte der „Ausländer" mißachtet werden. Nur ist bei jeder Intervention das Problem der erhöhten Visibilität zu beachten, zumal davon ausgegangen werden muß, daß in der Bundesrepublik ein gesellschaftlicher Mechanismus und Automatismus abläuft, der den Druck auf die eingewanderte nichtdeutsche Arbeitnehmerbevölkerung noch stärker werden läßt und mit konventioneller Einflußnahme nicht aufgehalten werden kann.

Wenn es notwendig wird, in die „große" Öffentlichkeit zu gehen, sollten u.a. folgende Gesichtspunkte bedacht und berücksichtigt werden: Das „Ausländerthema" möglichst niemals isoliert darstellen! Es ist wichtig, es immer in einen größeren Zusammenhang zu „integrieren", zumindest in dem Sinne, daß das darzulegende oder zu kritisierende Moment als ein Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Phänomens oder auch als exemplarischer Vorgang zu verstehen ist. Dadurch besteht die Chance, den Kreis der Betroffenen oder derer, die sich betroffen machen lassen, zu erweitern. So wird das Anliegen naturgemäß für mehr Menschen und Schichten als ihr eigenes begreifbar. Ein Nebeneffekt bestünde darin, daß zu erwartende und unvermeidlich provozierte Aggression weiter gestreut, bzw. verteilt wird. Selbst „Integration" wäre dann kein Sonderthema mehr, das sich nur auf die Ausländer bezieht, sondern spezifischer Bestandteil einer allgemeinen gesellschaftlichen Aufgabenstellung, die in einem härter gewordenen Verteilungskampf durchaus die Abwehr der „Desintegration" weiter Teile der Bevölkerung bedeutet. Öffentlichkeit ist nicht gleichzusetzen mit der Öffentlichkeit, in der die Massenmedien angesiedelt sind. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung gibt .es auf den verschiedensten Kommunikationsebenen und in den verschiedensten Formen. Sie reicht von der Diskussionsveranstaltung, dem Seminar und der Vortragsreihe über gezielt gestreute Dokumente und Papiere bis zu Zeitschriften, Broschüren und Büchern. Dies könnte man als die „kleine" Öffentlichkeit im Unterschied zur Massenmedien-Öffentlichkeit als „große" bezeichnen. Die Bedeutung der „kleinen" Öffentkeit ist nur vermeintlich geringer als die der „großen". Bei dem Versuch, an einer Umstimmung mitzuwirken, ist die „kleine" Öffentlichkeit sicher wesentlich bedeutsamer:

Wenn es zu einem Wandel der Meinung in der „großen" Öffentlichkeit kommen soll, muß dieser Wandel durch Gruppen herbeigeführt werden, die daraufhin arbeiten, daß ihre Auffassungen öffentlich plausibel werden, daß sie moralischer sind, als die bislang gültigen Positionen, daß sie wieder oder überhaupt öffentlich gesagt werden können, ohne daß die, die sie vertreten, sich damit selbst isolieren oder der Lächerlichkeit bzw. der Aggression aussetzen. Die bisherigen Integrations‑Thesen haben diese Plausibilität in der öffentlichen Meinung verloren. Bis sie eine neue Plausibilität gewinnen, bis ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, ihre moralische Legitimität wieder gewonnen wird, muß zuerst die „kleine" Öffentlichkeit von der Richtigkeit und Werthaftigkeit der durchzusetzenden Auffassungen überzeugt werden (vgl. Noelle-Neumann, 1982).

Die geistig‑politische Auseinandersetzung um das Einwanderungsland Bundesrepublik ist weitgehend ohne eine weiterreichende Perspektive geführt worden. Das gilt selbst für die wissenschaftliche Diskussion, die mit verengten Integrationsvorstellungen gearbeitet hat, wie sie der politische Trend vorgab. Hier, wie in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, fehlte die Einbeziehung der Bundesrepublik in die internationale Kommunikation über Einwanderung, Bevölkerungsbewegungen, Kultur‑ und Minderheitenfragen, kurzum über das, was mit einer globalen Migration aufgearbeitet wurde. Eine Rezeption und Vermittlung des in anderen Ländern und auf internationaler Ebene erreichten Erkenntnisstandes steht noch aus. Die Selbstgenügsamkeit und die faktische Autarkie des nationalen Kommunikationsfeldes ist ein Anachronismus, der als solcher nicht einmal erkannt ist.

Mit der formalen Erweiterung des Kommunikationsfeldes werden sich die Erkenntnisse nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändern. Der geistige Horizont dürfte neue und umfassendere Inhalte gewinnen. Seinem geistigen Ursprung nach war der Initiativausschuß „Ausländische Mitbürger in Hessen" der Versuch, die Entwicklungsprobleme und die „Gastarbeiterfrage" in einem inneren Zusammenhang zu sehen, aus diesem Zusammenhang heraus gesellschaftspolitisch zu agieren und diesen auch der Öffentlichkeit zu vermitteln. Dieser Zusammenhang hat in der späteren Arbeit keine Rolle gespielt, er geriet völlig aus dem Blick und zwar sicher im Rahmen einer segmentierten und spezifischen Rollenübernahme innerhalb einer bestimmten gesellschaftspolitischen Aufgabenstellung.

Ohne die Vermittlung einer Einsicht in größere Zusammenhänge wird es auf Dauer nicht möglich sein, plausibel über Integration oder Einwanderung zu sprechen. Für diese neue Orientierung notwendige Perspektiven müssen den Verstehenshorizont nationaler bis nationalistischer Prägung überschreiten. So muß, um nur einen der Aspekte beispielhaft zu benennen, die Einwanderung der nichtdeutschen Arbeitnehmerbevölkerung als ein Teil‑Phänomen des Nord-Süd‑Gefälles betrachtet werden, also eines unausgewogenen Zustandes, der in jeder Hinsicht und unausweichlich ökonomisch, gesellschaftlich, bildungsmäßig und nicht zuletzt demographisch auf eine Gleichgewichtslage ausgerichtet ist. Danach ist der Einwanderungsprozeß der letzten Jahrzehnte nicht nur das Ergebnis etwaiger kurzsichtiger arbeitsmarktpolitischer Entscheidungen in der Bundesrepublik, sondern Teil von globalen Migrationsbewegungen auf die star‑

ken Wirtschaftsregionen zu. Dies mag vorderhand nur als ein demographischer Ausgleich betrachtet werden, bei dem die Wirtschaftsregionen von der Peripherie profitieren. Doch wird dieses Peripherie‑Zentrum‑Verhältnis in seiner Unausgeglichenheit eine permanente Quelle des Unfriedens sein. Der Versuch der Bundesrepublik, ihre ökonomische Vorrangstellung trotz der Krise durch eine Abdrängungspolitik zu behaupten, kann so nicht nur als Störung des inneren, sondern sogar des internationalen Friedens betrachtet werden.

Die Aufgabe, in größeren Zusammenhängen zu denken und zu handeln führt zu der Frage, welche geistigen und politischen Strömungen von solchen oder ähnlichen Vorstellungen getragen sind und auch die Möglichkeit bieten, sie längerfristig für die öffentliche Meinung plausibel zu machen. D.h., es stellt sich die Frage nach den Bündnispartnern für eine andere Interventionsstrategie auf neue Weise. So geht es in der Phase nicht darum, geradezu aktionistisch mit den verschiedensten Organisationen und Verbänden in Kontakt zu treten, sondern sich einer Bewegung anzuschließen, die von einer universalen Perspektive ausgeht, über Real‑Utopien verfügt, international organisiert, bzw. organisierbar ist und auf Dauer beachtliche Bevölkerungsteile, gerade auch der Jugend, existentiell zu mobilisieren versteht. Hinzu kommen muß die Fähigkeit einer solchen Bewegung, die verschiedensten Anliegen zu integrieren und politisch wie weltanschauliche Divergenzen zu vereinen. Diese Desiderate erfüllt derzeit die Friedensbewegung, die nicht nur von einer weltweiten existentiellen Bedrohtheit, sondern durchaus auch von einem auf Zukunft gerichteten, wirkmächtigen „Mythos" getragen wird. Die bisherige Integrationsaufgabe wird in dieser Perspektive zu einem integralen Bestandteil eines auf Verteilungsgerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde beruhenden Friedens.

Zusammenfassung

Faßt man die Aspekte der vorgeschlagenen Interventionsstrategie zusammen, so kann man sie in den systemtheoretischen Bereich einordnen, in dem zuerst das Umgreifende eines Systems und nicht nur ein Detail, wie etwa die Integration von Einwanderern wahrgenommen wird, wo nicht jeweils nur auf die Veränderung einer einzigen Variablen (z.B. Sicherung des Aufenthaltsrechts), sondern auf die gleichzeitige Veränderung von Gruppen von Variablen (z.B. Friedenserziehung) abgehoben wird, wo interdisziplinäre, interfunktionäre Zusammenarbeit wichtiger ist als eine nur auf eine Disziplin ausgerichtete Bemühung, wo die Handlungsweise durch Zielvorstellungen und nicht durch bereits im Detail programmierte Einzelheiten bestimmt wird, wo schließlich ein gutes und tiefes Erfassen der Ziele wichtiger ist, als gute Detailvorstellungen schlecht definierter Ziele (vgl. dazu Vester 1981, S. 43).

Literatur:

  • Betrifft: Ausländerpolitik, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1982 (1983(2) Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Ausländerpolitische Beschlüsse der Bundesregierung, Beschluß vom z. Dezember 1981
  • Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Bericht über die Beratungen der Bund-Länder‑Arbeitsgruppe zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik, in: Materialdienst des Initiativausschusses ,Ausländische Mitbürger in Hessen`, Nr. 1/77, S. 54‑57
  • Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Vorschläge der Bund‑Länder‑Kommission zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik, in: Materialdienst des Initiativaüsschusses ,Ausländische Mitbürger in Hessen`, Nr. 37/77, S. 35‑38
  • Just, D. und P.C. Mühlens: Ausländerzunahme: Objektives Problem oder Einstellungsfrage? In: Beilage zur Wochenzeitschrift ,Das Parlament` vom 26.6.1982
  • Leudesdorff, R.: Strategie einer übergreifenden Aktion ‑ Hessen, in: R. Leudesdorff (Hrsg.): Gastarbeiter ‑ Mitbürger, 1971, S. 288ff.
  • Lüderwaldt, D.: Initiativausschuß ,Ausländische Mitbürger in Hessen`, in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, Nr. 4/80, S. 87‑90
  • Mehrländer, U.: Fernziel Integration, in: Evangelische Kommentare, Nr. 5/83
  • Noelle‑Neumann, E.: Die süßen Früchte vom Baum der Verblendung, in: Rheinischer Merkur vom 2.7.1982
  • Presse‑ und Informationsdienst der Bundesregierung, Reihe ,Berichte und Dokumentationen': Programm der Erneuerung, Bonn 1983
  • Presse‑ und Informationsamt der Bundesregierung: Politik, Informationen aus Bonn, Nr. 3, Mai 1982
  • Schueler, H.: Last des Vorurteils, in: Die Zeit vom 23.4.1982
  • Vester, F.: Neuland des Denkens, Stuttgart 1981(2)